05/2019

Magazin

Die gekaufte Revolution

Geldkoffer (Shutterstock), Kohl: KAS/ACDP 10-031 : 848 CC-BY-SA 3.0 DE, Merkel: Armin Linnartz, CC BY-SA 3.0 de

30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre Totalversagen

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist Zeit Bilanz zu ziehen. Der 9. November 1989 war eine historische Chance, ein Jahrhundertereignis. Mit dem Mauerfall war der verbleibende Beton des Kalten Krieges flüssig geworden. Alles war möglich. Das war vor allem einem Mann zu verdanken, dem Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow. Er kam mit ausgestreckter Hand. Er ahnte wohl nicht, dass einige West-Strategen ihm nur die Hand schüttelten, um ihm seinen Arm auf den Rücken drehen zu können.

Die meisten Wessis dachten wie ich: Jetzt würde alles gut werden.

Wir alle übersahen, dass im Hintergrund bereits andere Kräfte am Werk waren. Macht-Eliten, die nach dem Sieg im Kalten Krieg Beute machen wollten, und den flüssigen Zement in neuer Form erstarren lassen wollten. In einer unipolaren Welt, in der nur die USA bestimmen würden. Das tausendjährige Reich des Neoliberalismus sollte erstehen.

Sie begannen mit der Umsetzung ihrer Pläne, während wir noch Party feierten.

Die Vereinigung der amerikanischen Wissenschaftler gehörte zu den Gutgläubigen, wie die meisten Menschen. Sie stellten die Weltuntergangsuhr 1991 auf 17 Minuten vor Mitternacht, den besten Wert, den es je gegeben hatte. Dreißig Jahre später steht die Uhr auf zwei Minuten vor Mitternacht, dem schlechtesten Wert seit 1953, seit der Einführung der Wasserstoffbombe.

Der Unterschied sind 30 Jahre Politik. 30 Jahre Triumphalismus. 30 Jahre Totalversagen –  aus der Perspektive der Beherrschten. Aus der Sicht der NeoCons lief alles wie geplant. Statt die Atomwaffen abzuschaffen, was 1989 möglich war, wie sogar Politiker jener Zeit zugeben, stehen wir erneut vor der Gefahr eines Krieges in Europa.

Ein zweites, wesentliches Indiz für den Zustand des Freien Westens ist der Fall Julian Assange. Er ist gleichzeitig Justizskandal und Lehrstück. In einer Anhörung im Deutschen Bundestag am 28. November 2019 wurde klar, dass die Supermacht USA und ihr Vasall Großbritannien dem Gefangenen Julian Assange nach dem Leben trachten, denn psychologische Folter hat tödliche körperliche Folgen, wie der UN Folter-Sonderberichterstatter Nils Melzer erläuterte. Julian Assange hat bereits 15 Kilo abgenommen und erinnerte sich bei einer Anhörung kaum mehr an seinen Namen.

Dreißig Jahre nachdem sich der freie Westen beim Mauerfall als Sehnsuchtsort und Endstation der freiheitlichen Demokratie inszenierte, ist der Lack abgeblättert. Was sichtbar wird, hat erstaunliche Ähnlichkeit mit der UdSSR der Breschnew-Zeit. Nur, dass die Dissidenten nicht mehr in die USA fliehen wie Alexander Solschenitsyn, sie fliehen jetzt nach Moskau wie Edward Snowden, um den Schergen und Kerkern eines erbarmungslosen Regimes zu entfliehen.

Wenn die ganzen Sonntagsreden über Hans und Sophie Scholl oder die jährlichen Rituale zum 20. Juli irgendeinen Bezug zum politischen Willen hätten, müsste Deutschland Julian Assange, Chelsea Manning und Edward Snowden Asyl anbieten. Der amerikanische Stauffenberg heißt Snowden. Die Ungerechtigkeit, die bekämpft werden muss, ist immer die Ungerechtigkeit in der Gegenwart. Die Versuche, das Dritte Reich nachträglich zu verhindern sind untauglich und oft einfach der Versuch, sich die Energie des Verbrechens politisch nutzbar zu machen. Es geht jedoch darum, zu verhindern, dass der fruchtbare Schoß, aus dem dies einst kroch, neue Erscheinungsformen des gleichen Geistes hervorbringt.

Dirk Pohlmann, Chefredakteur

Inhalt der Ausgabe

  • Der Wiedervereinigungs-Mythos

    „Niemand wird Dir helfen. Niemand wird kommen und Dir eine Arbeit anbieten. Du musst begreifen, dass Du nichts erreichen wirst, wenn Du Dich nicht selbst darum kümmerst.“ Noch heute habe ich die Worte meiner Mutter im Ohr. Besorgte Dauerpredigten, die einem 16-Jährigen zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr rausgehen. […] Weiter lesen

  • Die gekaufte Revolution

    Die Geschichte des Endes der DDR, wie wir es aus Jubiläumsveranstaltungen und TV-Mehrteilern kennen, ist das Ergebnis lupenreiner Sieger-Geschichtsschreibung. Mythen und Legenden haben sich über die Jahrzehnte verfestigt. Etwa jene, die DDR-Bevölkerung habe sich „schon immer“ leidenschaftlich nach einem bedingungslosen Anschluss an die Bundesrepublik gesehnt. In Wahrheit wäre in den Wochen […] Weiter lesen

  • Triumphalismus und Totalversagen

    30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt in einem schlimmen Zustand. Dass die einzigartige historische Chance nicht genutzt wurde, um die Atomwaffen abzuschaffen und eine internationale Friedensordnung zu errichten, war kein Naturereignis, sondern das Ergebnis katastrophaler Politik. Sie muss beendet werden, wenn es eine Zukunft geben soll. […] Weiter lesen

  • Die Welt am Scheideweg

    In diesen Tagen [September 2019. Anm. d. Red.] wird eine weitere, die 74. Sitzung der UN-Vollversammlung  und damit traditionell die internationale politische Saison eröffnet. Die Sitzung beginnt vor dem Hintergrund eines tief symbolischen historischen Moments. Im nächsten Jahr werden wir große und zusammenhängende Jubiläen feiern – 75. Jahrestag des Sieges im […] Weiter lesen

  • Assange vor Gericht

    Ich war zutiefst erschüttert, als ich die gestrigen Ereignisse im Westminster Magistrates Court erlebte. Jede Entscheidung wurde im Hauruckverfahren von einer Richterin durchgeführt, die nicht einmal so tat, als würde sie zuhören, und alle Argumente und Einwände des Rechtsteams von Assange überging. Bevor ich auf den eklatanten Mangel an einem fairen […] Weiter lesen

  • „Mord durch Gerichtsverfahren“

    DP: Herr Shipton, in welchem Zustand ist ihr Sohn Julian jetzt? Wie geht es ihm? Es muss ihnen schwer fallen, darüber zu sprechen, aber bitte tun sie es. HS: Julians Zustand ist furchtbar. Nils Melzer, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter, hat gesagt, falls das Auslieferungsverfahren drei Jahre dauern wird, […] Weiter lesen

  • Korrupte Außenpolitik als Norm

    Die wichtigsten Aspekte des Trump-Ukraine-„Skandals“, welche zur Anklage wegen Amtsmissbrauch geführt haben, werden nicht erzählt, nicht einmal von den Republikanern. Trump hätte sehr wahrscheinlich politische Motive gehabt, wenn er der Ukraine wirklich mit der Verweigerung von Militärhilfe drohte, um als Gegenleistung von Kiew zu fordern, eine Untersuchung über Joe Biden, derzeit […] Weiter lesen

  • Hongkong – der neue Systemkonflikt

    Die Heritage Foundation, einflussreicher Think Tank von US-Unternehmen, bezeichnete Hongkong im jährlichen Ranking jetzt zum 25. Mal als „freieste Wirtschaft der Welt“  [1] . Doch gemessen an Völkerrecht, Demokratie und den UN-Menschenrechten ist das Gegenteil der Fall. Gerade deshalb ist Hongkong für den moralisch und wirtschaftlich absteigenden Westen eine wichtige Bastion […] Weiter lesen

  • Nur aufgeklärter Kollektivismus kann uns noch retten

    Der Individualismus kann die Menschheit nicht vor den Krisen schützen, in denen sie sich derzeit befindet. Individualismus ist dafür einfach nicht geeignet. Es gibt den weit verbreiteten Glauben, dass wir, wenn wir einfach alle kollektivistischen Impulse in unserer Gesellschaft eliminieren würden, alle unsere Probleme los wären. Also etwa, dass Regierungen, die […] Weiter lesen