Afghanistan:

Das Ende der Besatzung

In Großbritannien und den Vereinigten Staaten wird eine Menge Unsinn über Afghanistan geschrieben. Hinter diesem Unsinn verbirgt sich eine Reihe wichtiger Wahrheiten.

Von Published On: 11. September 2021Kategorien: Geopolitik, Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 17.08.2021 auf www.annebonnypirate.org unter der URL <https://annebonnypirate.org/2021/08/17/afghanistan-the-end-of-the-occupation/> veröffentlicht. Lizenz: Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale, annebonnypirate.org, CC BY-NC-ND 4.0

(Karte: CIA World Factbook / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0)

Legende Foto oben

 

1. Die Taliban haben die Vereinigten Staaten besiegt.

2. Die Taliban haben gewonnen, weil sie mehr Unterstützung in der Bevölkerung haben.

3. Das liegt nicht daran, dass die meisten Afghanen die Taliban lieben. Es liegt daran, dass die amerikanische Besatzung unerträglich grausam und korrupt war.

4. Der Krieg gegen den Terror wurde in den Vereinigten Staaten auch politisch besiegt. Die Mehrheit der Amerikaner spricht sich jetzt für den Rückzug aus Afghanistan und gegen weitere Kriege im Ausland aus.

5. Das ist ein Wendepunkt in der Weltgeschichte. Die größte Militärmacht der Welt wurde von der Bevölkerung eines kleinen, bitterarmen Landes besiegt . Dies wird die Macht des amerikanischen Imperiums in der ganzen Welt schwächen.

6. Die Rhetorik, afghanische Frauen retten zu wollen, wurde überwiegend dazu benutzt, die Besatzung zu rechtfertigen. Und viele Feministinnen in Afghanistan haben sich auf die Seite der Besatzung gestellt. Das ist im Ergebnis eine Tragödie für den Feminismus.

Nachfolgend erläutern wir diese Punkte. Um den Text kurz zu halten verzichten wir hier teilweise auf die Belege. Aber wir haben bereits viel über Politik, die Geschlechterfrage und den Krieg in Afghanistan geschrieben, seit wir vor fast 50 Jahren mit anthropologischen Feldforschungen in Afghanistan begonnen haben. Am Ende des Artikels finden Sie Links zu vielen dieser Arbeiten, so dass Sie unsere Argumente nachvollziehen können.

Ein militärischer Sieg

Dies ist ein militärischer und ein politischer Sieg für die Taliban. Ein militärischer Sieg, weil die Taliban den Krieg gewonnen haben. Seit mindestens zwei Jahren verlieren die afghanischen Regierungstruppen – nationale Armee und Polizei – jeden Monat mehr Menschen durch Tod und Verwundung, als sie neu rekrutieren können. Diese Kräfte sind also im Begriff zu verschwinden.

Während der letzten zehn Jahre haben die Taliban immer mehr Dörfer und einige Städte unter ihre Kontrolle gebracht. In den letzten zwölf Tagen konnten sie auch die letzten Städte einnehmen.

Dabei handelte sich nicht um einen plötzlichen Vorstoß durch die Städte und weiter bis nach Kabul. Die Kämpfer, die die Städte eingenommen haben, hatten sich schon lange in der Umgebung, in den Dörfern aufgehalten und auf den richtigen Moment gewartet. Entscheidend war dabei, dass die Taliban im gesamten Norden ständig Tadschiken, Usbeken und Angehörige anderer Völker rekrutiert haben.

 

Ein zerstörter BMP-1 Schützenpanzer vor dem Präsidentenpalast in Kabul einen Tag nach der Saur-Revolution. Bei der Saur-Revolution am 27.04.1978 putschte sich die kommunistische Demokratische Partei Afghanistans an die Macht. (Bild: Cleric77 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0)

 

Ein politischer Sieg

Und es ist auch ein politischer Sieg für die Taliban. Kein Guerillaaufstand der Welt kann einen solchen Sieg ohne Unterstützung der Bevölkerung erringen.

Vielleicht ist Unterstützung nicht der richtige Ausdruck. Aber die Afghanen mussten sich für eine Seite entscheiden. Und mehr Afghanen haben sich auf die Seite der Taliban gestellt und nicht auf die Seite der amerikanischen Besatzer. Nicht alle – aber eben mehr.

Auch haben sich mehr Afghanen auf die Seite der Taliban gestellt als auf die Seite der afghanischen Regierung von Präsident Ashraf Ghani. Wiederum nicht alle, aber mehr als Ghani unterstützen. Und mehr Afghanen haben sich auf die Seite der Taliban gestellt und nicht auf die Seite der alten Warlords. Die Niederlagen von Dostum in Sheberghan und Ismail Khan in Herat sind eindrucksvolle Beweise dafür.

Die Taliban von 2001 waren überwiegend Paschtunen und ihre Politik war paschtunisch-chauvinistisch. Im Jahr 2021 haben Taliban-Kämpfer vieler Ethnien die Macht in usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten übernommen.

Eine wichtige Ausnahme bilden die von den Hazara beherrschten Gebiete in den zentralen Bergen. Wir kommen auf diese Ausnahme zurück.

Natürlich haben sich nicht alle Afghanen auf die Seite der Taliban geschlagen. Dies ist ein Krieg gegen ausländische Invasoren, aber es ist auch ein Bürgerkrieg. Viele haben für die Amerikaner, die Regierung oder die Warlords gekämpft. Andere haben mit beiden Seiten Kompromisse geschlossen, um zu überleben. Und wieder andere waren sich nicht sicher, für welche Seite sie sich entscheiden sollten. Sie warten mit einer unterschiedlichen Mischung aus Angst und Hoffnung darauf, was passieren wird.

Da es sich um eine militärische Niederlage für die USA handelt, sind die Forderungen an Biden, dies oder jenes zu tun, einfach nur dumm. Wären die amerikanischen Truppen in Afghanistan geblieben, hätten sie kapitulieren oder sterben müssen. Das wäre eine noch schlimmere Demütigung für die US-Macht als das jetzige Debakel. Biden hatte, wie schon Trump vor ihm, keine andere Wahl.

Warum sich so viele Afghanen für die Taliban entschieden haben

Die Tatsache, dass sich so viele Menschen für die Taliban entschieden haben, bedeutet nicht, dass die meisten Afghanen notwendigerweise die Taliban unterstützen. Es bedeutet, dass sie sich angesichts der begrenzten Wahlmöglichkeiten für die Taliban entschieden haben. Warum?

Die kurze Antwort lautet: Die Taliban sind die einzige wichtige politische Organisation, die gegen die amerikanische Besatzung kämpft – und die meisten Afghanen haben diese Besatzung zu hassen gelernt.

Das war nicht immer so. Einen Monat nach dem 11. September schickten die USA erstmals Bomberflugzeuge und einige Truppen nach Afghanistan. Unterstützt wurden die USA von den Kräften der Nordallianz, einer Koalition nicht-paschtunischer Warlords im Norden des Landes. Die Soldaten und Anführer der Allianz waren jedoch nicht wirklich bereit, an der Seite der Amerikaner zu kämpfen. Angesichts der langen Geschichte des afghanischen Widerstands gegen ausländische Invasionen – zuletzt gegen die russische Besatzung von 1980 bis 1987 – wäre das einfach zu beschämend.

Auf der anderen Seite war jedoch fast niemand bereit, für die Verteidigung der damals an der Macht befindlichen Taliban-Regierung zu kämpfen. Die Truppen der Nordallianz und die Taliban standen sich in einem Scheingefecht gegenüber. Dann begannen die USA, die Briten und ihre ausländischen Verbündeten mit der Bombardierung.

Das pakistanische Militär und die Geheimdienste handelten ein Ende dieser Pattsituation aus. Danach sollten die Vereinigten Staaten die Macht in Kabul übernehmen und einen Präsidenten ihrer Wahl einsetzen dürfen. Im Gegenzug durften die Taliban-Führer und ihre Anhänger nach Hause in ihre Dörfer oder ins Exil jenseits der Grenze in Pakistan gehen.

Diese Einigung wurde damals in den USA und in Europa aus offensichtlichen Gründen nicht breit bekannt gemacht. Wir haben aber darüber berichtet, und in Afghanistan wurde sie sehr wohl verstanden.

Der beste Beweis für diese ausgehandelte Einigung ist das, was danach geschah: Zwei Jahre lang gab es keinerlei Widerstand gegen die amerikanische Besatzung, in keinem Dorf. Viele Tausende ehemalige Taliban blieben in diesen Dörfern.

Dies ist eine außergewöhnliche Tatsache. Denken Sie an den Kontrast zum Irak, wo der Widerstand vom ersten Tag der Besetzung im Jahr 2003 an weit verbreitet war. Oder denken Sie an die russische Invasion in Afghanistan im Jahr 1979, die auf dieselbe Wand aus Wut stieß.

Der Grund dafür war nicht nur, dass die Taliban nicht kämpften. Es lag daran, dass die einfachen Menschen – selbst im Kernland der Taliban im Süden – die Hoffnung hegten, dass die amerikanische Besatzung Afghanistan Frieden bringen und die Wirtschaft entwickeln würde, um die schreckliche Armut zu beenden.
Der Frieden war das Entscheidende. Bis 2001 waren die Afghanen dreiundzwanzig Jahre lang in Kriegen gefangen gewesen: zunächst in einem Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Islamisten, dann in einem Krieg zwischen Islamisten und sowjetischen Invasoren, dann in einem Krieg zwischen islamistischen Warlords und schließlich in einem Krieg im Norden des Landes zwischen islamistischen Warlords und den Taliban.

Dreiundzwanzig Jahre Krieg bedeuteten Tod, Verstümmelung, Exil und Flüchtlingslager, Armut – so viele Arten von Trauer und endlose Angst und Unruhe. Die vielleicht beste Beschreibung, wie sich das anfühlte, findet man in Klaits/Gulmanadova-Klaits Buch „Love and War in Afghanistan“ aus dem Jahr 2005. Die Menschen sehnten sich verzweifelt nach Frieden. Im Jahr 2001 hielten sogar die Taliban-Befürworter einen schlechten Frieden für besser als einen guten Krieg.Außerdem waren die Vereinigten Staaten sagenhaft reich. Die Afghanen glaubten, dass die Besetzung zu einer Entwicklung führen könnte, die sie aus der Armut befreien würde.

Die Afghanen warteten, aber die USA lieferten Krieg statt Frieden

US-amerikanisches und britisches Militär besetzte Stützpunkte in den Dörfern und Kleinstädten des Kernlandes der Taliban, den überwiegend paschtunischen Gebieten im Süden und Osten. Diese Einheiten wurden nie über die informelle Einigung informiert, die zwischen den Amerikanern und den Taliban ausgehandelt worden war. Man konnte es ihnen nicht sagen, weil das die Regierung von Präsident Bush in Verruf gebracht hätte. Die US-Einheiten sahen es daher als ihre Aufgabe an, die verbliebenen „Bösewichte“, die offensichtlich noch da waren, auszurotten.

In nächtlichen Razzien brachen sie Türen auf, demütigten Familien und versetzten sie in Angst und Schrecken. Sie verschleppten und folterten Männer, um Informationen über andere Bösewichte zu erhalten. Hier und an geheimen Orten auf der ganzen Welt entwickelten das amerikanische Militär und die Geheimdienste die neuen Foltermethoden, die die Welt kurz darauf in Abu Ghraib, dem amerikanischen Gefängnis im Irak, zu sehen bekam.

Unter den Festgenommenen waren Taliban, die nicht gekämpft hatten. Einige davon waren einfache Leute, die von lokalen Feinden an die Amerikaner verraten wurden, nur um an deren Land zu kommen, oder weil sie anderweitig Groll gegen sie hegten. 

In seinen Memoiren „Blood Makes the Grass Grow Green“ beschreibt der amerikanische Soldat Johnny Rico, was als Nächstes geschah. Wütende Verwandte und Dorfbewohner schossen in der Dunkelheit ein paar Mal auf die Amerikaner. Das amerikanische Militär trat weitere Türen ein und folterte weitere Männer. Die Dorfbewohner feuerten noch mehr Schüsse ab. Die Amerikaner forderten Luftangriffe an und ihre Bomben töteten eine Familie nach der anderen.

Im Süden und Osten des Landes herrschte wieder Krieg.

Ungleichheit und Korruption eskalierten

Die Afghanen hatten auf eine Entwicklung gehofft, die sowohl den Reichen als auch den Armen helfen würde. Es erschien ihnen so offensichtlich und einfach. Aber sie verstanden die amerikanische Politik im Ausland nicht. Und sie verstanden nicht den tiefen Glauben des 1 % in den Vereinigten Staaten an die wachsende Ungleichheit in ihrem eigenen Land.

So floss also amerikanisches Geld nach Afghanistan. Aber es ging an die Leute in der neuen Regierung, die von Hamid Karzai geleitet wurde. Es ging an die Leute, die mit den Amerikanern und den Besatzungstruppen anderer Nationen zusammenarbeiteten. Und es ging an die Warlords und ihre Entourage, die tief in den internationalen Opium- und Heroinhandel verstrickt waren, der von der CIA und dem pakistanischen Militär gefördert wurde. Es ging an die Leute, die das Glück hatten, luxuriöse, gut verteidigte Häuser in Kabul zu besitzen, die sie an ausländische Mitarbeiter vermieten konnten. Es ging an die Männer und Frauen, die in vom Ausland finanzierten NGO‘s (Nicht-Regierungs-Organisation) arbeiteten.

Natürlich gab es zwischen all diesen Gruppen auch Überschneidungen.

An Korruption waren die Afghanen schon lange gewöhnt. Sie erwarteten und hassten sie zugleich. Doch dieses Mal war das Ausmaß beispiellos. Und in den Augen der armen und mittleren Einkommensschichten schien all der obszöne neue Reichtum, ganz gleich wie er erwirtschaftet wurde, aus Korruption zu stammen.

Während der letzten zehn Jahren haben die Taliban dem ganzen Land zwei Dinge geboten: 

Erstens, dass sie nicht korrupt sind, da sie auch vor 2001 in ihren Ämtern nicht korrupt waren. Sie sind die einzige politische Kraft im Land, auf die dies jemals zutraf.

Entscheidend ist dabei, dass die Taliban in den von ihnen kontrollierten ländlichen Gebieten ein gerechtes Justizsystem betreiben. Ihr Ruf ist so gut, dass viele Menschen, die in den Städten in Zivilprozesse verwickelt sind, zugestimmt haben, dass sich die Parteien an Taliban-Richter auf dem Land wenden. Dies ermöglicht ihnen eine schnelle, billige und faire Rechtsprechung ohne hohe Bestechungsgelder. Ihre Urteile waren gerecht, so dass beide Parteien damit leben können.

Zweitens war für die Menschen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten eine gerechte Justiz auch ein Schutz vor Ungleichheit. Wenn die Reichen die Richter bestechen können, können sie mit den Armen machen, was immer sie wollen. Landbesitz war dabei ein entscheidender Punkt. Reiche und mächtige Männer, Warlords und Regierungsbeamte konnten sich das Land von Kleinbauern durch Enteignung, Diebstahl oder Betrug aneignen und die noch ärmeren Teilpächter unterdrücken. Aber die Taliban-Richter, das war allen klar, waren bereit, für die Armen zu entscheiden.

Der Hass auf Korruption, auf Ungleichheit und auf die Besatzung verschmolz.

Zwanzig Jahre später

Das Jahr 2001, als die Taliban nach 9/11 von den Amerikanern gestürzt wurden, liegt nun zwanzig Jahre zurück. In zwanzig Jahren Krieg und Krise vollziehen sich in politischen Massenbewegungen enorme Veränderungen. Die Taliban haben dazugelernt und sich verändert, wie könnte es auch anders sein. Viele Afghanen und viele ausländische Fachleute haben sich dazu geäußert. Giustozzi verwendet dafür den nützlichen Begriff Neo-Taliban [2].

Dieser Wandel, wie er in der Öffentlichkeit dargestellt wird, hat mehrere Aspekte. Die Taliban haben ihren paschtunischen Chauvinismus als eine große Schwäche erkannt. Sie betonen nun, dass sie Muslime sind, Brüder aller anderen Muslime. Und dass sie die Unterstützung von Muslimen vieler ethnischer Gruppen wollen und haben.

Aber es gab in den letzten Jahren auch eine bittere Spaltung innerhalb der Taliban-Kräfte. Eine Minderheit von Taliban-Kämpfern und -Anhängern hat sich mit dem Islamischen Staat verbündet. Der Unterschied ist, dass der Islamische Staat Terroranschläge auf Schiiten, Sikhs und Christen verübt. Die Taliban in Pakistan tun das Gleiche, ebenso wie das kleine Haqqani-Netzwerk, das vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt wird. Eine Mehrheit der Taliban lehnt aber diese Angriffe entschieden ab.

Wir kommen später auf diese Spaltung zurück, da sie Auswirkungen auf das weitere Geschehen hat.

Die neuen Taliban betonen nun auch ihre Sorgen um die Rechte der Frauen. Sie erklären, dass sie Musik und Videos nun begrüßen und die heftigsten und puritanischsten Regeln ihrer früheren Herrschaft gemildert haben. Und sie wiederholen immer wieder, dass sie in Frieden regieren wollen, ohne Rache an den Menschen der alten Ordnung.

Wie viel davon Propaganda ist und wie viel Wahrheit, ist schwer zu sagen. Wie es weiter geht hängt zudem stark von der Entwicklung der Wirtschaft und von den Aktionen ausländischer Kräfte ab. Doch dazu später mehr. Unser Punkt hier ist, dass die Afghanen Gründe haben, die Taliban den Amerikanern, den Warlords und der Regierung von Ashraf Ghani vorzuziehen.

Was ist mit der Rettung afghanischer Frauen?

Viele Leser werden sich jetzt fragen: Was ist mit den afghanischen Frauen? Die Antwort ist nicht einfach.

Dazu müssen wir zunächst in die 1970er Jahre zurückgehen. Systeme geschlechtsspezifischer Ungleichheit sind überall auf der Welt mit einem bestimmten System der Klassenungleichheit verwoben. Das war in Afghanistan nicht anders.

Anfang der 1970er Jahre führte Nancy Lindisfarne eine anthropologische Feldforschung mit paschtunischen Frauen und Männern im Norden des Landes durch. Diese lebten von Ackerbau und Viehzucht. Das aus dieser Arbeit resultierende Buch, „Bartered Brides: Politics and Marriage in a Tribal Society“ [Politik und Heirat in einer Stammesgesellschaft, Anm. d. Redaktion] erklärt die Zusammenhänge zwischen Klasse, Geschlecht und ethnischen Unterschieden zu dieser Zeit. Und wenn Sie wissen wollen, was diese Frauen selbst über ihr Leben, ihre Sorgen und Freuden dachten, haben Nancy Lindisfarne und ihr ehemaliger Partner Richard Tapper „Afghan Village Voices“ veröffentlicht. Eine Übersetzung zahlreicher Tonbänder, die Frauen und Männer vor Ort für sie gemacht haben.

Diese Realität war vielschichtig, bitter, bedrückend und voller Liebe. In diesem tiefen Sinn unterschied sie sich nicht von der Komplexität von Sexismus und Klasse in den Vereinigten Staaten. Doch die Tragödie des nächsten halben Jahrhunderts sollte vieles davon ändern. Dieses lange Leiden brachte den besonderen Sexismus der Taliban hervor, der kein typisches Produkt der afghanischen Tradition ist.

Die von den USA unterstüzten Mudschaheddin zeigen Teile eines abgeschossenen sowjetischen Flugzeugs. (Bild: Erwin Lux Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0)

 

Diese neue Entwicklung beginnt im Jahr 1978 mit dem Beginn des Bürgerkrieges zwischen der kommunistischen Regierung und dem islamistischen Mudschaheddin-Widerstand. Die Islamisten gewannen, so dass die Sowjetunion Ende 1979 einmarschierte, um die kommunistische Regierung zu unterstützen. Es folgten sieben Jahre brutaler Krieg zwischen den Sowjets und den Mudschaheddin. 1987 zogen die sowjetischen Truppen besiegt ab.

Als wir in den frühen 1970er Jahren in Afghanistan lebten, gehörten die Kommunisten zu den besten Menschen. Sie wurden von drei Leidenschaften angetrieben. Sie wollten das Land entwickeln. Sie wollten die Macht der Großgrundbesitzer brechen und das Land neu verteilen. Und sie wollten Gleichberechtigung für Frauen.

Doch 1978 hatten die Kommunisten in einem Militärputsch unter Führung fortschrittlicher Offiziere die Macht übernommen. Aber die politische Unterstützung der Mehrheit der Dorfbewohner in dem überwiegend bäuerlichen Land, konnten sie nicht gewinnen. Im Ergebnis bestand die einzige Möglichkeit mit dem islamistischen Widerstand auf dem Land umzugehen, in Verhaftung, Folter und Bombardierung. Je mehr die kommunistisch geführte Armee solche Grausamkeiten beging, desto größer wurde die Revolte.

Dann marschierte die Sowjetunion zur Unterstützung der Kommunisten ein. Ihre Hauptwaffe waren Luftangriffe, und große Teile des Landes wurden zu Feuer-Frei-Zonen. Zwischen einer halben und einer Million Afghanen wurden getötet. Mindestens eine weitere Million wurde für immer verstümmelt. Zwischen sechs und acht Millionen wurden ins Exil in den Iran und nach Pakistan getrieben, und weitere Millionen wurden zu Binnenflüchtlingen. Und das alles in einem Land mit nur fünfundzwanzig Millionen Einwohnern.

Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen waren hatten sie als erstes versucht, eine Landreform durchzuführen und Gesetze für die Rechte der Frauen zu erlassen. Beim Einmarsch der Russen schlug sich die Mehrheit der Kommunisten auf deren Seite, viele davon waren Frauen. Dadurch erhielt der Feminismus einen schlechten Ruf, da er für viele mit der Unterstützung von Folter und Massakern verbunden war.

Stellen Sie sich vor, die Vereinigten Staaten würden von einer fremden Macht überfallen, die zwischen zwölf und vierundzwanzig Millionen Amerikaner tötet, Menschen in jeder Stadt foltert und 100 Millionen Amerikaner ins Exil treibt. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass fast alle Feministinnen in den Vereinigten Staaten die Invasoren unterstützt haben. Was glauben Sie, wie die meisten Amerikaner nach dieser Erfahrung über eine zweite Invasion durch eine andere ausländische Macht oder über den Feminismus denken würden?

Was glauben Sie, was die meisten afghanischen Frauen von einer weiteren Invasion – diesmal durch die Amerikaner – halten, die mit der Notwendigkeit der Rettung afghanischer Frauen begründet wird? Denken Sie daran, dass die Statistiken über Tote, Verstümmelte und Flüchtlinge unter der sowjetischen Besatzung keine abstrakten Zahlen waren. Es waren lebende Frauen und ihre Söhne und Töchter, Ehemänner, Brüder und Schwestern, Mütter und Väter.

Als die Sowjetunion schließlich besiegt abzog, atmeten die meisten Menschen erleichtert auf. Doch dann wurden die lokalen Anführer des Mudschaheddin-Widerstands, die vorher gegen die Kommunisten und die Invasoren gekämpft hatten, zu kaltblütigen Warlords. Sie kämpften nun gegeneinander um die Siegesbeute. Die Mehrheit der Afghanen hatte die Mudschaheddin unterstützt, aber jetzt waren sie angewidert von der Gier, der Korruption und dem endlosen, nutzlosen Krieg.

Der Klassen- und Flüchtlingshintergrund der Taliban

Im Herbst 1994 hatten die Taliban Kandahar, die größte und mehrheitlich paschtunische Stadt im Süden Afghanistans erreicht. Eine vergleichbare Bewegung hatte es in der afghanischen Geschichte bisher nicht gegeben. Die Taliban waren das Ergebnis zweier neuer Phänomene des 20. Jahrhunderts: der Bombardierung aus der Luft und der Flüchtlingslager in Pakistan. Sie gehörten zu einer anderen sozialen Schicht als die Eliten, die Afghanistan bisher regiert hatten.

Die Kommunisten waren Söhne und Töchter der städtischen Mittelschicht und der Bauern auf dem Lande, die über genügend Land verfügten, das sie ihr Eigen nennen konnten. Ihre Anführer hatten die einzige Universität des Landes in Kabul besucht. Sie wollten die Macht der Großgrundbesitzer brechen und das Land modernisieren.

Die Islamisten, die die Kommunisten bekämpften, waren Männer aus ähnlichen Schichten und zumeist ehemalige Studenten derselben Universität. Auch sie wollten das Land modernisieren, aber auf andere Art. Dabei orientierten sie sich an den Idealen der Muslimbruderschaft und der Al-Alzhar-Universität in Kairo.

Das Wort Taliban bedeutet Schüler einer islamischen Schule, nicht einer staatlichen Schule oder einer Universität. Die Kämpfer der Taliban, die 1994 in Kandahar einmarschierten, waren junge Männer, die in den freien islamischen Schulen der Flüchtlingslager in Pakistan gelernt hatten. Sie waren mittellose Kinder.

Ihre Anführer waren Dorfmullahs aus Afghanistan. Sie hatten nicht die elitären Verbindungen wie viele der Imame in den städtischen Moscheen. Dorfmullahs konnten lesen und sie genossen bei den Dorfbewohnern ein gewisses Ansehen. Aber ihr sozialer Status lag weit unter dem eines Grundbesitzers oder eines Hochschulabsolventen in einem Regierungsamt.

Die Taliban wurden von einem Komitee aus zwölf Männern angeführt. Alle zwölf hatten im Krieg durch sowjetische Bomben eine Hand, einen Fuß oder ein Auge verloren. Die Taliban waren u. a. die Partei der Armen und der Mittelschicht paschtunischer Dorfbewohner. [3]

Zwanzig Jahre Krieg hatten Kandahar gesetzlos zurückgelassen und der Gnade der sich bekriegenden Milizen ausgeliefert. Der Wendepunkt kam als die Taliban einen lokalen Kommandanten verfolgten, der einen Jungen und zwei oder drei Frauen vergewaltigt hatte. Die Taliban fingen ihn und hängten ihn auf. Bemerkenswert an ihrem Eingreifen war nicht nur ihre Entschlossenheit, den mörderischen internen Machtkämpfen ein Ende zu setzen und den Menschen ihre Würde und Sicherheit zurückzugeben, sondern auch ihre Abscheu vor der Heuchelei der anderen Islamisten.

Von Anfang an wurden die Taliban von den Saudis, den Amerikanern und dem pakistanischen Militär finanziert. Washington wollte ein friedliches Land, das Öl- und Gaspipelines aus Zentralasien aufnehmen konnte. Die Taliban zeichneten sich dadurch aus, dass sie keine Ausnahmen von den Verboten zuließen, die sie durchzusetzen versuchten, und durch die Strenge, mit der sie die Regeln durchsetzten.

Viele Afghanen waren dankbar für die Rückkehr von Ordnung und einem Mindestmaß an Sicherheit, aber die Taliban waren sektiererisch und unfähig das Land zu kontrollieren. 1996 zogen die Amerikaner ihre Unterstützung zurück und entfachten damit eine neue, tödliche Form der Islamophobie gegen die Taliban.

Fast über Nacht galten die afghanischen Frauen als hilflos und unterdrückt, während die afghanischen Männer – auch bekannt als Taliban – als fanatische Wilde, Pädophile und sadistische Patriarchen verschrien wurden, kaum noch als Menschen.

Vier Jahre vor 9/11 wurden die Taliban von den Amerikanern ins Visier genommen, während Feministinnen und andere sich für den Schutz der afghanischen Frauen einsetzten. Als die amerikanischen Bombenangriffe begannen, sollte jeder verstehen, dass die afghanischen Frauen Hilfe brauchten. Was konnte da schon schiefgehen?

9/11 und der amerikanische Krieg

Die Bombardierung begann am 7. Oktober. Innerhalb von Tagen waren die Taliban gezwungen, sich zu verstecken – oder wurden buchstäblich kastriert – wie ein Foto auf der Titelseite der „Daily Mail“ verkündete. Die veröffentlichten Bilder des Krieges waren wirklich schockierend in ihrer Gewalt und ihrem Sadismus. Viele Menschen in Europa waren entsetzt über das Ausmaß der Bombardierungen und die völlige Rücksichtslosigkeit gegenüber afghanischen Lebens [4].

Doch in jenem Herbst bedeutete die Mischung aus Rachegefühl und Patriotismus in den Vereinigten Staaten, dass abweichende Stimmen selten und meist unhörbar waren. Fragen Sie sich selbst, wie es Saba Mahmood damals tat: „Warum erschienen vielen die Bedingungen des Krieges (Migration, Militarisierung) und des Hungers (unter den Mudschaheddin) als weniger schädlich für Frauen als der Mangel an Bildung, Beschäftigung und – wie die Medien besonders hervorhoben – der Mangel an westlichem Kleidungsstil (unter den Taliban)?“ [5]

Dann fragen Sie noch schärfer: Wie kann man die afghanischen Frauen „retten“, wenn man eine Zivilbevölkerung bombardiert, zu der neben den Frauen selbst auch ihre Kinder, ihre Ehemänner, Väter und Brüder gehören? Das hätte die Frage sein müssen, die den Streit beendet, aber sie war es nicht.

Der ungeheuerlichste Ausdruck feministischer Islamophobie kam etwas mehr als einen Monat nach Kriegsbeginn. Da ein höchst ungleicher Rachefeldzug in den Augen der Welt keinen guten Eindruck macht ist es besser, etwas zu tun, das tugendhaft aussieht. Im Vorfeld des amerikanischen Erntedankfestes am 17. November 2001 beklagte Laura Bush, die Frau des Präsidenten, lautstark die Notlage der verschleierten afghanischen Frauen. Cherie Blair, die Frau des britischen Premierministers, schloss sich ihr einige Tage später an. Die Ehefrauen dieser reichen Kriegstreiber nutzten das ganze Gewicht des orientalistischen Paradigmas, um den Opfern die Schuld zu geben und einen Krieg gegen einige der ärmsten Menschen der Welt zu rechtfertigen. Und die „Rettung der afghanischen Frauen“ wurde zum ständigen Ruf vieler liberaler Feministinnen, um den amerikanischen Krieg zu rechtfertigen. [6]

Mit der Wahl Obamas im Jahr 2008 wurde der Chor der Islamophobie unter den amerikanischen Liberalen hegemonial. In jenem Jahr löste sich die amerikanische Anti-Kriegs-Allianz praktisch selbst auf, um Obamas Wahlkampf zu unterstützen. 

Die Demokraten und jene Feministinnen, die Obamas kriegslüsterne Außenministerin Hillary Clinton unterstützten, konnten die Wahrheit nicht akzeptieren, dass sowohl Afghanistan als auch der Irak Kriege für Öl waren [7].

 

Collage aus Bildern des Krieges gegen den Terror: oben links: die Ruinen des World Trade Centers nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Dies war der Kriegsgrund und Anfang des bis heute andauernden Krieges gegen den Terror; oben rechts: US-Soldaten mit einem Chinook-Transporthubschrauber in Afghanistan; unten links: eine Bombe explodiert nahe einem US-Konvoi bei Bagdad, unten rechts: US-Soldaten im Gefecht in Afghanistan. (Alle Bilder von der USArmy/Navy: Poxnar / Wikimedia Commons / CC0)

 

Für sie gab es nur eine einzige Rechtfertigung der endlosen Ölkriege – das Leiden der afghanischen Frauen. Die feministische Sichtweise war ein geschickter Schachzug. Sie verhinderte Vergleiche zwischen der unbestritten sexistischen Herrschaft der Taliban und dem Sexismus in den Vereinigten Staaten. Viel schockierender ist, dass diese feministische Sicht die hässlichen Wahrheiten über einen äußerst ungleichen Krieg zähmte und verdrängte. Und sie trennte diese fiktiven „zu rettenden Frauen“ von den Zehntausenden realer afghanischer Frauen, Männer und Kinder, die von den amerikanischen Bomben getötet, verwundet, zu Waisen gemacht oder obdachlos und hungrig wurden.

Viele unserer Freunde und Familienmitglieder in Amerika sind Feministinnen, die gutgläubig dieser Propaganda weitgehend folgten. Aber in Wahrheit wurden sie dazu gebracht, ein Netz aus Lügen zu unterstützen, eine Perversion des Feminismus. Es war der Feminismus der Invasoren und der korrupten Regierungselite. Es war der Feminismus der Folterer und der Drohnen.

Wir glauben, dass ein anderer Feminismus möglich ist. Aber es bleibt eine Tatsache, dass die Taliban zutiefst sexistisch sind. Der Sexismus hat in Afghanistan einen Sieg errungen. Aber es hätte nicht so kommen müssen.

Die Kommunisten, die die Grausamkeiten der sowjetischen Invasoren unterstützten, hatten den Feminismus in Afghanistan für mindestens eine Generation diskreditiert. Doch dann marschierten die Vereinigten Staaten ein und eine neue Generation berufstätiger afghanischer Frauen schlug sich auf die Seite der neuen Invasoren und versuchte, Rechte für Frauen zu erlangen. Auch ihr Traum endete in Kollaboration, Schande und Blut. Einige von ihnen waren natürlich Karrieristinnen, die im Tausch gegen Geld Plattitüden von sich gaben. Aber viele andere waren von einem ehrlichen und selbstlosen Traum beseelt. Ihr Scheitern ist tragisch.

Vorurteile und Verwirrungen

Außerhalb Afghanistans herrscht große Verwirrung über die in den letzten fünfundzwanzig Jahren entstandenen Vorurteile über die Taliban. Aber denken Sie genau nach, wenn Sie das Klischee hören, dass sie feudal, brutal und primitiv sind. Es handelt sich um Menschen mit Laptops, die seit vierzehn Jahren mit den Amerikanern in Katar verhandeln.

Die Taliban kommen nicht aus dem Mittelalter. Sie sind das Produkt einiger der schlimmsten Zeiten des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Wenn sie in gewisser Weise auf eine vermeintlich bessere Zeit zurückblicken, ist das nicht überraschend. Aber das Leben unter Luftangriffen, in Flüchtlingslagern, im Kommunismus, im Terror-Krieg, in verschärften Verhören, im Klimawandel, in der Internet-Politik und in der Ungleichheits-Spirale des Neoliberalismus hat sie geprägt. Sie leben, wie alle anderen auch, im Jetzt.

Auch ihre Wurzeln in einer Stammesgesellschaft können verwirrend sein. Aber wie Richard Tapper dargelegt hat, sind Stämme keine atavistischen Institutionen. Sie sind die Art und Weise, wie die Bauern in diesem Teil der Welt ihre Verflechtung mit dem Staat organisieren. Und die Geschichte Afghanistans war nie nur eine Angelegenheit konkurrierender ethnischer Gruppen, sondern vielmehr komplexer Bündnisse zwischen den Gruppen und Spaltungen innerhalb von Gruppen. [8]

Unter Linken gibt es eine Reihe von Vorurteilen, die manche Leute zu der Frage veranlassen, wie die Taliban auf der Seite der Armen und Anti-Imperialisten stehen können, wenn sie nicht „progressiv“ sind. Lassen wir einmal beiseite, dass das Wort „progressiv“ wenig aussagt. Natürlich stehen die Taliban dem Sozialismus und dem Kommunismus ablehnend gegenüber. Sie selbst oder ihre Eltern und Großeltern wurden von Sozialisten und Kommunisten getötet und gefoltert. Außerdem ist jede Bewegung, die einen zwanzigjährigen Guerillakrieg geführt und ein großes Imperium besiegt hat, entweder anti-imperialistisch, oder die Worte haben keinerlei Bedeutung.

Die Realität ist, was sie ist. Die Taliban sind eine Bewegung armer Bauern gegen eine imperiale Besatzung, zutiefst frauenfeindlich, von vielen Frauen unterstützt, manchmal rassistisch und sektiererisch, manchmal nicht. Das ist ein Bündel von Gegensätzen, die die Geschichte hervorgebracht hat.

Eine weitere Quelle der Verwirrung ist die Klassenpolitik der Taliban. Wie können sie auf der Seite der Armen stehen – was sie offensichtlich tun – und dennoch so erbittert gegen den Sozialismus sein? Die Antwort ist, dass ihre Erfahrung der russischen Okkupation die Möglichkeit sozialistischer Formulierungen über die Klasse zunichte gemacht hat. Aber sie hat nichts an der Realität der Klasse geändert. Niemand hat jemals eine Massenbewegung unter armen Bauern aufgebaut, die die Macht übernommen hätte, ohne auf der Seite der Armen gesehen zu werden.

Die Taliban sprechen nicht in der Sprache der Klasse, sondern in der Sprache der Gerechtigkeit und der Korruption. Diese Worte beschreiben dieselbe Seite. All dies bedeutet nicht, dass die Taliban zwangsläufig im Interesse der Armen regieren werden. Wir haben im letzten Jahrhundert und darüber hinaus genug Bauernaufstände gesehen, die an die Macht kamen, nur um dann von städtischen Eliten regiert zu werden. Und nichts von alledem sollte davon ablenken, dass die Taliban beabsichtigen, Diktatoren zu sein, keine Demokraten.

Ein historischer Wandel in Amerika

Dass Kabul gefallen ist, bedeutet eine entscheidende Niederlage für amerikanische Macht rund um den Globus. Aber er markiert auch eine tiefgreifende Abkehr vom amerikanischen Imperium unter Amerikanern – oder macht sie deutlich.

Einer der Beweise dafür sind die Meinungsumfragen. Im Jahr 2001, unmittelbar nach dem 11. September, befürworteten zwischen 85 % und 90 % der Amerikaner die Invasion in Afghanistan. Diese Zahlen sind stetig gesunken. Letzten Monat sprachen sich 62 % der Amerikaner für Bidens Plan eines vollständigen Rückzugs aus, 29% waren dagegen.

Diese Ablehnung des Krieges ist sowohl in der Rechten als auch in der Linken verbreitet. Die Arbeiterbasis der Republikanischen Partei und von Trump ist gegen ausländische Kriege. Viele Soldaten und Militärfamilien kommen aus ländlichen Gebieten und dem Süden, wo Trump stark ist. Sie sind gegen weitere Kriege, weil sie und diejenigen, die sie lieben, es waren, die gedient haben, gestorben sind oder verwundet wurden.

Der Patriotismus des rechten Flügels in Amerika ist heute pro-militärisch, aber das bedeutet Pro-Soldat, nicht Pro-Krieg. Wenn sie sagen „Make America Great Again“, meinen sie, dass Amerika für die Amerikaner derzeit nicht großartig ist, aber nicht, dass die USA sich mehr in der Welt engagieren sollten. Auch bei den Demokraten ist die Basis der Arbeiterklasse gegen die Kriege.

Es gibt Leute, die weitere militärische Interventionen unterstützen. Das sind die Obama-Demokraten, die Romney-Republikaner, die Generäle, viele linke und konservative Fachleute und fast alle Mitglieder der Washingtoner Elite. Aber das amerikanische Volk als Ganzes und vor allem die Arbeiterklasse, die Schwarzen, Braunen und Weißen, haben sich gegen das amerikanische Imperium gewandt.

Nach dem Fall von Saigon war die amerikanische Regierung für die nächsten fünfzehn Jahre nicht in der Lage große militärische Interventionen durchzuführen. Nach dem Fall von Kabul könnte es wohl noch länger dauern.

Die internationalen Konsequenzen

Seit 1918, also seit 103 Jahren, sind die Vereinigten Staaten die mächtigste Nation der Welt. Es gab konkurrierende Mächte – zuerst Deutschland und Japan, dann die Sowjetunion und jetzt China. Aber die USA dominierten. Dieses „amerikanische Jahrhundert“ geht nun zu Ende.

Der langfristige Grund ist der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und der relative wirtschaftliche Niedergang der Vereinigten Staaten. Aber die Covid-Pandemie und die Niederlage in Afghanistan machen die letzten zwei Jahre zu einem Wendepunkt.

Die Covid-Pandemie hat die institutionelle Inkompetenz der herrschenden Klasse und der Regierung der Vereinigten Staaten offenbart. Das System hat versagt, die Menschen zu schützen. Dieses chaotische und beschämende Versagen ist für die Menschen auf der ganzen Welt offensichtlich.

Dann ist da Afghanistan. Gemessen an den Ausgaben und der Ausrüstung sind die Vereinigten Staaten die durchweg dominierende Militärmacht der Welt. Diese Macht wurde von armen Menschen in Sandalen in einem kleinen Land besiegt, die nichts als Ausdauer und Mut haben.

Der Sieg der Taliban wird auch den verschiedensten Islamisten in Syrien, im Yemen, in Somalia und Pakistan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Mali Mut machen. Und dies trifft noch in einem viel weiteren Sinne zu. 

Sowohl das Scheitern bei Covid als auch die Niederlage in Afghanistan werden die Soft Power der USA schwächen. Aber Afghanistan ist auch eine Niederlage für die Hard Power. Die Stärke des informellen Imperiums der Vereinigten Staaten hat sich seit einem Jahrhundert auf drei verschiedene Säulen gestützt. 

Eine ist die Tatsache, dass es sich um die größte Volkswirtschaft der Welt handelt – mit einer Vorherrschaft über das globale Finanzsystem. 

Zweitens, ist sie in vielen Kreisen für Demokratie, Kompetenz und kulturelle Führerschaft bekannt. 

Die dritte Säule war, dass die Vereinigten Staaten im Falle eines Versagens der Soft Power einmarschieren würden, um Diktaturen zu unterstützen und ihre Feinde zu bestrafen.

Diese militärische Macht ist jetzt weg. Keine Regierung wird glauben, dass die USA sie vor einem fremden Eindringling oder vor ihrem eigenen Volk retten können. Die Drohnentötungen werden weitergehen und großes Leid verursachen. Aber Drohnen allein werden nirgendwo militärisch entscheidend sein. Dies ist der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts.

Was geschieht nun?

Am 12.09.2020 trifft sich der damalige Außenminister Mike Pompeo mit Führern der Taliban zu Verhandlungen in Doha. Von Links: Gen. Austin Miller, Zalmay Khalilzad, Pompeo, Abdul Ghani Baradar, Abdul Hakim Ishaqzai, Suhail Shaheen (Bild: State Department Ron Przysucha / Wikimedia Commons / Public Domain)

Keiner weiß, was in den nächsten Jahren in Afghanistan passieren wird. Aber wir können einige der Zwänge identifizieren.

Als Erstes und Hoffnungsvollstes wäre die tiefe Sehnsucht nach Frieden in den Herzen der Afghanen zu nennen. Sie haben nun dreiundvierzig Jahre Krieg erlebt. Denken Sie daran, wie nur fünf oder zehn Jahre Bürgerkrieg und Invasion so viele Länder gezeichnet haben. Und jetzt denken Sie an dreiundvierzig Jahre.

Kabul, Kandahar und Mazar, die drei wichtigsten Städte, sind alle ohne Gewalt gefallen. Das liegt daran, dass die Taliban – wie sie immer wieder betonen – ein Land in Frieden wollen und nicht auf Rache aus sind. Es liegt aber auch daran, dass die Menschen, die die Taliban nicht unterstützen, ja die sie hassen, sich ebenfalls entschieden haben, nicht zu kämpfen.

Die Taliban-Führer sind sich darüber im Klaren, dass sie Frieden schaffen müssen. Dazu ist es auch notwendig, dass die Taliban weiterhin für eine gerechte Justiz sorgen. Ihre Bilanz ist gut. Aber die Verlockungen und die Belastungen des Regierens haben in vielen Ländern vor ihnen, viele soziale Entwicklungen korrumpiert.

Auch ein wirtschaftlicher Zusammenbruch ist durchaus möglich. Afghanistan ist ein armes und trockenes Land, in dem weniger als 5 % des Bodens bewirtschaftet werden können. In den letzten zwanzig Jahren sind die Städte immens angewachsen. Dieses Wachstum war abhängig vom Geld, das aus der Besatzung und in geringerem Maße auch aus dem Opiumanbau floss. Ohne sehr substanzielle Hilfe von irgendwoher droht der wirtschaftliche Zusammenbruch.

Weil die Taliban das wissen, haben sie den Vereinigten Staaten ausdrücklich einen Deal angeboten. Die Amerikaner werden Hilfe leisten, und im Gegenzug werden die Taliban keine Heimat für Terroristen bieten, die Anschläge wie den vom 11. September verüben könnten. Sowohl die Trump- als auch die Biden-Administration haben dieses Angebot angenommen. Aber es ist keineswegs klar, dass die USA dieses Versprechen einhalten werden.

Tatsächlich wäre sogar noch Schlimmeres möglich. Frühere US-Regierungen haben den Irak, den Iran, Kuba und Vietnam für ihre Aufsässigkeit mit lang anhaltenden und zerstörerischen Wirtschaftssanktionen bestraft. In den USA wird es viele Stimmen geben, die solche Sanktionen fordern, um afghanische Kinder im Namen der Menschenrechte verhungern zu lassen.

Außerdem besteht die Gefahr einer internationalen Einmischung verschiedener Mächte, die unterschiedliche politische oder ethnische Kräfte in Afghanistan unterstützen. Die Vereinigten Staaten, Indien, Pakistan, Saudi-Arabien, Iran, China, Russland und Usbekistan werden alle in Versuchung geraten. Das hat es schon einmal gegeben und in einer Situation des wirtschaftlichen Zusammenbruchs könnte es zu Stellvertreterkriegen führen.

Im Moment wollen die Regierungen Irans, Russlands und Pakistans jedoch eindeutig Frieden in Afghanistan.

Die Taliban haben außerdem versprochen, nicht mit Grausamkeit zu regieren. Das ist leichter gesagt als getan. Was werden die armen Soldaten aus den Dörfern wohl tun, wenn sie mit Familien konfrontiert werden, die durch Korruption und Verbrechen ein großes Vermögen angehäuft haben?

Und dann ist da noch das Klima. Im Jahr 1971 verwüsteten eine Dürre und Hungersnot im Norden und im Zentrum des Landes Herden, Ernten und Leben. Dies war das erste Anzeichen für die Auswirkungen des Klimawandels in der Region, der in den letzten fünfzig Jahren weitere Dürren mit sich brachte. Mittel- und langfristig werden Landwirtschaft und Viehzucht immer prekärer werden [9].

All diese Gefahren sind real. Aber der meist gut informierte Sicherheitsexperte Antonio Giustozzi ist mit der Sichtweise sowohl innerhalb der Taliban als auch zwischen den Taliban und ausländischen Regierungen recht gut vertraut. 

Sein Artikel im „The Guardian“ vom 16. August 2021 war hoffnungsvoll. Er beendete ihn wie folgt: „Da die meisten Nachbarländer an der Stabilität in Afghanistan interessiert sind, ist es zumindest vorläufig unwahrscheinlich, dass etwaige Risse in der neuen Regierungskoalition von externen Akteuren ausgenutzt werden, um Brüche zu verursachen. Auch die Verlierer des Jahres 2021 werden kaum jemanden finden, der bereit wäre, sie beim Aufbau eines Widerstands zu unterstützen. Solange der neuen Koalitionsregierung wichtige Verbündete der Nachbarn angehören, ist dies der Beginn einer neuen Phase in der Geschichte Afghanistans.“ [10]

Was kann man tun?
Flüchtlinge willkommen heißen.

Viele Menschen im Westen fragen jetzt: „Was können wir tun, um afghanischen Frauen zu helfen?“ Bei dieser Frage wird häufig davon ausgegangen, dass die meisten afghanischen Frauen die Taliban ablehnen und die meisten afghanischen Männer sie unterstützen. Das ist Unsinn. Es ist kaum möglich, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der so etwas der Fall wäre.

Aber es gibt eine näher liegende Frage, konkret: Wie können wir den afghanischen Feministinnen helfen?

Diese Frage ist so berechtigt wie angemessen. Die Antwort lautet, sich zu organisieren, um ihnen Flugtickets zu kaufen und ihnen Zuflucht in Europa und Nordamerika zu gewähren.

Aber es sind nicht nur Feministinnen, die Asyl brauchen. Zehntausende von Menschen, die für die Besatzer gearbeitet haben, suchen verzweifelt eine Zuflucht, zusammen mit ihren Familien. Das gilt auch für eine größere Zahl von Menschen, die für die afghanische Regierung gearbeitet haben. 

Manche dieser Menschen verdienen unsere Bewunderung, andere sind korrupte Monster, viele liegen dazwischen, und viele sind einfach nur Kinder. Aber es gibt hier einen moralischen Imperativ. Die Vereinigten Staaten und die NATO-Länder haben zwanzig Jahre lang großes Leid verursacht. Das Mindeste, das Allerwenigste, was sie tun sollten, ist, die Menschen zu retten, deren Leben sie zerstört haben.

Und es gibt hier noch einen weiteren moralischen Aspekt. Was viele Afghanen in den letzten vierzig Jahren erfahren mussten, wurde in den letzten zehn Jahren der Qualen auch in Syrien deutlich. Es ist allzu leicht, die Zufälle des Lebens und der persönlichen Geschichte der Menschen zu verstehen, die sie dazu bringen, das zu tun, was sie tun. Die Demut zwingt uns, die junge kommunistische Frau, die gebildete Feministin, die für eine NGO arbeitet, den Selbstmordattentäter, den amerikanischen Marinesoldaten, den Dorfmullah, den Talibankämpfer, die trauernde Mutter eines von amerikanischen Bomben getöteten Kindes, den Sikh-Geldwechsler, den Polizisten, den armen Farmer, der Opium anbaut, zu betrachten und zu sagen: „Da gehe ich hin von Gottes Gnaden“. [Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um eine Redewendung, die Bescheidenheit und Demut ausdrücken soll. Das Zitat wird John Bradford zugeschrieben, einem englischen Reformer und Märtyrer aus dem 16. Jahrhundert, der diesen Satz auf seinem Weg zur Hinrichtung gesagt haben soll. Im Allgemeinen ist damit gemeint, dass ein menschliches Leben von äußeren Faktoren abhängen kann, über die man keine Kontrolle hat].

Das Versagen der amerikanischen und der britischen Regierungen bei der Rettung der Menschen, die für sie gearbeitet haben, ist gleichermaßen beschämend wie entlarvend. Dabei handelt es sich nicht wirklich um ein Versagen, sondern um eine bewusste Entscheidung. Rassismus gegenüber Einwanderung wog bei Johnson und Biden schwerer als das Gebot der Menschlichkeit.

Kampagnen zur Aufnahme von Afghanen sind immer noch möglich. Natürlich wird ein solch starkes moralisches Argument bei jeder Gelegenheit auf Rassismus und Islamophobie stoßen. Aber die Regierungen von Deutschland und den Niederlanden haben in der letzten Woche die Abschiebung von Afghanen ausgesetzt.

Jeder Politiker, egal wo, der sich für die afghanischen Frauen einsetzt, muss immer wieder aufgefordert werden, die Grenzen für alle Afghanen zu öffnen.

Und dann ist da noch die Frage, was mit den Hazaras geschehen könnte. Wie wir bereits sagten, sind die Taliban nicht mehr nur eine paschtunische Bewegung, sondern haben sich nationalisiert und viele Tadschiken und Usbeken rekrutiert. Und auch einige Hazaras, so heißt es. Aber nicht viele.

Die Hazaras sind das Volk, das traditionell in den zentralen Bergen lebte. Viele wanderten auch in Städte wie Mazar und Kabul aus, wo sie als Träger und in anderen schlecht bezahlten Berufen arbeiteten. Sie machen etwa 15 % der afghanischen Bevölkerung aus. Die Wurzeln der Feindschaft zwischen Paschtunen und Hazaras liegen zum Teil in langjährigen Streitigkeiten über Land und Weiderechte. In jüngerer Zeit kommt hinzu, dass die Hazaras Schiiten sind, während fast alle anderen Afghanen Sunniten sind.

Die erbitterten Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Irak haben zu einer Spaltung in der militant-islamistischen Tradition geführt. Diese Spaltung ist kompliziert, aber wichtig und muss ein wenig erklärt werden.

Sowohl im Irak als auch in Syrien hat der Islamische Staat Massaker an Schiiten verübt, andererseits haben schiitische Milizen in beiden Ländern Sunniten massakriert.

Die traditionelleren Al-Qaida-Netzwerke lehnen Angriffe auf Schiiten nach wie vor strikt ab und plädieren für Solidarität zwischen den Muslimen. Sie verweisen gern darauf, dass Osama Bin Laden‘s Mutter selbst Schiitin war – eigentlich eine Alawitin aus Syrien. Aber die Notwendigkeit der Einheit war wichtiger. Dies war der Hauptgrund für die Spaltung zwischen Al-Qaida und dem Islamischen Staat.

In Afghanistan haben sich die Taliban ebenfalls stark für die islamische Einheit eingesetzt. Auch die sexuelle Ausbeutung von Frauen durch den Islamischen Staat widerspricht zutiefst den Werten der Taliban, die extrem sexistisch, aber puritanisch und bescheiden sind. Seit vielen Jahren verurteilen die afghanischen Taliban in der Öffentlichkeit konsequent alle Terroranschläge auf Schiiten, Christen und Sikhs.

Dennoch finden diese Anschläge statt. Die Ideen des Islamischen Staates haben einen besonderen Einfluss auf die pakistanischen Taliban gehabt. Während die afghanischen Taliban eine Organisation sind, bilden die pakistanischen Taliban ein lockereres Netzwerk, welches nicht von den Afghanen kontrolliert wird. Sie haben wiederholt Bombenanschläge gegen Schiiten und Christen in Pakistan verübt.

Die jüngsten rassistischen Bombenanschläge auf Hazaras und Sikhs in Kabul wurden vom Islamischen Staat und dem Haqqani-Netzwerk verübt. Die Führung der Taliban hat alle diese Anschläge verurteilt.

Doch die Situation ist in Bewegung. Der Islamische Staat in Afghanistan ist eine von den Taliban abgespaltene Minderheit, die hauptsächlich in der Provinz Ningrahar im Osten des Landes ansässig ist. Sie sind erbitterte Gegner der Schiiten. Das Gleiche gilt für das Haqqani-Netzwerk, eine seit langem bestehende Mudschaheddin-Gruppe, die weitgehend vom pakistanischen Militärgeheimdienst kontrolliert wird. In der gegenwärtigen Konstellation ist das Haqqani-Netzwerk jedoch in die Taliban-Organisation integriert worden, und ihr Anführer ist einer der Führer der Taliban.

Aber niemand kann sicher sein, was die Zukunft bringt. Im Jahr 1995 verhinderte ein Aufstand von Hazara-Arbeitern in Mazar, dass die Taliban die Kontrolle über den Norden erlangten. Doch die Widerstandstraditionen der Hazara reichen viel tiefer und weiter zurück.

Auch die Hazara-Flüchtlinge in den Nachbarländern könnten jetzt in Gefahr sein. Die iranische Regierung verbündet sich mit den Taliban und bettelt sie förmlich an, friedlich zu sein. Sie tut dies, weil sich bereits etwa drei Millionen afghanische Flüchtlinge im Iran befinden. Die meisten von ihnen sind schon seit Jahren dort, zumeist arme städtische Arbeiter und ihre Familien, und die Mehrheit sind Hazaras. Vor kurzem hat die iranische Regierung, die sich selbst in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage befindet, damit begonnen, Afghanen zurück nach Afghanistan abzuschieben.

Auch in Pakistan gibt es etwa eine Million Hazara-Flüchtlinge. In der Region um Quetta sind in den letzten Jahren mehr als 5.000 von ihnen bei sektiererischen Attentaten und Massakern getötet worden. Die pakistanische Polizei und Armee unternimmt nichts. Da die pakistanische Armee und der pakistanische Geheimdienst seit langem die afghanischen Taliban unterstützen, sind diese Menschen jetzt noch stärker gefährdet.

Was sollte man außerhalb Afghanistans tun? Wie die meisten Afghanen sollte man für den Frieden beten. Und sich den Protesten für offene Grenzen anschließen.

Das letzte Wort überlassen wir Graham Knight. Sein Sohn, Sergeant Ben Knight von der britischen Royal Air Force, wurde 2006 in Afghanistan getötet. Diese Woche erklärte Graham Knight gegenüber der Press Association, dass die britische Regierung schnell hätte handeln müssen, um Zivilisten zu retten:

 „Wir sind nicht überrascht, dass die Taliban das Ruder übernommen haben, denn als die Amerikaner und Briten sagten, sie würden abziehen, wussten wir, dass dies passieren würde. Die Taliban haben ihre Absicht, einzumarschieren, sobald wir abziehen, sehr deutlich gemacht.

Was die Frage anbelangt, ob Menschenleben durch einen Krieg verloren gingen, der nicht zu gewinnen war, so glaube ich, dass dies der Fall war. Ich denke, das Problem war, dass wir gegen Menschen kämpften, die in diesem Land heimisch waren. Wir kämpften nicht gegen Terroristen, sondern gegen Menschen, die dort lebten und unsere Anwesenheit nicht mochten.“ [11]

Quellen:

[1] See especially Nancy Tapper (Lindisfarne), 1991; Lindisfarne, 2002a, 2002b and 2012; Lindisfarne and Neale, 2015; Neale, 1981, 1988, 2002 and 2008; Richard Tapper with Lindisfarne, 2020.

[2] Giustozzi, 2007 and 2009 are especially useful.

[3] On the class basis of the Taliban, see Lindisfarne, 2012, and many chapters by other authors in Marsden and Hopkins, 2012. And see Moussavi, 1998; Nojumi, 2002; Giustozzi, 2008 and 2009; Zareef, 2010.

[4] Zilizer, 2005.

[5] There is a vast literature on saving Afghan women. See Gregory, 2011; Lindisfarne, 2002a; Hirschkind and Mahmood, 2002; Kolhatkar and Ingalls, 2006; Jalalzai and Jefferess,2011; Fluri and Lehr, 2017; Manchanda, 2020.

[6] Ward, 2001.

[7] Lindisfarne and Neale, 2015

[8] Richard Tapper, 1983.

[9] For the drought in 1971, see Tapper and Lindisfarne, 2020. For more recent climate change, see Lindisfarne and Neale, 2019.

 

Weiterführende Literatur:

Fluri, Jennifer L. and Rachel Lehr. 2017. The Carpetbaggers of Kabul and Other American-Afghan Entanglements. Athens OH: University of Georgia Press.

Giustozzi, Antonio. 2007. Koran, Kalashnikov and Laptop: The Neo-Taliban Insurgency in Afghanistan. London: Hurst.

Giustozzi, Antonio. 2009. Decoding the New Taliban: Insights from the Afghan Field. London: Hurst.

Giustozzi, Antonio. 2021. ‘The Taliban have retaken Afghanistan – this time, how will they rule it?’ The Guardian, August 16.

Gregory, Thomas. 2011. ‘Rescuing the Women of Afghanistan: Gender, Agency and the Politics of Intelligibility.’University of Manchester PhD thesis.

Hirschkind, Charles and Saba Mahmood. 2002. ‘Feminism, the Taliban and the Politics of Counterinsurgency.’ Anthropological Quarterly, 75(2): 339-354.  

Hughes, Dana. 2012. ‘The First Ladies Club: Hillary Clinton and Laura Bush for the Women of Afghanistan.’ ABC News, March 21.

Jalalzai, Zubeda and David Jefferess, eds. 2011. Globalizing Afghanistan: Terrorism, War, and the Rhetoric of Nation Building. Durham: Duke University Press.

Klaits, A. & G. Gulmanadova-Klaits. 2005. Love and War in Afghanistan, New York: Seven Stories.

Kolhatkar, Sonali and James Ingalls. 200. Bleeding Afghanistan: Washington, Warlords, and the Propaganda of Silence. New York: Seven Stories.

Lindisfarne, Nancy. 2002a. ‘Gendering the Afghan War.’ Eclipse: The Anti-War Review, 4: 2-3.

Lindisfarne, Nancy. 2002b. ‘Starting from Below: Fieldwork. Gender and Imperialism Now.’ Critique of Anthropology, 22(4): 403-423, and in Armbruster and Laerke, 23-44.

Lindisfarne, Nancy. 2012. ‘Exceptional Pashtuns?’ Class Politics, Imperialism and Historiography.’ In Marsden and Hopkins.

Lindisfarne, Nancy and Jonathan Neale, 2015. ‘Oil Empires and Resistance in Afghanistan, Iraq and Syria.’ Anne Bonny Pirate.

Lindisfarne, Nancy and Jonathan Neale, 2019. ‘Oil, Heat and Climate Jobs in the MENA Region.’ In Environmental Challenges in the MENA Region: The Long Road from Conflict to Cooperation, edited by Hamid Pouran and Hassan Hakimian, 72-94. London: Ginko.

Manchanda, Nivi. 2020. Imagining Afghanistan: The History and Politics of Imperial Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press.

Marsden, Magnus and Benjamin Hopkins, eds. 2012. Beyond Swat: History, Society and Economy along the Afghanistan-Pakistan Frontier. London: Hurst.

MihailoviĊ, Konstantin. 1975. Memoirs of a Janissary. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Mount, Ferdinand. 2008. Cold Cream: My Early Life and Other Mistakes. London: Bloomsbury.

Mousavi, Sayed Askar, 1998. The Hazaras of Afghanistan: An Historical, Cultural, Economic and Political Study. London: Curzon. 

Neale, Jonathan. 1981. ‘The Afghan Tragedy.’ International Socialism, 12: 1-32.

Neale, Jonathan. 1988. ‘Afghanistan: The Horse Changes Riders,’ Capital and Class, 35: 34-48.

Neale, Jonathan. 2002. ‘The Long Torment of Afghanistan.’ International Socialism 93: 31-59.

Neale, Jonathan. 2008. ‘Afghanistan: The Case Against “the Good War”.’ International Socialism, 120: 31-60. 

Nojumi, Neamatollah. 2002. The Rise of the Taliban in Afghanistan. New York: Palgrave.

Rico, Johnny. 2007. Blood Makes the Grass Grow Green: A Year in the Desert with Team America. New York: Presidio.

Tapper (Lindisfarne), Nancy. 1991. Bartered Brides: Politics, Gender and Marriage in an Afghan Tribal Society. Cambridge: Cambridge University Press.

Tapper, Richard, ed. 1983. The Conflict of Tribe and State in Iran and Afghanistan. London: Croom Helm.

Tapper, Richard, with Nancy Lindisfarne. 2020. Afghan Village Voices: Stories from a Tribal Community. London: I.B. Tauris.

The Guardian, 2021. ‘Afghanistan Live News.’ August 16.

Ward, Lucy, 2001. ‘Leader’s Wives Join Propaganda War.’ The Guardian, Nov 17.

Zaeef, Abdul, 2010. My Life with the Taliban. London: Hirst.

Zilizer, Barbie. 2005. ‘Death in Wartime: Photographs and the ‘Other War’ in Afghanistan.’ The Harvard International Journal of Press/Politics, 10(3): 26-55.

 

Afghanistan:

Das Ende der Besatzung

In Großbritannien und den Vereinigten Staaten wird eine Menge Unsinn über Afghanistan geschrieben. Hinter diesem Unsinn verbirgt sich eine Reihe wichtiger Wahrheiten.

Von Published On: 11. September 2021Kategorien: Geopolitik, Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 17.08.2021 auf www.annebonnypirate.org unter der URL <https://annebonnypirate.org/2021/08/17/afghanistan-the-end-of-the-occupation/> veröffentlicht. Lizenz: Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale, annebonnypirate.org, CC BY-NC-ND 4.0

(Karte: CIA World Factbook / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0)

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1. Die Taliban haben die Vereinigten Staaten besiegt.

2. Die Taliban haben gewonnen, weil sie mehr Unterstützung in der Bevölkerung haben.

3. Das liegt nicht daran, dass die meisten Afghanen die Taliban lieben. Es liegt daran, dass die amerikanische Besatzung unerträglich grausam und korrupt war.

4. Der Krieg gegen den Terror wurde in den Vereinigten Staaten auch politisch besiegt. Die Mehrheit der Amerikaner spricht sich jetzt für den Rückzug aus Afghanistan und gegen weitere Kriege im Ausland aus.

5. Das ist ein Wendepunkt in der Weltgeschichte. Die größte Militärmacht der Welt wurde von der Bevölkerung eines kleinen, bitterarmen Landes besiegt . Dies wird die Macht des amerikanischen Imperiums in der ganzen Welt schwächen.

6. Die Rhetorik, afghanische Frauen retten zu wollen, wurde überwiegend dazu benutzt, die Besatzung zu rechtfertigen. Und viele Feministinnen in Afghanistan haben sich auf die Seite der Besatzung gestellt. Das ist im Ergebnis eine Tragödie für den Feminismus.

Nachfolgend erläutern wir diese Punkte. Um den Text kurz zu halten verzichten wir hier teilweise auf die Belege. Aber wir haben bereits viel über Politik, die Geschlechterfrage und den Krieg in Afghanistan geschrieben, seit wir vor fast 50 Jahren mit anthropologischen Feldforschungen in Afghanistan begonnen haben. Am Ende des Artikels finden Sie Links zu vielen dieser Arbeiten, so dass Sie unsere Argumente nachvollziehen können.

Ein militärischer Sieg

Dies ist ein militärischer und ein politischer Sieg für die Taliban. Ein militärischer Sieg, weil die Taliban den Krieg gewonnen haben. Seit mindestens zwei Jahren verlieren die afghanischen Regierungstruppen – nationale Armee und Polizei – jeden Monat mehr Menschen durch Tod und Verwundung, als sie neu rekrutieren können. Diese Kräfte sind also im Begriff zu verschwinden.

Während der letzten zehn Jahre haben die Taliban immer mehr Dörfer und einige Städte unter ihre Kontrolle gebracht. In den letzten zwölf Tagen konnten sie auch die letzten Städte einnehmen.

Dabei handelte sich nicht um einen plötzlichen Vorstoß durch die Städte und weiter bis nach Kabul. Die Kämpfer, die die Städte eingenommen haben, hatten sich schon lange in der Umgebung, in den Dörfern aufgehalten und auf den richtigen Moment gewartet. Entscheidend war dabei, dass die Taliban im gesamten Norden ständig Tadschiken, Usbeken und Angehörige anderer Völker rekrutiert haben.

 

Ein zerstörter BMP-1 Schützenpanzer vor dem Präsidentenpalast in Kabul einen Tag nach der Saur-Revolution. Bei der Saur-Revolution am 27.04.1978 putschte sich die kommunistische Demokratische Partei Afghanistans an die Macht. (Bild: Cleric77 / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0)

 

Ein politischer Sieg

Und es ist auch ein politischer Sieg für die Taliban. Kein Guerillaaufstand der Welt kann einen solchen Sieg ohne Unterstützung der Bevölkerung erringen.

Vielleicht ist Unterstützung nicht der richtige Ausdruck. Aber die Afghanen mussten sich für eine Seite entscheiden. Und mehr Afghanen haben sich auf die Seite der Taliban gestellt und nicht auf die Seite der amerikanischen Besatzer. Nicht alle – aber eben mehr.

Auch haben sich mehr Afghanen auf die Seite der Taliban gestellt als auf die Seite der afghanischen Regierung von Präsident Ashraf Ghani. Wiederum nicht alle, aber mehr als Ghani unterstützen. Und mehr Afghanen haben sich auf die Seite der Taliban gestellt und nicht auf die Seite der alten Warlords. Die Niederlagen von Dostum in Sheberghan und Ismail Khan in Herat sind eindrucksvolle Beweise dafür.

Die Taliban von 2001 waren überwiegend Paschtunen und ihre Politik war paschtunisch-chauvinistisch. Im Jahr 2021 haben Taliban-Kämpfer vieler Ethnien die Macht in usbekisch und tadschikisch dominierten Gebieten übernommen.

Eine wichtige Ausnahme bilden die von den Hazara beherrschten Gebiete in den zentralen Bergen. Wir kommen auf diese Ausnahme zurück.

Natürlich haben sich nicht alle Afghanen auf die Seite der Taliban geschlagen. Dies ist ein Krieg gegen ausländische Invasoren, aber es ist auch ein Bürgerkrieg. Viele haben für die Amerikaner, die Regierung oder die Warlords gekämpft. Andere haben mit beiden Seiten Kompromisse geschlossen, um zu überleben. Und wieder andere waren sich nicht sicher, für welche Seite sie sich entscheiden sollten. Sie warten mit einer unterschiedlichen Mischung aus Angst und Hoffnung darauf, was passieren wird.

Da es sich um eine militärische Niederlage für die USA handelt, sind die Forderungen an Biden, dies oder jenes zu tun, einfach nur dumm. Wären die amerikanischen Truppen in Afghanistan geblieben, hätten sie kapitulieren oder sterben müssen. Das wäre eine noch schlimmere Demütigung für die US-Macht als das jetzige Debakel. Biden hatte, wie schon Trump vor ihm, keine andere Wahl.

Warum sich so viele Afghanen für die Taliban entschieden haben

Die Tatsache, dass sich so viele Menschen für die Taliban entschieden haben, bedeutet nicht, dass die meisten Afghanen notwendigerweise die Taliban unterstützen. Es bedeutet, dass sie sich angesichts der begrenzten Wahlmöglichkeiten für die Taliban entschieden haben. Warum?

Die kurze Antwort lautet: Die Taliban sind die einzige wichtige politische Organisation, die gegen die amerikanische Besatzung kämpft – und die meisten Afghanen haben diese Besatzung zu hassen gelernt.

Das war nicht immer so. Einen Monat nach dem 11. September schickten die USA erstmals Bomberflugzeuge und einige Truppen nach Afghanistan. Unterstützt wurden die USA von den Kräften der Nordallianz, einer Koalition nicht-paschtunischer Warlords im Norden des Landes. Die Soldaten und Anführer der Allianz waren jedoch nicht wirklich bereit, an der Seite der Amerikaner zu kämpfen. Angesichts der langen Geschichte des afghanischen Widerstands gegen ausländische Invasionen – zuletzt gegen die russische Besatzung von 1980 bis 1987 – wäre das einfach zu beschämend.

Auf der anderen Seite war jedoch fast niemand bereit, für die Verteidigung der damals an der Macht befindlichen Taliban-Regierung zu kämpfen. Die Truppen der Nordallianz und die Taliban standen sich in einem Scheingefecht gegenüber. Dann begannen die USA, die Briten und ihre ausländischen Verbündeten mit der Bombardierung.

Das pakistanische Militär und die Geheimdienste handelten ein Ende dieser Pattsituation aus. Danach sollten die Vereinigten Staaten die Macht in Kabul übernehmen und einen Präsidenten ihrer Wahl einsetzen dürfen. Im Gegenzug durften die Taliban-Führer und ihre Anhänger nach Hause in ihre Dörfer oder ins Exil jenseits der Grenze in Pakistan gehen.

Diese Einigung wurde damals in den USA und in Europa aus offensichtlichen Gründen nicht breit bekannt gemacht. Wir haben aber darüber berichtet, und in Afghanistan wurde sie sehr wohl verstanden.

Der beste Beweis für diese ausgehandelte Einigung ist das, was danach geschah: Zwei Jahre lang gab es keinerlei Widerstand gegen die amerikanische Besatzung, in keinem Dorf. Viele Tausende ehemalige Taliban blieben in diesen Dörfern.

Dies ist eine außergewöhnliche Tatsache. Denken Sie an den Kontrast zum Irak, wo der Widerstand vom ersten Tag der Besetzung im Jahr 2003 an weit verbreitet war. Oder denken Sie an die russische Invasion in Afghanistan im Jahr 1979, die auf dieselbe Wand aus Wut stieß.

Der Grund dafür war nicht nur, dass die Taliban nicht kämpften. Es lag daran, dass die einfachen Menschen – selbst im Kernland der Taliban im Süden – die Hoffnung hegten, dass die amerikanische Besatzung Afghanistan Frieden bringen und die Wirtschaft entwickeln würde, um die schreckliche Armut zu beenden.
Der Frieden war das Entscheidende. Bis 2001 waren die Afghanen dreiundzwanzig Jahre lang in Kriegen gefangen gewesen: zunächst in einem Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Islamisten, dann in einem Krieg zwischen Islamisten und sowjetischen Invasoren, dann in einem Krieg zwischen islamistischen Warlords und schließlich in einem Krieg im Norden des Landes zwischen islamistischen Warlords und den Taliban.

Dreiundzwanzig Jahre Krieg bedeuteten Tod, Verstümmelung, Exil und Flüchtlingslager, Armut – so viele Arten von Trauer und endlose Angst und Unruhe. Die vielleicht beste Beschreibung, wie sich das anfühlte, findet man in Klaits/Gulmanadova-Klaits Buch „Love and War in Afghanistan“ aus dem Jahr 2005. Die Menschen sehnten sich verzweifelt nach Frieden. Im Jahr 2001 hielten sogar die Taliban-Befürworter einen schlechten Frieden für besser als einen guten Krieg.Außerdem waren die Vereinigten Staaten sagenhaft reich. Die Afghanen glaubten, dass die Besetzung zu einer Entwicklung führen könnte, die sie aus der Armut befreien würde.

Die Afghanen warteten, aber die USA lieferten Krieg statt Frieden

US-amerikanisches und britisches Militär besetzte Stützpunkte in den Dörfern und Kleinstädten des Kernlandes der Taliban, den überwiegend paschtunischen Gebieten im Süden und Osten. Diese Einheiten wurden nie über die informelle Einigung informiert, die zwischen den Amerikanern und den Taliban ausgehandelt worden war. Man konnte es ihnen nicht sagen, weil das die Regierung von Präsident Bush in Verruf gebracht hätte. Die US-Einheiten sahen es daher als ihre Aufgabe an, die verbliebenen „Bösewichte“, die offensichtlich noch da waren, auszurotten.

In nächtlichen Razzien brachen sie Türen auf, demütigten Familien und versetzten sie in Angst und Schrecken. Sie verschleppten und folterten Männer, um Informationen über andere Bösewichte zu erhalten. Hier und an geheimen Orten auf der ganzen Welt entwickelten das amerikanische Militär und die Geheimdienste die neuen Foltermethoden, die die Welt kurz darauf in Abu Ghraib, dem amerikanischen Gefängnis im Irak, zu sehen bekam.

Unter den Festgenommenen waren Taliban, die nicht gekämpft hatten. Einige davon waren einfache Leute, die von lokalen Feinden an die Amerikaner verraten wurden, nur um an deren Land zu kommen, oder weil sie anderweitig Groll gegen sie hegten. 

In seinen Memoiren „Blood Makes the Grass Grow Green“ beschreibt der amerikanische Soldat Johnny Rico, was als Nächstes geschah. Wütende Verwandte und Dorfbewohner schossen in der Dunkelheit ein paar Mal auf die Amerikaner. Das amerikanische Militär trat weitere Türen ein und folterte weitere Männer. Die Dorfbewohner feuerten noch mehr Schüsse ab. Die Amerikaner forderten Luftangriffe an und ihre Bomben töteten eine Familie nach der anderen.

Im Süden und Osten des Landes herrschte wieder Krieg.

Ungleichheit und Korruption eskalierten

Die Afghanen hatten auf eine Entwicklung gehofft, die sowohl den Reichen als auch den Armen helfen würde. Es erschien ihnen so offensichtlich und einfach. Aber sie verstanden die amerikanische Politik im Ausland nicht. Und sie verstanden nicht den tiefen Glauben des 1 % in den Vereinigten Staaten an die wachsende Ungleichheit in ihrem eigenen Land.

So floss also amerikanisches Geld nach Afghanistan. Aber es ging an die Leute in der neuen Regierung, die von Hamid Karzai geleitet wurde. Es ging an die Leute, die mit den Amerikanern und den Besatzungstruppen anderer Nationen zusammenarbeiteten. Und es ging an die Warlords und ihre Entourage, die tief in den internationalen Opium- und Heroinhandel verstrickt waren, der von der CIA und dem pakistanischen Militär gefördert wurde. Es ging an die Leute, die das Glück hatten, luxuriöse, gut verteidigte Häuser in Kabul zu besitzen, die sie an ausländische Mitarbeiter vermieten konnten. Es ging an die Männer und Frauen, die in vom Ausland finanzierten NGO‘s (Nicht-Regierungs-Organisation) arbeiteten.

Natürlich gab es zwischen all diesen Gruppen auch Überschneidungen.

An Korruption waren die Afghanen schon lange gewöhnt. Sie erwarteten und hassten sie zugleich. Doch dieses Mal war das Ausmaß beispiellos. Und in den Augen der armen und mittleren Einkommensschichten schien all der obszöne neue Reichtum, ganz gleich wie er erwirtschaftet wurde, aus Korruption zu stammen.

Während der letzten zehn Jahren haben die Taliban dem ganzen Land zwei Dinge geboten: 

Erstens, dass sie nicht korrupt sind, da sie auch vor 2001 in ihren Ämtern nicht korrupt waren. Sie sind die einzige politische Kraft im Land, auf die dies jemals zutraf.

Entscheidend ist dabei, dass die Taliban in den von ihnen kontrollierten ländlichen Gebieten ein gerechtes Justizsystem betreiben. Ihr Ruf ist so gut, dass viele Menschen, die in den Städten in Zivilprozesse verwickelt sind, zugestimmt haben, dass sich die Parteien an Taliban-Richter auf dem Land wenden. Dies ermöglicht ihnen eine schnelle, billige und faire Rechtsprechung ohne hohe Bestechungsgelder. Ihre Urteile waren gerecht, so dass beide Parteien damit leben können.

Zweitens war für die Menschen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten eine gerechte Justiz auch ein Schutz vor Ungleichheit. Wenn die Reichen die Richter bestechen können, können sie mit den Armen machen, was immer sie wollen. Landbesitz war dabei ein entscheidender Punkt. Reiche und mächtige Männer, Warlords und Regierungsbeamte konnten sich das Land von Kleinbauern durch Enteignung, Diebstahl oder Betrug aneignen und die noch ärmeren Teilpächter unterdrücken. Aber die Taliban-Richter, das war allen klar, waren bereit, für die Armen zu entscheiden.

Der Hass auf Korruption, auf Ungleichheit und auf die Besatzung verschmolz.

Zwanzig Jahre später

Das Jahr 2001, als die Taliban nach 9/11 von den Amerikanern gestürzt wurden, liegt nun zwanzig Jahre zurück. In zwanzig Jahren Krieg und Krise vollziehen sich in politischen Massenbewegungen enorme Veränderungen. Die Taliban haben dazugelernt und sich verändert, wie könnte es auch anders sein. Viele Afghanen und viele ausländische Fachleute haben sich dazu geäußert. Giustozzi verwendet dafür den nützlichen Begriff Neo-Taliban [2].

Dieser Wandel, wie er in der Öffentlichkeit dargestellt wird, hat mehrere Aspekte. Die Taliban haben ihren paschtunischen Chauvinismus als eine große Schwäche erkannt. Sie betonen nun, dass sie Muslime sind, Brüder aller anderen Muslime. Und dass sie die Unterstützung von Muslimen vieler ethnischer Gruppen wollen und haben.

Aber es gab in den letzten Jahren auch eine bittere Spaltung innerhalb der Taliban-Kräfte. Eine Minderheit von Taliban-Kämpfern und -Anhängern hat sich mit dem Islamischen Staat verbündet. Der Unterschied ist, dass der Islamische Staat Terroranschläge auf Schiiten, Sikhs und Christen verübt. Die Taliban in Pakistan tun das Gleiche, ebenso wie das kleine Haqqani-Netzwerk, das vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt wird. Eine Mehrheit der Taliban lehnt aber diese Angriffe entschieden ab.

Wir kommen später auf diese Spaltung zurück, da sie Auswirkungen auf das weitere Geschehen hat.

Die neuen Taliban betonen nun auch ihre Sorgen um die Rechte der Frauen. Sie erklären, dass sie Musik und Videos nun begrüßen und die heftigsten und puritanischsten Regeln ihrer früheren Herrschaft gemildert haben. Und sie wiederholen immer wieder, dass sie in Frieden regieren wollen, ohne Rache an den Menschen der alten Ordnung.

Wie viel davon Propaganda ist und wie viel Wahrheit, ist schwer zu sagen. Wie es weiter geht hängt zudem stark von der Entwicklung der Wirtschaft und von den Aktionen ausländischer Kräfte ab. Doch dazu später mehr. Unser Punkt hier ist, dass die Afghanen Gründe haben, die Taliban den Amerikanern, den Warlords und der Regierung von Ashraf Ghani vorzuziehen.

Was ist mit der Rettung afghanischer Frauen?

Viele Leser werden sich jetzt fragen: Was ist mit den afghanischen Frauen? Die Antwort ist nicht einfach.

Dazu müssen wir zunächst in die 1970er Jahre zurückgehen. Systeme geschlechtsspezifischer Ungleichheit sind überall auf der Welt mit einem bestimmten System der Klassenungleichheit verwoben. Das war in Afghanistan nicht anders.

Anfang der 1970er Jahre führte Nancy Lindisfarne eine anthropologische Feldforschung mit paschtunischen Frauen und Männern im Norden des Landes durch. Diese lebten von Ackerbau und Viehzucht. Das aus dieser Arbeit resultierende Buch, „Bartered Brides: Politics and Marriage in a Tribal Society“ [Politik und Heirat in einer Stammesgesellschaft, Anm. d. Redaktion] erklärt die Zusammenhänge zwischen Klasse, Geschlecht und ethnischen Unterschieden zu dieser Zeit. Und wenn Sie wissen wollen, was diese Frauen selbst über ihr Leben, ihre Sorgen und Freuden dachten, haben Nancy Lindisfarne und ihr ehemaliger Partner Richard Tapper „Afghan Village Voices“ veröffentlicht. Eine Übersetzung zahlreicher Tonbänder, die Frauen und Männer vor Ort für sie gemacht haben.

Diese Realität war vielschichtig, bitter, bedrückend und voller Liebe. In diesem tiefen Sinn unterschied sie sich nicht von der Komplexität von Sexismus und Klasse in den Vereinigten Staaten. Doch die Tragödie des nächsten halben Jahrhunderts sollte vieles davon ändern. Dieses lange Leiden brachte den besonderen Sexismus der Taliban hervor, der kein typisches Produkt der afghanischen Tradition ist.

Die von den USA unterstüzten Mudschaheddin zeigen Teile eines abgeschossenen sowjetischen Flugzeugs. (Bild: Erwin Lux Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0)

 

Diese neue Entwicklung beginnt im Jahr 1978 mit dem Beginn des Bürgerkrieges zwischen der kommunistischen Regierung und dem islamistischen Mudschaheddin-Widerstand. Die Islamisten gewannen, so dass die Sowjetunion Ende 1979 einmarschierte, um die kommunistische Regierung zu unterstützen. Es folgten sieben Jahre brutaler Krieg zwischen den Sowjets und den Mudschaheddin. 1987 zogen die sowjetischen Truppen besiegt ab.

Als wir in den frühen 1970er Jahren in Afghanistan lebten, gehörten die Kommunisten zu den besten Menschen. Sie wurden von drei Leidenschaften angetrieben. Sie wollten das Land entwickeln. Sie wollten die Macht der Großgrundbesitzer brechen und das Land neu verteilen. Und sie wollten Gleichberechtigung für Frauen.

Doch 1978 hatten die Kommunisten in einem Militärputsch unter Führung fortschrittlicher Offiziere die Macht übernommen. Aber die politische Unterstützung der Mehrheit der Dorfbewohner in dem überwiegend bäuerlichen Land, konnten sie nicht gewinnen. Im Ergebnis bestand die einzige Möglichkeit mit dem islamistischen Widerstand auf dem Land umzugehen, in Verhaftung, Folter und Bombardierung. Je mehr die kommunistisch geführte Armee solche Grausamkeiten beging, desto größer wurde die Revolte.

Dann marschierte die Sowjetunion zur Unterstützung der Kommunisten ein. Ihre Hauptwaffe waren Luftangriffe, und große Teile des Landes wurden zu Feuer-Frei-Zonen. Zwischen einer halben und einer Million Afghanen wurden getötet. Mindestens eine weitere Million wurde für immer verstümmelt. Zwischen sechs und acht Millionen wurden ins Exil in den Iran und nach Pakistan getrieben, und weitere Millionen wurden zu Binnenflüchtlingen. Und das alles in einem Land mit nur fünfundzwanzig Millionen Einwohnern.

Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen waren hatten sie als erstes versucht, eine Landreform durchzuführen und Gesetze für die Rechte der Frauen zu erlassen. Beim Einmarsch der Russen schlug sich die Mehrheit der Kommunisten auf deren Seite, viele davon waren Frauen. Dadurch erhielt der Feminismus einen schlechten Ruf, da er für viele mit der Unterstützung von Folter und Massakern verbunden war.

Stellen Sie sich vor, die Vereinigten Staaten würden von einer fremden Macht überfallen, die zwischen zwölf und vierundzwanzig Millionen Amerikaner tötet, Menschen in jeder Stadt foltert und 100 Millionen Amerikaner ins Exil treibt. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass fast alle Feministinnen in den Vereinigten Staaten die Invasoren unterstützt haben. Was glauben Sie, wie die meisten Amerikaner nach dieser Erfahrung über eine zweite Invasion durch eine andere ausländische Macht oder über den Feminismus denken würden?

Was glauben Sie, was die meisten afghanischen Frauen von einer weiteren Invasion – diesmal durch die Amerikaner – halten, die mit der Notwendigkeit der Rettung afghanischer Frauen begründet wird? Denken Sie daran, dass die Statistiken über Tote, Verstümmelte und Flüchtlinge unter der sowjetischen Besatzung keine abstrakten Zahlen waren. Es waren lebende Frauen und ihre Söhne und Töchter, Ehemänner, Brüder und Schwestern, Mütter und Väter.

Als die Sowjetunion schließlich besiegt abzog, atmeten die meisten Menschen erleichtert auf. Doch dann wurden die lokalen Anführer des Mudschaheddin-Widerstands, die vorher gegen die Kommunisten und die Invasoren gekämpft hatten, zu kaltblütigen Warlords. Sie kämpften nun gegeneinander um die Siegesbeute. Die Mehrheit der Afghanen hatte die Mudschaheddin unterstützt, aber jetzt waren sie angewidert von der Gier, der Korruption und dem endlosen, nutzlosen Krieg.

Der Klassen- und Flüchtlingshintergrund der Taliban

Im Herbst 1994 hatten die Taliban Kandahar, die größte und mehrheitlich paschtunische Stadt im Süden Afghanistans erreicht. Eine vergleichbare Bewegung hatte es in der afghanischen Geschichte bisher nicht gegeben. Die Taliban waren das Ergebnis zweier neuer Phänomene des 20. Jahrhunderts: der Bombardierung aus der Luft und der Flüchtlingslager in Pakistan. Sie gehörten zu einer anderen sozialen Schicht als die Eliten, die Afghanistan bisher regiert hatten.

Die Kommunisten waren Söhne und Töchter der städtischen Mittelschicht und der Bauern auf dem Lande, die über genügend Land verfügten, das sie ihr Eigen nennen konnten. Ihre Anführer hatten die einzige Universität des Landes in Kabul besucht. Sie wollten die Macht der Großgrundbesitzer brechen und das Land modernisieren.

Die Islamisten, die die Kommunisten bekämpften, waren Männer aus ähnlichen Schichten und zumeist ehemalige Studenten derselben Universität. Auch sie wollten das Land modernisieren, aber auf andere Art. Dabei orientierten sie sich an den Idealen der Muslimbruderschaft und der Al-Alzhar-Universität in Kairo.

Das Wort Taliban bedeutet Schüler einer islamischen Schule, nicht einer staatlichen Schule oder einer Universität. Die Kämpfer der Taliban, die 1994 in Kandahar einmarschierten, waren junge Männer, die in den freien islamischen Schulen der Flüchtlingslager in Pakistan gelernt hatten. Sie waren mittellose Kinder.

Ihre Anführer waren Dorfmullahs aus Afghanistan. Sie hatten nicht die elitären Verbindungen wie viele der Imame in den städtischen Moscheen. Dorfmullahs konnten lesen und sie genossen bei den Dorfbewohnern ein gewisses Ansehen. Aber ihr sozialer Status lag weit unter dem eines Grundbesitzers oder eines Hochschulabsolventen in einem Regierungsamt.

Die Taliban wurden von einem Komitee aus zwölf Männern angeführt. Alle zwölf hatten im Krieg durch sowjetische Bomben eine Hand, einen Fuß oder ein Auge verloren. Die Taliban waren u. a. die Partei der Armen und der Mittelschicht paschtunischer Dorfbewohner. [3]

Zwanzig Jahre Krieg hatten Kandahar gesetzlos zurückgelassen und der Gnade der sich bekriegenden Milizen ausgeliefert. Der Wendepunkt kam als die Taliban einen lokalen Kommandanten verfolgten, der einen Jungen und zwei oder drei Frauen vergewaltigt hatte. Die Taliban fingen ihn und hängten ihn auf. Bemerkenswert an ihrem Eingreifen war nicht nur ihre Entschlossenheit, den mörderischen internen Machtkämpfen ein Ende zu setzen und den Menschen ihre Würde und Sicherheit zurückzugeben, sondern auch ihre Abscheu vor der Heuchelei der anderen Islamisten.

Von Anfang an wurden die Taliban von den Saudis, den Amerikanern und dem pakistanischen Militär finanziert. Washington wollte ein friedliches Land, das Öl- und Gaspipelines aus Zentralasien aufnehmen konnte. Die Taliban zeichneten sich dadurch aus, dass sie keine Ausnahmen von den Verboten zuließen, die sie durchzusetzen versuchten, und durch die Strenge, mit der sie die Regeln durchsetzten.

Viele Afghanen waren dankbar für die Rückkehr von Ordnung und einem Mindestmaß an Sicherheit, aber die Taliban waren sektiererisch und unfähig das Land zu kontrollieren. 1996 zogen die Amerikaner ihre Unterstützung zurück und entfachten damit eine neue, tödliche Form der Islamophobie gegen die Taliban.

Fast über Nacht galten die afghanischen Frauen als hilflos und unterdrückt, während die afghanischen Männer – auch bekannt als Taliban – als fanatische Wilde, Pädophile und sadistische Patriarchen verschrien wurden, kaum noch als Menschen.

Vier Jahre vor 9/11 wurden die Taliban von den Amerikanern ins Visier genommen, während Feministinnen und andere sich für den Schutz der afghanischen Frauen einsetzten. Als die amerikanischen Bombenangriffe begannen, sollte jeder verstehen, dass die afghanischen Frauen Hilfe brauchten. Was konnte da schon schiefgehen?

9/11 und der amerikanische Krieg

Die Bombardierung begann am 7. Oktober. Innerhalb von Tagen waren die Taliban gezwungen, sich zu verstecken – oder wurden buchstäblich kastriert – wie ein Foto auf der Titelseite der „Daily Mail“ verkündete. Die veröffentlichten Bilder des Krieges waren wirklich schockierend in ihrer Gewalt und ihrem Sadismus. Viele Menschen in Europa waren entsetzt über das Ausmaß der Bombardierungen und die völlige Rücksichtslosigkeit gegenüber afghanischen Lebens [4].

Doch in jenem Herbst bedeutete die Mischung aus Rachegefühl und Patriotismus in den Vereinigten Staaten, dass abweichende Stimmen selten und meist unhörbar waren. Fragen Sie sich selbst, wie es Saba Mahmood damals tat: „Warum erschienen vielen die Bedingungen des Krieges (Migration, Militarisierung) und des Hungers (unter den Mudschaheddin) als weniger schädlich für Frauen als der Mangel an Bildung, Beschäftigung und – wie die Medien besonders hervorhoben – der Mangel an westlichem Kleidungsstil (unter den Taliban)?“ [5]

Dann fragen Sie noch schärfer: Wie kann man die afghanischen Frauen „retten“, wenn man eine Zivilbevölkerung bombardiert, zu der neben den Frauen selbst auch ihre Kinder, ihre Ehemänner, Väter und Brüder gehören? Das hätte die Frage sein müssen, die den Streit beendet, aber sie war es nicht.

Der ungeheuerlichste Ausdruck feministischer Islamophobie kam etwas mehr als einen Monat nach Kriegsbeginn. Da ein höchst ungleicher Rachefeldzug in den Augen der Welt keinen guten Eindruck macht ist es besser, etwas zu tun, das tugendhaft aussieht. Im Vorfeld des amerikanischen Erntedankfestes am 17. November 2001 beklagte Laura Bush, die Frau des Präsidenten, lautstark die Notlage der verschleierten afghanischen Frauen. Cherie Blair, die Frau des britischen Premierministers, schloss sich ihr einige Tage später an. Die Ehefrauen dieser reichen Kriegstreiber nutzten das ganze Gewicht des orientalistischen Paradigmas, um den Opfern die Schuld zu geben und einen Krieg gegen einige der ärmsten Menschen der Welt zu rechtfertigen. Und die „Rettung der afghanischen Frauen“ wurde zum ständigen Ruf vieler liberaler Feministinnen, um den amerikanischen Krieg zu rechtfertigen. [6]

Mit der Wahl Obamas im Jahr 2008 wurde der Chor der Islamophobie unter den amerikanischen Liberalen hegemonial. In jenem Jahr löste sich die amerikanische Anti-Kriegs-Allianz praktisch selbst auf, um Obamas Wahlkampf zu unterstützen. 

Die Demokraten und jene Feministinnen, die Obamas kriegslüsterne Außenministerin Hillary Clinton unterstützten, konnten die Wahrheit nicht akzeptieren, dass sowohl Afghanistan als auch der Irak Kriege für Öl waren [7].

 

Collage aus Bildern des Krieges gegen den Terror: oben links: die Ruinen des World Trade Centers nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Dies war der Kriegsgrund und Anfang des bis heute andauernden Krieges gegen den Terror; oben rechts: US-Soldaten mit einem Chinook-Transporthubschrauber in Afghanistan; unten links: eine Bombe explodiert nahe einem US-Konvoi bei Bagdad, unten rechts: US-Soldaten im Gefecht in Afghanistan. (Alle Bilder von der USArmy/Navy: Poxnar / Wikimedia Commons / CC0)

 

Für sie gab es nur eine einzige Rechtfertigung der endlosen Ölkriege – das Leiden der afghanischen Frauen. Die feministische Sichtweise war ein geschickter Schachzug. Sie verhinderte Vergleiche zwischen der unbestritten sexistischen Herrschaft der Taliban und dem Sexismus in den Vereinigten Staaten. Viel schockierender ist, dass diese feministische Sicht die hässlichen Wahrheiten über einen äußerst ungleichen Krieg zähmte und verdrängte. Und sie trennte diese fiktiven „zu rettenden Frauen“ von den Zehntausenden realer afghanischer Frauen, Männer und Kinder, die von den amerikanischen Bomben getötet, verwundet, zu Waisen gemacht oder obdachlos und hungrig wurden.

Viele unserer Freunde und Familienmitglieder in Amerika sind Feministinnen, die gutgläubig dieser Propaganda weitgehend folgten. Aber in Wahrheit wurden sie dazu gebracht, ein Netz aus Lügen zu unterstützen, eine Perversion des Feminismus. Es war der Feminismus der Invasoren und der korrupten Regierungselite. Es war der Feminismus der Folterer und der Drohnen.

Wir glauben, dass ein anderer Feminismus möglich ist. Aber es bleibt eine Tatsache, dass die Taliban zutiefst sexistisch sind. Der Sexismus hat in Afghanistan einen Sieg errungen. Aber es hätte nicht so kommen müssen.

Die Kommunisten, die die Grausamkeiten der sowjetischen Invasoren unterstützten, hatten den Feminismus in Afghanistan für mindestens eine Generation diskreditiert. Doch dann marschierten die Vereinigten Staaten ein und eine neue Generation berufstätiger afghanischer Frauen schlug sich auf die Seite der neuen Invasoren und versuchte, Rechte für Frauen zu erlangen. Auch ihr Traum endete in Kollaboration, Schande und Blut. Einige von ihnen waren natürlich Karrieristinnen, die im Tausch gegen Geld Plattitüden von sich gaben. Aber viele andere waren von einem ehrlichen und selbstlosen Traum beseelt. Ihr Scheitern ist tragisch.

Vorurteile und Verwirrungen

Außerhalb Afghanistans herrscht große Verwirrung über die in den letzten fünfundzwanzig Jahren entstandenen Vorurteile über die Taliban. Aber denken Sie genau nach, wenn Sie das Klischee hören, dass sie feudal, brutal und primitiv sind. Es handelt sich um Menschen mit Laptops, die seit vierzehn Jahren mit den Amerikanern in Katar verhandeln.

Die Taliban kommen nicht aus dem Mittelalter. Sie sind das Produkt einiger der schlimmsten Zeiten des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Wenn sie in gewisser Weise auf eine vermeintlich bessere Zeit zurückblicken, ist das nicht überraschend. Aber das Leben unter Luftangriffen, in Flüchtlingslagern, im Kommunismus, im Terror-Krieg, in verschärften Verhören, im Klimawandel, in der Internet-Politik und in der Ungleichheits-Spirale des Neoliberalismus hat sie geprägt. Sie leben, wie alle anderen auch, im Jetzt.

Auch ihre Wurzeln in einer Stammesgesellschaft können verwirrend sein. Aber wie Richard Tapper dargelegt hat, sind Stämme keine atavistischen Institutionen. Sie sind die Art und Weise, wie die Bauern in diesem Teil der Welt ihre Verflechtung mit dem Staat organisieren. Und die Geschichte Afghanistans war nie nur eine Angelegenheit konkurrierender ethnischer Gruppen, sondern vielmehr komplexer Bündnisse zwischen den Gruppen und Spaltungen innerhalb von Gruppen. [8]

Unter Linken gibt es eine Reihe von Vorurteilen, die manche Leute zu der Frage veranlassen, wie die Taliban auf der Seite der Armen und Anti-Imperialisten stehen können, wenn sie nicht „progressiv“ sind. Lassen wir einmal beiseite, dass das Wort „progressiv“ wenig aussagt. Natürlich stehen die Taliban dem Sozialismus und dem Kommunismus ablehnend gegenüber. Sie selbst oder ihre Eltern und Großeltern wurden von Sozialisten und Kommunisten getötet und gefoltert. Außerdem ist jede Bewegung, die einen zwanzigjährigen Guerillakrieg geführt und ein großes Imperium besiegt hat, entweder anti-imperialistisch, oder die Worte haben keinerlei Bedeutung.

Die Realität ist, was sie ist. Die Taliban sind eine Bewegung armer Bauern gegen eine imperiale Besatzung, zutiefst frauenfeindlich, von vielen Frauen unterstützt, manchmal rassistisch und sektiererisch, manchmal nicht. Das ist ein Bündel von Gegensätzen, die die Geschichte hervorgebracht hat.

Eine weitere Quelle der Verwirrung ist die Klassenpolitik der Taliban. Wie können sie auf der Seite der Armen stehen – was sie offensichtlich tun – und dennoch so erbittert gegen den Sozialismus sein? Die Antwort ist, dass ihre Erfahrung der russischen Okkupation die Möglichkeit sozialistischer Formulierungen über die Klasse zunichte gemacht hat. Aber sie hat nichts an der Realität der Klasse geändert. Niemand hat jemals eine Massenbewegung unter armen Bauern aufgebaut, die die Macht übernommen hätte, ohne auf der Seite der Armen gesehen zu werden.

Die Taliban sprechen nicht in der Sprache der Klasse, sondern in der Sprache der Gerechtigkeit und der Korruption. Diese Worte beschreiben dieselbe Seite. All dies bedeutet nicht, dass die Taliban zwangsläufig im Interesse der Armen regieren werden. Wir haben im letzten Jahrhundert und darüber hinaus genug Bauernaufstände gesehen, die an die Macht kamen, nur um dann von städtischen Eliten regiert zu werden. Und nichts von alledem sollte davon ablenken, dass die Taliban beabsichtigen, Diktatoren zu sein, keine Demokraten.

Ein historischer Wandel in Amerika

Dass Kabul gefallen ist, bedeutet eine entscheidende Niederlage für amerikanische Macht rund um den Globus. Aber er markiert auch eine tiefgreifende Abkehr vom amerikanischen Imperium unter Amerikanern – oder macht sie deutlich.

Einer der Beweise dafür sind die Meinungsumfragen. Im Jahr 2001, unmittelbar nach dem 11. September, befürworteten zwischen 85 % und 90 % der Amerikaner die Invasion in Afghanistan. Diese Zahlen sind stetig gesunken. Letzten Monat sprachen sich 62 % der Amerikaner für Bidens Plan eines vollständigen Rückzugs aus, 29% waren dagegen.

Diese Ablehnung des Krieges ist sowohl in der Rechten als auch in der Linken verbreitet. Die Arbeiterbasis der Republikanischen Partei und von Trump ist gegen ausländische Kriege. Viele Soldaten und Militärfamilien kommen aus ländlichen Gebieten und dem Süden, wo Trump stark ist. Sie sind gegen weitere Kriege, weil sie und diejenigen, die sie lieben, es waren, die gedient haben, gestorben sind oder verwundet wurden.

Der Patriotismus des rechten Flügels in Amerika ist heute pro-militärisch, aber das bedeutet Pro-Soldat, nicht Pro-Krieg. Wenn sie sagen „Make America Great Again“, meinen sie, dass Amerika für die Amerikaner derzeit nicht großartig ist, aber nicht, dass die USA sich mehr in der Welt engagieren sollten. Auch bei den Demokraten ist die Basis der Arbeiterklasse gegen die Kriege.

Es gibt Leute, die weitere militärische Interventionen unterstützen. Das sind die Obama-Demokraten, die Romney-Republikaner, die Generäle, viele linke und konservative Fachleute und fast alle Mitglieder der Washingtoner Elite. Aber das amerikanische Volk als Ganzes und vor allem die Arbeiterklasse, die Schwarzen, Braunen und Weißen, haben sich gegen das amerikanische Imperium gewandt.

Nach dem Fall von Saigon war die amerikanische Regierung für die nächsten fünfzehn Jahre nicht in der Lage große militärische Interventionen durchzuführen. Nach dem Fall von Kabul könnte es wohl noch länger dauern.

Die internationalen Konsequenzen

Seit 1918, also seit 103 Jahren, sind die Vereinigten Staaten die mächtigste Nation der Welt. Es gab konkurrierende Mächte – zuerst Deutschland und Japan, dann die Sowjetunion und jetzt China. Aber die USA dominierten. Dieses „amerikanische Jahrhundert“ geht nun zu Ende.

Der langfristige Grund ist der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und der relative wirtschaftliche Niedergang der Vereinigten Staaten. Aber die Covid-Pandemie und die Niederlage in Afghanistan machen die letzten zwei Jahre zu einem Wendepunkt.

Die Covid-Pandemie hat die institutionelle Inkompetenz der herrschenden Klasse und der Regierung der Vereinigten Staaten offenbart. Das System hat versagt, die Menschen zu schützen. Dieses chaotische und beschämende Versagen ist für die Menschen auf der ganzen Welt offensichtlich.

Dann ist da Afghanistan. Gemessen an den Ausgaben und der Ausrüstung sind die Vereinigten Staaten die durchweg dominierende Militärmacht der Welt. Diese Macht wurde von armen Menschen in Sandalen in einem kleinen Land besiegt, die nichts als Ausdauer und Mut haben.

Der Sieg der Taliban wird auch den verschiedensten Islamisten in Syrien, im Yemen, in Somalia und Pakistan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Mali Mut machen. Und dies trifft noch in einem viel weiteren Sinne zu. 

Sowohl das Scheitern bei Covid als auch die Niederlage in Afghanistan werden die Soft Power der USA schwächen. Aber Afghanistan ist auch eine Niederlage für die Hard Power. Die Stärke des informellen Imperiums der Vereinigten Staaten hat sich seit einem Jahrhundert auf drei verschiedene Säulen gestützt. 

Eine ist die Tatsache, dass es sich um die größte Volkswirtschaft der Welt handelt – mit einer Vorherrschaft über das globale Finanzsystem. 

Zweitens, ist sie in vielen Kreisen für Demokratie, Kompetenz und kulturelle Führerschaft bekannt. 

Die dritte Säule war, dass die Vereinigten Staaten im Falle eines Versagens der Soft Power einmarschieren würden, um Diktaturen zu unterstützen und ihre Feinde zu bestrafen.

Diese militärische Macht ist jetzt weg. Keine Regierung wird glauben, dass die USA sie vor einem fremden Eindringling oder vor ihrem eigenen Volk retten können. Die Drohnentötungen werden weitergehen und großes Leid verursachen. Aber Drohnen allein werden nirgendwo militärisch entscheidend sein. Dies ist der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts.

Was geschieht nun?

Am 12.09.2020 trifft sich der damalige Außenminister Mike Pompeo mit Führern der Taliban zu Verhandlungen in Doha. Von Links: Gen. Austin Miller, Zalmay Khalilzad, Pompeo, Abdul Ghani Baradar, Abdul Hakim Ishaqzai, Suhail Shaheen (Bild: State Department Ron Przysucha / Wikimedia Commons / Public Domain)

Keiner weiß, was in den nächsten Jahren in Afghanistan passieren wird. Aber wir können einige der Zwänge identifizieren.

Als Erstes und Hoffnungsvollstes wäre die tiefe Sehnsucht nach Frieden in den Herzen der Afghanen zu nennen. Sie haben nun dreiundvierzig Jahre Krieg erlebt. Denken Sie daran, wie nur fünf oder zehn Jahre Bürgerkrieg und Invasion so viele Länder gezeichnet haben. Und jetzt denken Sie an dreiundvierzig Jahre.

Kabul, Kandahar und Mazar, die drei wichtigsten Städte, sind alle ohne Gewalt gefallen. Das liegt daran, dass die Taliban – wie sie immer wieder betonen – ein Land in Frieden wollen und nicht auf Rache aus sind. Es liegt aber auch daran, dass die Menschen, die die Taliban nicht unterstützen, ja die sie hassen, sich ebenfalls entschieden haben, nicht zu kämpfen.

Die Taliban-Führer sind sich darüber im Klaren, dass sie Frieden schaffen müssen. Dazu ist es auch notwendig, dass die Taliban weiterhin für eine gerechte Justiz sorgen. Ihre Bilanz ist gut. Aber die Verlockungen und die Belastungen des Regierens haben in vielen Ländern vor ihnen, viele soziale Entwicklungen korrumpiert.

Auch ein wirtschaftlicher Zusammenbruch ist durchaus möglich. Afghanistan ist ein armes und trockenes Land, in dem weniger als 5 % des Bodens bewirtschaftet werden können. In den letzten zwanzig Jahren sind die Städte immens angewachsen. Dieses Wachstum war abhängig vom Geld, das aus der Besatzung und in geringerem Maße auch aus dem Opiumanbau floss. Ohne sehr substanzielle Hilfe von irgendwoher droht der wirtschaftliche Zusammenbruch.

Weil die Taliban das wissen, haben sie den Vereinigten Staaten ausdrücklich einen Deal angeboten. Die Amerikaner werden Hilfe leisten, und im Gegenzug werden die Taliban keine Heimat für Terroristen bieten, die Anschläge wie den vom 11. September verüben könnten. Sowohl die Trump- als auch die Biden-Administration haben dieses Angebot angenommen. Aber es ist keineswegs klar, dass die USA dieses Versprechen einhalten werden.

Tatsächlich wäre sogar noch Schlimmeres möglich. Frühere US-Regierungen haben den Irak, den Iran, Kuba und Vietnam für ihre Aufsässigkeit mit lang anhaltenden und zerstörerischen Wirtschaftssanktionen bestraft. In den USA wird es viele Stimmen geben, die solche Sanktionen fordern, um afghanische Kinder im Namen der Menschenrechte verhungern zu lassen.

Außerdem besteht die Gefahr einer internationalen Einmischung verschiedener Mächte, die unterschiedliche politische oder ethnische Kräfte in Afghanistan unterstützen. Die Vereinigten Staaten, Indien, Pakistan, Saudi-Arabien, Iran, China, Russland und Usbekistan werden alle in Versuchung geraten. Das hat es schon einmal gegeben und in einer Situation des wirtschaftlichen Zusammenbruchs könnte es zu Stellvertreterkriegen führen.

Im Moment wollen die Regierungen Irans, Russlands und Pakistans jedoch eindeutig Frieden in Afghanistan.

Die Taliban haben außerdem versprochen, nicht mit Grausamkeit zu regieren. Das ist leichter gesagt als getan. Was werden die armen Soldaten aus den Dörfern wohl tun, wenn sie mit Familien konfrontiert werden, die durch Korruption und Verbrechen ein großes Vermögen angehäuft haben?

Und dann ist da noch das Klima. Im Jahr 1971 verwüsteten eine Dürre und Hungersnot im Norden und im Zentrum des Landes Herden, Ernten und Leben. Dies war das erste Anzeichen für die Auswirkungen des Klimawandels in der Region, der in den letzten fünfzig Jahren weitere Dürren mit sich brachte. Mittel- und langfristig werden Landwirtschaft und Viehzucht immer prekärer werden [9].

All diese Gefahren sind real. Aber der meist gut informierte Sicherheitsexperte Antonio Giustozzi ist mit der Sichtweise sowohl innerhalb der Taliban als auch zwischen den Taliban und ausländischen Regierungen recht gut vertraut. 

Sein Artikel im „The Guardian“ vom 16. August 2021 war hoffnungsvoll. Er beendete ihn wie folgt: „Da die meisten Nachbarländer an der Stabilität in Afghanistan interessiert sind, ist es zumindest vorläufig unwahrscheinlich, dass etwaige Risse in der neuen Regierungskoalition von externen Akteuren ausgenutzt werden, um Brüche zu verursachen. Auch die Verlierer des Jahres 2021 werden kaum jemanden finden, der bereit wäre, sie beim Aufbau eines Widerstands zu unterstützen. Solange der neuen Koalitionsregierung wichtige Verbündete der Nachbarn angehören, ist dies der Beginn einer neuen Phase in der Geschichte Afghanistans.“ [10]

Was kann man tun?
Flüchtlinge willkommen heißen.

Viele Menschen im Westen fragen jetzt: „Was können wir tun, um afghanischen Frauen zu helfen?“ Bei dieser Frage wird häufig davon ausgegangen, dass die meisten afghanischen Frauen die Taliban ablehnen und die meisten afghanischen Männer sie unterstützen. Das ist Unsinn. Es ist kaum möglich, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der so etwas der Fall wäre.

Aber es gibt eine näher liegende Frage, konkret: Wie können wir den afghanischen Feministinnen helfen?

Diese Frage ist so berechtigt wie angemessen. Die Antwort lautet, sich zu organisieren, um ihnen Flugtickets zu kaufen und ihnen Zuflucht in Europa und Nordamerika zu gewähren.

Aber es sind nicht nur Feministinnen, die Asyl brauchen. Zehntausende von Menschen, die für die Besatzer gearbeitet haben, suchen verzweifelt eine Zuflucht, zusammen mit ihren Familien. Das gilt auch für eine größere Zahl von Menschen, die für die afghanische Regierung gearbeitet haben. 

Manche dieser Menschen verdienen unsere Bewunderung, andere sind korrupte Monster, viele liegen dazwischen, und viele sind einfach nur Kinder. Aber es gibt hier einen moralischen Imperativ. Die Vereinigten Staaten und die NATO-Länder haben zwanzig Jahre lang großes Leid verursacht. Das Mindeste, das Allerwenigste, was sie tun sollten, ist, die Menschen zu retten, deren Leben sie zerstört haben.

Und es gibt hier noch einen weiteren moralischen Aspekt. Was viele Afghanen in den letzten vierzig Jahren erfahren mussten, wurde in den letzten zehn Jahren der Qualen auch in Syrien deutlich. Es ist allzu leicht, die Zufälle des Lebens und der persönlichen Geschichte der Menschen zu verstehen, die sie dazu bringen, das zu tun, was sie tun. Die Demut zwingt uns, die junge kommunistische Frau, die gebildete Feministin, die für eine NGO arbeitet, den Selbstmordattentäter, den amerikanischen Marinesoldaten, den Dorfmullah, den Talibankämpfer, die trauernde Mutter eines von amerikanischen Bomben getöteten Kindes, den Sikh-Geldwechsler, den Polizisten, den armen Farmer, der Opium anbaut, zu betrachten und zu sagen: „Da gehe ich hin von Gottes Gnaden“. [Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um eine Redewendung, die Bescheidenheit und Demut ausdrücken soll. Das Zitat wird John Bradford zugeschrieben, einem englischen Reformer und Märtyrer aus dem 16. Jahrhundert, der diesen Satz auf seinem Weg zur Hinrichtung gesagt haben soll. Im Allgemeinen ist damit gemeint, dass ein menschliches Leben von äußeren Faktoren abhängen kann, über die man keine Kontrolle hat].

Das Versagen der amerikanischen und der britischen Regierungen bei der Rettung der Menschen, die für sie gearbeitet haben, ist gleichermaßen beschämend wie entlarvend. Dabei handelt es sich nicht wirklich um ein Versagen, sondern um eine bewusste Entscheidung. Rassismus gegenüber Einwanderung wog bei Johnson und Biden schwerer als das Gebot der Menschlichkeit.

Kampagnen zur Aufnahme von Afghanen sind immer noch möglich. Natürlich wird ein solch starkes moralisches Argument bei jeder Gelegenheit auf Rassismus und Islamophobie stoßen. Aber die Regierungen von Deutschland und den Niederlanden haben in der letzten Woche die Abschiebung von Afghanen ausgesetzt.

Jeder Politiker, egal wo, der sich für die afghanischen Frauen einsetzt, muss immer wieder aufgefordert werden, die Grenzen für alle Afghanen zu öffnen.

Und dann ist da noch die Frage, was mit den Hazaras geschehen könnte. Wie wir bereits sagten, sind die Taliban nicht mehr nur eine paschtunische Bewegung, sondern haben sich nationalisiert und viele Tadschiken und Usbeken rekrutiert. Und auch einige Hazaras, so heißt es. Aber nicht viele.

Die Hazaras sind das Volk, das traditionell in den zentralen Bergen lebte. Viele wanderten auch in Städte wie Mazar und Kabul aus, wo sie als Träger und in anderen schlecht bezahlten Berufen arbeiteten. Sie machen etwa 15 % der afghanischen Bevölkerung aus. Die Wurzeln der Feindschaft zwischen Paschtunen und Hazaras liegen zum Teil in langjährigen Streitigkeiten über Land und Weiderechte. In jüngerer Zeit kommt hinzu, dass die Hazaras Schiiten sind, während fast alle anderen Afghanen Sunniten sind.

Die erbitterten Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Irak haben zu einer Spaltung in der militant-islamistischen Tradition geführt. Diese Spaltung ist kompliziert, aber wichtig und muss ein wenig erklärt werden.

Sowohl im Irak als auch in Syrien hat der Islamische Staat Massaker an Schiiten verübt, andererseits haben schiitische Milizen in beiden Ländern Sunniten massakriert.

Die traditionelleren Al-Qaida-Netzwerke lehnen Angriffe auf Schiiten nach wie vor strikt ab und plädieren für Solidarität zwischen den Muslimen. Sie verweisen gern darauf, dass Osama Bin Laden‘s Mutter selbst Schiitin war – eigentlich eine Alawitin aus Syrien. Aber die Notwendigkeit der Einheit war wichtiger. Dies war der Hauptgrund für die Spaltung zwischen Al-Qaida und dem Islamischen Staat.

In Afghanistan haben sich die Taliban ebenfalls stark für die islamische Einheit eingesetzt. Auch die sexuelle Ausbeutung von Frauen durch den Islamischen Staat widerspricht zutiefst den Werten der Taliban, die extrem sexistisch, aber puritanisch und bescheiden sind. Seit vielen Jahren verurteilen die afghanischen Taliban in der Öffentlichkeit konsequent alle Terroranschläge auf Schiiten, Christen und Sikhs.

Dennoch finden diese Anschläge statt. Die Ideen des Islamischen Staates haben einen besonderen Einfluss auf die pakistanischen Taliban gehabt. Während die afghanischen Taliban eine Organisation sind, bilden die pakistanischen Taliban ein lockereres Netzwerk, welches nicht von den Afghanen kontrolliert wird. Sie haben wiederholt Bombenanschläge gegen Schiiten und Christen in Pakistan verübt.

Die jüngsten rassistischen Bombenanschläge auf Hazaras und Sikhs in Kabul wurden vom Islamischen Staat und dem Haqqani-Netzwerk verübt. Die Führung der Taliban hat alle diese Anschläge verurteilt.

Doch die Situation ist in Bewegung. Der Islamische Staat in Afghanistan ist eine von den Taliban abgespaltene Minderheit, die hauptsächlich in der Provinz Ningrahar im Osten des Landes ansässig ist. Sie sind erbitterte Gegner der Schiiten. Das Gleiche gilt für das Haqqani-Netzwerk, eine seit langem bestehende Mudschaheddin-Gruppe, die weitgehend vom pakistanischen Militärgeheimdienst kontrolliert wird. In der gegenwärtigen Konstellation ist das Haqqani-Netzwerk jedoch in die Taliban-Organisation integriert worden, und ihr Anführer ist einer der Führer der Taliban.

Aber niemand kann sicher sein, was die Zukunft bringt. Im Jahr 1995 verhinderte ein Aufstand von Hazara-Arbeitern in Mazar, dass die Taliban die Kontrolle über den Norden erlangten. Doch die Widerstandstraditionen der Hazara reichen viel tiefer und weiter zurück.

Auch die Hazara-Flüchtlinge in den Nachbarländern könnten jetzt in Gefahr sein. Die iranische Regierung verbündet sich mit den Taliban und bettelt sie förmlich an, friedlich zu sein. Sie tut dies, weil sich bereits etwa drei Millionen afghanische Flüchtlinge im Iran befinden. Die meisten von ihnen sind schon seit Jahren dort, zumeist arme städtische Arbeiter und ihre Familien, und die Mehrheit sind Hazaras. Vor kurzem hat die iranische Regierung, die sich selbst in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage befindet, damit begonnen, Afghanen zurück nach Afghanistan abzuschieben.

Auch in Pakistan gibt es etwa eine Million Hazara-Flüchtlinge. In der Region um Quetta sind in den letzten Jahren mehr als 5.000 von ihnen bei sektiererischen Attentaten und Massakern getötet worden. Die pakistanische Polizei und Armee unternimmt nichts. Da die pakistanische Armee und der pakistanische Geheimdienst seit langem die afghanischen Taliban unterstützen, sind diese Menschen jetzt noch stärker gefährdet.

Was sollte man außerhalb Afghanistans tun? Wie die meisten Afghanen sollte man für den Frieden beten. Und sich den Protesten für offene Grenzen anschließen.

Das letzte Wort überlassen wir Graham Knight. Sein Sohn, Sergeant Ben Knight von der britischen Royal Air Force, wurde 2006 in Afghanistan getötet. Diese Woche erklärte Graham Knight gegenüber der Press Association, dass die britische Regierung schnell hätte handeln müssen, um Zivilisten zu retten:

 „Wir sind nicht überrascht, dass die Taliban das Ruder übernommen haben, denn als die Amerikaner und Briten sagten, sie würden abziehen, wussten wir, dass dies passieren würde. Die Taliban haben ihre Absicht, einzumarschieren, sobald wir abziehen, sehr deutlich gemacht.

Was die Frage anbelangt, ob Menschenleben durch einen Krieg verloren gingen, der nicht zu gewinnen war, so glaube ich, dass dies der Fall war. Ich denke, das Problem war, dass wir gegen Menschen kämpften, die in diesem Land heimisch waren. Wir kämpften nicht gegen Terroristen, sondern gegen Menschen, die dort lebten und unsere Anwesenheit nicht mochten.“ [11]

Quellen:

[1] See especially Nancy Tapper (Lindisfarne), 1991; Lindisfarne, 2002a, 2002b and 2012; Lindisfarne and Neale, 2015; Neale, 1981, 1988, 2002 and 2008; Richard Tapper with Lindisfarne, 2020.

[2] Giustozzi, 2007 and 2009 are especially useful.

[3] On the class basis of the Taliban, see Lindisfarne, 2012, and many chapters by other authors in Marsden and Hopkins, 2012. And see Moussavi, 1998; Nojumi, 2002; Giustozzi, 2008 and 2009; Zareef, 2010.

[4] Zilizer, 2005.

[5] There is a vast literature on saving Afghan women. See Gregory, 2011; Lindisfarne, 2002a; Hirschkind and Mahmood, 2002; Kolhatkar and Ingalls, 2006; Jalalzai and Jefferess,2011; Fluri and Lehr, 2017; Manchanda, 2020.

[6] Ward, 2001.

[7] Lindisfarne and Neale, 2015

[8] Richard Tapper, 1983.

[9] For the drought in 1971, see Tapper and Lindisfarne, 2020. For more recent climate change, see Lindisfarne and Neale, 2019.

 

Weiterführende Literatur:

Fluri, Jennifer L. and Rachel Lehr. 2017. The Carpetbaggers of Kabul and Other American-Afghan Entanglements. Athens OH: University of Georgia Press.

Giustozzi, Antonio. 2007. Koran, Kalashnikov and Laptop: The Neo-Taliban Insurgency in Afghanistan. London: Hurst.

Giustozzi, Antonio. 2009. Decoding the New Taliban: Insights from the Afghan Field. London: Hurst.

Giustozzi, Antonio. 2021. ‘The Taliban have retaken Afghanistan – this time, how will they rule it?’ The Guardian, August 16.

Gregory, Thomas. 2011. ‘Rescuing the Women of Afghanistan: Gender, Agency and the Politics of Intelligibility.’University of Manchester PhD thesis.

Hirschkind, Charles and Saba Mahmood. 2002. ‘Feminism, the Taliban and the Politics of Counterinsurgency.’ Anthropological Quarterly, 75(2): 339-354.  

Hughes, Dana. 2012. ‘The First Ladies Club: Hillary Clinton and Laura Bush for the Women of Afghanistan.’ ABC News, March 21.

Jalalzai, Zubeda and David Jefferess, eds. 2011. Globalizing Afghanistan: Terrorism, War, and the Rhetoric of Nation Building. Durham: Duke University Press.

Klaits, A. & G. Gulmanadova-Klaits. 2005. Love and War in Afghanistan, New York: Seven Stories.

Kolhatkar, Sonali and James Ingalls. 200. Bleeding Afghanistan: Washington, Warlords, and the Propaganda of Silence. New York: Seven Stories.

Lindisfarne, Nancy. 2002a. ‘Gendering the Afghan War.’ Eclipse: The Anti-War Review, 4: 2-3.

Lindisfarne, Nancy. 2002b. ‘Starting from Below: Fieldwork. Gender and Imperialism Now.’ Critique of Anthropology, 22(4): 403-423, and in Armbruster and Laerke, 23-44.

Lindisfarne, Nancy. 2012. ‘Exceptional Pashtuns?’ Class Politics, Imperialism and Historiography.’ In Marsden and Hopkins.

Lindisfarne, Nancy and Jonathan Neale, 2015. ‘Oil Empires and Resistance in Afghanistan, Iraq and Syria.’ Anne Bonny Pirate.

Lindisfarne, Nancy and Jonathan Neale, 2019. ‘Oil, Heat and Climate Jobs in the MENA Region.’ In Environmental Challenges in the MENA Region: The Long Road from Conflict to Cooperation, edited by Hamid Pouran and Hassan Hakimian, 72-94. London: Ginko.

Manchanda, Nivi. 2020. Imagining Afghanistan: The History and Politics of Imperial Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press.

Marsden, Magnus and Benjamin Hopkins, eds. 2012. Beyond Swat: History, Society and Economy along the Afghanistan-Pakistan Frontier. London: Hurst.

MihailoviĊ, Konstantin. 1975. Memoirs of a Janissary. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Mount, Ferdinand. 2008. Cold Cream: My Early Life and Other Mistakes. London: Bloomsbury.

Mousavi, Sayed Askar, 1998. The Hazaras of Afghanistan: An Historical, Cultural, Economic and Political Study. London: Curzon. 

Neale, Jonathan. 1981. ‘The Afghan Tragedy.’ International Socialism, 12: 1-32.

Neale, Jonathan. 1988. ‘Afghanistan: The Horse Changes Riders,’ Capital and Class, 35: 34-48.

Neale, Jonathan. 2002. ‘The Long Torment of Afghanistan.’ International Socialism 93: 31-59.

Neale, Jonathan. 2008. ‘Afghanistan: The Case Against “the Good War”.’ International Socialism, 120: 31-60. 

Nojumi, Neamatollah. 2002. The Rise of the Taliban in Afghanistan. New York: Palgrave.

Rico, Johnny. 2007. Blood Makes the Grass Grow Green: A Year in the Desert with Team America. New York: Presidio.

Tapper (Lindisfarne), Nancy. 1991. Bartered Brides: Politics, Gender and Marriage in an Afghan Tribal Society. Cambridge: Cambridge University Press.

Tapper, Richard, ed. 1983. The Conflict of Tribe and State in Iran and Afghanistan. London: Croom Helm.

Tapper, Richard, with Nancy Lindisfarne. 2020. Afghan Village Voices: Stories from a Tribal Community. London: I.B. Tauris.

The Guardian, 2021. ‘Afghanistan Live News.’ August 16.

Ward, Lucy, 2001. ‘Leader’s Wives Join Propaganda War.’ The Guardian, Nov 17.

Zaeef, Abdul, 2010. My Life with the Taliban. London: Hirst.

Zilizer, Barbie. 2005. ‘Death in Wartime: Photographs and the ‘Other War’ in Afghanistan.’ The Harvard International Journal of Press/Politics, 10(3): 26-55.