„Friedliche Modernisierung“:

Chinas Angebot an den globalen Süden

Xi Jinping hat dem globalen Süden kürzlich eine starke Alternative zu Jahrzehnten an westlichen Diktaten, Krieg und wirtschaftlicher Nötigung angeboten. „Friedliche Modernisierung“ wird für die ums Überleben kämpfenden Staaten der Welt Souveränität, Wirtschaft und Unabhängigkeit herstellen.

Von Published On: 19. Dezember 2022Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 20.10.2022 auf www.thecradle.co unter der URL <https://thecradle.co/Article/columns/17132> veröffentlicht. Lizenz: © Pepe Escobar, The Cradle

Symbolfoto. China reicht seine Hand zur Zusammenarbeit. Gemeinfrei

Der Arbeitsbericht von Präsident Xi Jinping zu Beginn des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) am vergangenen Sonntag in Peking enthielt nicht nur eine Blaupause [1] für die Entwicklung des Zivilisationsstaates, sondern für den gesamten Globalen Süden.

Xis eindreiviertelstündige Rede war eine kürzere Version des vollständigen Arbeitsberichts – siehe beigefügte PDF-Datei [2] –, in der eine Reihe gesellschaftspolitischer Themen viel ausführlicher behandelt werden.

Dies war der Höhepunkt einer komplexen kollektiven Anstrengung, die sich über Monate hinzog. Als er den endgültigen Text erhielt, kommentierte, überarbeitete und redigierte Xi ihn.

Kurz gesagt hat der Masterplan der KPCh zwei Ziele: die „sozialistische Modernisierung“ von 2020 bis 2035 abzuschließen und China – durch friedliche Modernisierung – als modernes sozialistisches Land aufzubauen, das „wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell fortschrittlich und harmonisch“ ist, und zwar bis zum Jahr 2049, dem hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China (VRC).

Das zentrale Konzept des Arbeitsberichts ist die friedliche Modernisierung – und wie sie erreicht werden kann. Wie Xi zusammenfasste, „enthält es Elemente, die den Modernisierungsprozessen aller Länder gemeinsam sind, aber es ist mehr durch Merkmale gekennzeichnet, die für den chinesischen Kontext einzigartig sind.“

Ganz im Sinne der konfuzianischen chinesischen Kultur stellt die „friedliche Modernisierung“ ein komplettes theoretisches System dar. Natürlich gibt es mehrere geoökonomische Pfade, die zur Modernisierung führen – je nach den nationalen Bedingungen eines jeden Landes. Aber für den Globalen Süden als Ganzes ist es wichtig, dass das chinesische Beispiel mit dem westlichen TINA-Monopol („Es gibt keine Alternative“) für die Modernisierungspraxis und -theorie vollständig bricht.

Ganz zu schweigen davon, dass es mit der ideologischen Zwangsjacke bricht, die dem globalen Süden von der selbst definierten „goldenen Milliarde“ auferlegt wurde (von denen die wirklich „Goldenen“ kaum 10 Millionen erreichen). Was die chinesische Führung damit sagen will, ist, dass das iranische, das ugandische oder das bolivianische Modell genauso gültig sind wie das chinesische Experiment: Worauf es ankommt, ist die Beschreitung eines unabhängigen Weges der Entwicklung.

Neue Seidenstraße – „Belt Road Initiative“
(Quelle: Wikimedia Commons, Abwandlung von: Hong Kong Qatar Locator.png von Xxjkingdom
durch „Tart“; Lizenz: CC-BY-SA 3.0)

Wie technologische Unabhängigkeit entwickelt werden soll

Die jüngste Geschichte zeigt, wie jede Nation, die versucht, sich außerhalb des Washingtoner Konsenses zu entwickeln, auf unzähligen Ebenen des hybriden Krieges terrorisiert wird. Diese Nation wird zum Ziel von farbigen Revolutionen, Regimewechseln, illegalen Sanktionen, Wirtschaftsblockaden, NATO-Sabotage oder regelrechten Bombenangriffen und Invasionen.

Was China vorschlägt, findet im gesamten Globalen Süden Anklang, da Peking der größte Handelspartner von nicht weniger als 140 Nationen ist, die Konzepte wie eine qualitativ hochwertige wirtschaftliche Entwicklung und Eigenständigkeit in Wissenschaft und Technologie leicht nachvollziehen können.

Der Bericht unterstreicht die kategorische Notwendigkeit für China von heute an: die technologische Eigenständigkeit zu beschleunigen, da der Hegemon nichts unversucht lässt, um die chinesische Technologie entgleisen zu lassen, insbesondere bei der Herstellung von Halbleitern [3].

Mit einem Sanktionspaket, das wirkt, als sei es der Hölle entsprungen, setzt der Hegemon darauf, Chinas Bestreben seine technologische Unabhängigkeit bei Halbleitern und den Anlagen zu deren Herstellung zu beschleunigen auszubremsen, .

China wird also eine nationale Anstrengung zur Halbleiterproduktion unternehmen müssen. Diese Notwendigkeit steht im Mittelpunkt dessen, was im Arbeitsbericht als neue Entwicklungsstrategie beschrieben wird, die durch die enorme Herausforderung angespornt wird, eine technologische Autarkie zu erreichen. Im Wesentlichen wird China den öffentlichen Sektor der Wirtschaft stärken, wobei staatliche Unternehmen den Kern für ein nationales System zur Entwicklung technischer Innovationen bilden.

„Kleine Festungen mit hohen Mauern“

In Bezug auf die Außenpolitik ist der Arbeitsbericht sehr eindeutig: China ist gegen jede Form des Unilateralismus, sowie gegen Blöcke und exklusive Gruppen, die sich gegen bestimmte Länder richten. Peking bezeichnet diese Blöcke, wie die NATO und AUKUS, als „kleine Festungen mit hohen Mauern“.

Diese Sichtweise ist der Betonung eines weiteren kategorischen Imperativs durch die KPCh eingeschrieben: die Reform des bestehenden Systems der Global Governance, das für den globalen Süden extrem ungerecht ist. Es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, dass China als Zivilisationsstaat sich gleichzeitig als sozialistisches Land und als weltweit führende Entwicklungsnation sieht.

Das Problem ist wieder einmal Pekings Glaube an den „Schutz des internationalen Systems mit den Vereinten Nationen als Kernstück“. Die meisten Akteure des Globalen Südens wissen, wie der Hegemon die UNO – und ihren Abstimmungsmechanismus – allen Arten von unermüdlichem Druck aussetzt.

Den wenigen Westlern, die wirklich ein oder zwei Dinge über China wissen [4], Aufmerksamkeit zu schenken ist erhellend.

Martin Jacques, bis vor kurzem Senior Fellow am „Department of Politics and International Studies“ der Universität Cambridge und Autor des wohl besten englischsprachigen Buches über die Entwicklung Chinas, ist davon beeindruckt, wie die Modernisierung Chinas in einem vom Westen dominierten Umfeld stattfand:

„Das war die Schlüsselrolle der KPCh. Es musste geplant werden. Wir können sehen, wie außerordentlich erfolgreich es war.“

Die Implikation ist, dass Peking durch das Aufbrechen des westlich orientierten TINA-Modells das Rüstzeug erworben hat, um die Länder des Globalen Südens bei ihren eigenen Modellen zu unterstützen.

Jeffrey Sachs, Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Universität von Columbia, ist sogar noch optimistischer:

„China wird ein Innovationsführer werden. Ich hoffe und rechne fest damit, dass China eine führende Rolle bei der Innovation im Bereich der Nachhaltigkeit spielen wird“.

Dies steht im Gegensatz zu einem „dysfunktionalen“ amerikanischen Modell, das sogar in der Wirtschaft und bei Investitionen protektionistisch wird.

Michail Deljagin, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftspolitik der russischen Staatsduma, weist auf einen entscheidenden Punkt hin, der von wichtigen Akteuren des Globalen Südens sicherlich zur Kenntnis genommen wurde: Die KPCh „war in der Lage, den Marxismus des 19. Jahrhunderts und ihre Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert in kreativer Weise zu adaptieren, mit neuen Anforderungen zu verbinden und ewige Werte mit neuen Methoden umzusetzen. Dies ist eine sehr wichtige und nützliche Lektion für uns“.

Und das ist der Mehrwert eines Modells, das sich am nationalen Interesse orientiert und nicht an der exklusivistischen Politik des globalen Kapitals.

BRI oder Pleite

Im gesamten Arbeitsbericht wird die Bedeutung des übergreifenden Konzepts der chinesischen Außenpolitik hervorgehoben: die neue Seidenstraße [Belt and Road Initiative, BRI, Anm. d. Redaktion] und ihre Handels-/Verbindungskorridore durch Eurasien und Afrika.

Es war Sache des Sprechers des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, klarzustellen, wohin die BRI führt:

„Die BRI überwindet die veraltete Mentalität geopolitischer Spiele und schafft ein neues Modell der internationalen Zusammenarbeit. Es handelt sich nicht um eine exklusive Gruppe, die andere Teilnehmer ausschließt, sondern um eine offene und inklusive Kooperationsplattform. Es ist nicht nur Chinas Alleingang, sondern eine Sinfonie, die von allen teilnehmenden Ländern aufgeführt wird.“

Die BRI ist in das chinesische Konzept der „Öffnung“ integriert. Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass Xi die BRI vor neun Jahren ins Leben gerufen hat – in Zentralasien (Astana) und dann in Südostasien (Jakarta). Peking hat aus seinen Fehlern gelernt und stimmt die BRI in Absprache mit seinen Partnern – von Pakistan, Sri Lanka und Malaysia bis hin zu mehreren afrikanischen Staaten – immer wieder ab.

Es ist kein Wunder, dass Chinas Handel mit den an der BRI beteiligten Ländern im August dieses Jahres ein Volumen von 12 Billionen US-Dollar erreichte und die nichtfinanziellen Direktinvestitionen in diesen Ländern 140 Milliarden US-Dollar überstiegen.

Wang weist zu Recht darauf hin, dass infolge der BRI-Infrastrukturinvestitionen „Ostafrika und Kambodscha Autobahnen haben, Kasachstan [Trocken-]Häfen für den Export hat, die Malediven ihre erste Brücke über das Meer haben und Laos von einem Binnenland zu einem verbundenen Land geworden ist“.

Trotz großer Herausforderungen – von Null-Covid über verschiedene Sanktionen bis hin zum Zusammenbruch von Lieferketten – steigt die Zahl der Expressfrachtzüge zwischen China und der EU weiter an; die China-Laos-Eisenbahn und die Peljesac-Brücke in Kroatien sind in Betrieb und die Arbeiten an der Hochgeschwindigkeitsstrecke Jakarta-Bandung und der China-Thailand-Eisenbahn sind im Gange.

Die Landeschefs der BRICS-Staaten (v.l.n.r): Xi Jinping (China), Wladimir Putin (Russland), Jair Bolsonaro (Brasilien, bis Oktober 2022), Narendra Modi (Indien) und Cyril Ramaphosa (Südafrika)
(Foto: Alan Santos/PR / Wikimedia Commons; Lizenz: CC-BY 2.0)

Mackinder auf Crack

Überall auf dem extrem glühenden globalen Schachbrett werden die internationalen Beziehungen völlig neu geordnet.

China – und die wichtigsten eurasischen Akteure der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), der BRICS+ und der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) – schlagen alle eine friedliche Entwicklung vor.

Im Kontrast dazu verhängt der Hegemon eine Lawine von Sanktionen – nicht zufällig sind die drei Hauptadressaten die eurasischen Mächte Russland, Iran und China; tödliche Stellvertreterkriege (Ukraine) und alle möglichen Formen des hybriden Krieges, um das Ende seiner Vorherrschaft zu verhindern, die gerade einmal siebeneinhalb Jahrzehnte andauerte, was aus historischer Sicht ein Klacks ist.

Die derzeitige Dysfunktion – physisch, politisch, finanziell, kognitiv – erreicht einen Höhepunkt. Während Europa in den Abgrund weitgehend selbstverschuldeter Verwüstung und Finsternis stürzt – ein Neo-Mittelalter im Wachzustand – plündert ein innerlich zerrüttetes Imperium sogar seine wohlhabenden „Verbündeten“.

Es ist, als ob wir alle Zeugen eines Mackinder-auf-Crack-Szenarios werden.

Halford Mackinder war der britische Geograph, der die „Heartland-Theorie“ der Geopolitik entwickelte, die die Außenpolitik der USA während des Kalten Krieges stark beeinflusste:

„Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt“.

Russland erstreckt sich über 11 Zeitzonen und beherbergt ein Drittel der natürlichen Ressourcen der Welt. Eine natürliche Symbiose zwischen Europa und Russland ist wie eine Tatsache des Lebens. Aber die EU-Oligarchie hat es vermurkst.

Kein Wunder, dass die chinesische Führung den Prozess mit Schrecken betrachtet, denn einer der wesentlichen Punkte der BRI ist die Erleichterung eines nahtlosen Handels zwischen China und Europa. Da Russlands Verbindungskorridor durch Sanktionen blockiert ist, wird China Korridore über Westasien bevorzugen.

In der Zwischenzeit vollzieht Russland seinen Schwenk gen Osten. Die enormen Ressourcen Russlands in Verbindung mit den Produktionskapazitäten Chinas und Ostasiens insgesamt lassen eine Handels- und Konnektivitätssphäre entstehen, die sogar über die BRI hinausgeht. Das ist der Kern des russischen Konzepts der „Größeren Eurasischen Partnerschaft“.

In einer weiteren unvorhersehbaren Wendung der Geschichte könnte Mackinder vor einem Jahrhundert im Wesentlichen Recht gehabt haben, dass diejenigen, die das Herzland/die Weltinsel kontrollieren, auch die Welt kontrollieren. Es sieht nicht so aus, als würde der Hegemon die Kontrolle ausüben, und noch viel weniger seine europäischen Vasallen/Sklaven.

Wenn die Chinesen sagen, sie seien gegen Blöcke, dann sind Eurasien und der Westen de facto zwei Blöcke. Obwohl sie sich formal noch nicht im Krieg miteinander befinden, stecken sie in Wirklichkeit schon knietief im Gebiet des Hybriden Krieges.

Russland und der Iran stehen an vorderster Front – sowohl militärisch als auch in Bezug auf die Absorption ununterbrochenen Drucks. Andere wichtige Akteure des Globalen Südens halten sich bedeckt oder unterstützen in noch stillerer Form China und die anderen, um die multipolare Welt wirtschaftlich durchzusetzen.

Da China eine friedliche Modernisierung vorschlägt, ist die versteckte Botschaft des Arbeitsberichts noch deutlicher. Der Globale Süden steht vor einer schweren Entscheidung: Entweder Souveränität – verkörpert in einer multipolaren Welt, die sich friedlich modernisiert – oder völliges Vasallentum.

Quellen:

[1] Strategic Culture Foundation, „China: Xi Gets Ready for the Final Countdown“ von Pepe Escobar am 18. Oktober 2022 <https://strategic-culture.org/news/2022/10/18/china-xi-gets-ready-for-the-final-countdown/>
[2] „Hold High the Great Banner of Socialism with Chinese Characteristics and Strive in Unity to Build a Modern Socialist Country in All Respects – Report to the 20th National Congress of the Communist Party of China“ von XiJinping am 16. Oktober 2022 (PDF) <https://drive.google.com/file/d/1tGegLW_OEtEJXxJbtnDndJECKA7OASYh/view?usp=sharing>
[3] Caixin Global, „The Sweeping Impact of New U.S. Semiconductor Restrictions“ von Du Zhihang, Liu Peilin, Zhai Shaohui, Tan Min, Qu Yunxu, Zhang Erchi und Denise Jia am 17.10.2022 <https://www.caixinglobal.com/2022-10-17/cover-story-the-sweeping-impact-of-new-us-semiconductor-restrictions-101952436.html>
[4] Global Times, „China’s wisdom to drive global modernization“ am 19.10.2022 <https://www.globaltimes.cn/page/202210/1277437.shtml>

„Friedliche Modernisierung“:

Chinas Angebot an den globalen Süden

Xi Jinping hat dem globalen Süden kürzlich eine starke Alternative zu Jahrzehnten an westlichen Diktaten, Krieg und wirtschaftlicher Nötigung angeboten. „Friedliche Modernisierung“ wird für die ums Überleben kämpfenden Staaten der Welt Souveränität, Wirtschaft und Unabhängigkeit herstellen.

Von Published On: 19. Dezember 2022Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 20.10.2022 auf www.thecradle.co unter der URL <https://thecradle.co/Article/columns/17132> veröffentlicht. Lizenz: © Pepe Escobar, The Cradle

Symbolfoto. China reicht seine Hand zur Zusammenarbeit. Gemeinfrei

Der Arbeitsbericht von Präsident Xi Jinping zu Beginn des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) am vergangenen Sonntag in Peking enthielt nicht nur eine Blaupause [1] für die Entwicklung des Zivilisationsstaates, sondern für den gesamten Globalen Süden.

Xis eindreiviertelstündige Rede war eine kürzere Version des vollständigen Arbeitsberichts – siehe beigefügte PDF-Datei [2] –, in der eine Reihe gesellschaftspolitischer Themen viel ausführlicher behandelt werden.

Dies war der Höhepunkt einer komplexen kollektiven Anstrengung, die sich über Monate hinzog. Als er den endgültigen Text erhielt, kommentierte, überarbeitete und redigierte Xi ihn.

Kurz gesagt hat der Masterplan der KPCh zwei Ziele: die „sozialistische Modernisierung“ von 2020 bis 2035 abzuschließen und China – durch friedliche Modernisierung – als modernes sozialistisches Land aufzubauen, das „wohlhabend, stark, demokratisch, kulturell fortschrittlich und harmonisch“ ist, und zwar bis zum Jahr 2049, dem hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China (VRC).

Das zentrale Konzept des Arbeitsberichts ist die friedliche Modernisierung – und wie sie erreicht werden kann. Wie Xi zusammenfasste, „enthält es Elemente, die den Modernisierungsprozessen aller Länder gemeinsam sind, aber es ist mehr durch Merkmale gekennzeichnet, die für den chinesischen Kontext einzigartig sind.“

Ganz im Sinne der konfuzianischen chinesischen Kultur stellt die „friedliche Modernisierung“ ein komplettes theoretisches System dar. Natürlich gibt es mehrere geoökonomische Pfade, die zur Modernisierung führen – je nach den nationalen Bedingungen eines jeden Landes. Aber für den Globalen Süden als Ganzes ist es wichtig, dass das chinesische Beispiel mit dem westlichen TINA-Monopol („Es gibt keine Alternative“) für die Modernisierungspraxis und -theorie vollständig bricht.

Ganz zu schweigen davon, dass es mit der ideologischen Zwangsjacke bricht, die dem globalen Süden von der selbst definierten „goldenen Milliarde“ auferlegt wurde (von denen die wirklich „Goldenen“ kaum 10 Millionen erreichen). Was die chinesische Führung damit sagen will, ist, dass das iranische, das ugandische oder das bolivianische Modell genauso gültig sind wie das chinesische Experiment: Worauf es ankommt, ist die Beschreitung eines unabhängigen Weges der Entwicklung.

Neue Seidenstraße – „Belt Road Initiative“
(Quelle: Wikimedia Commons, Abwandlung von: Hong Kong Qatar Locator.png von Xxjkingdom
durch „Tart“; Lizenz: CC-BY-SA 3.0)

Wie technologische Unabhängigkeit entwickelt werden soll

Die jüngste Geschichte zeigt, wie jede Nation, die versucht, sich außerhalb des Washingtoner Konsenses zu entwickeln, auf unzähligen Ebenen des hybriden Krieges terrorisiert wird. Diese Nation wird zum Ziel von farbigen Revolutionen, Regimewechseln, illegalen Sanktionen, Wirtschaftsblockaden, NATO-Sabotage oder regelrechten Bombenangriffen und Invasionen.

Was China vorschlägt, findet im gesamten Globalen Süden Anklang, da Peking der größte Handelspartner von nicht weniger als 140 Nationen ist, die Konzepte wie eine qualitativ hochwertige wirtschaftliche Entwicklung und Eigenständigkeit in Wissenschaft und Technologie leicht nachvollziehen können.

Der Bericht unterstreicht die kategorische Notwendigkeit für China von heute an: die technologische Eigenständigkeit zu beschleunigen, da der Hegemon nichts unversucht lässt, um die chinesische Technologie entgleisen zu lassen, insbesondere bei der Herstellung von Halbleitern [3].

Mit einem Sanktionspaket, das wirkt, als sei es der Hölle entsprungen, setzt der Hegemon darauf, Chinas Bestreben seine technologische Unabhängigkeit bei Halbleitern und den Anlagen zu deren Herstellung zu beschleunigen auszubremsen, .

China wird also eine nationale Anstrengung zur Halbleiterproduktion unternehmen müssen. Diese Notwendigkeit steht im Mittelpunkt dessen, was im Arbeitsbericht als neue Entwicklungsstrategie beschrieben wird, die durch die enorme Herausforderung angespornt wird, eine technologische Autarkie zu erreichen. Im Wesentlichen wird China den öffentlichen Sektor der Wirtschaft stärken, wobei staatliche Unternehmen den Kern für ein nationales System zur Entwicklung technischer Innovationen bilden.

„Kleine Festungen mit hohen Mauern“

In Bezug auf die Außenpolitik ist der Arbeitsbericht sehr eindeutig: China ist gegen jede Form des Unilateralismus, sowie gegen Blöcke und exklusive Gruppen, die sich gegen bestimmte Länder richten. Peking bezeichnet diese Blöcke, wie die NATO und AUKUS, als „kleine Festungen mit hohen Mauern“.

Diese Sichtweise ist der Betonung eines weiteren kategorischen Imperativs durch die KPCh eingeschrieben: die Reform des bestehenden Systems der Global Governance, das für den globalen Süden extrem ungerecht ist. Es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, dass China als Zivilisationsstaat sich gleichzeitig als sozialistisches Land und als weltweit führende Entwicklungsnation sieht.

Das Problem ist wieder einmal Pekings Glaube an den „Schutz des internationalen Systems mit den Vereinten Nationen als Kernstück“. Die meisten Akteure des Globalen Südens wissen, wie der Hegemon die UNO – und ihren Abstimmungsmechanismus – allen Arten von unermüdlichem Druck aussetzt.

Den wenigen Westlern, die wirklich ein oder zwei Dinge über China wissen [4], Aufmerksamkeit zu schenken ist erhellend.

Martin Jacques, bis vor kurzem Senior Fellow am „Department of Politics and International Studies“ der Universität Cambridge und Autor des wohl besten englischsprachigen Buches über die Entwicklung Chinas, ist davon beeindruckt, wie die Modernisierung Chinas in einem vom Westen dominierten Umfeld stattfand:

„Das war die Schlüsselrolle der KPCh. Es musste geplant werden. Wir können sehen, wie außerordentlich erfolgreich es war.“

Die Implikation ist, dass Peking durch das Aufbrechen des westlich orientierten TINA-Modells das Rüstzeug erworben hat, um die Länder des Globalen Südens bei ihren eigenen Modellen zu unterstützen.

Jeffrey Sachs, Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Universität von Columbia, ist sogar noch optimistischer:

„China wird ein Innovationsführer werden. Ich hoffe und rechne fest damit, dass China eine führende Rolle bei der Innovation im Bereich der Nachhaltigkeit spielen wird“.

Dies steht im Gegensatz zu einem „dysfunktionalen“ amerikanischen Modell, das sogar in der Wirtschaft und bei Investitionen protektionistisch wird.

Michail Deljagin, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaftspolitik der russischen Staatsduma, weist auf einen entscheidenden Punkt hin, der von wichtigen Akteuren des Globalen Südens sicherlich zur Kenntnis genommen wurde: Die KPCh „war in der Lage, den Marxismus des 19. Jahrhunderts und ihre Erfahrungen aus dem 20. Jahrhundert in kreativer Weise zu adaptieren, mit neuen Anforderungen zu verbinden und ewige Werte mit neuen Methoden umzusetzen. Dies ist eine sehr wichtige und nützliche Lektion für uns“.

Und das ist der Mehrwert eines Modells, das sich am nationalen Interesse orientiert und nicht an der exklusivistischen Politik des globalen Kapitals.

BRI oder Pleite

Im gesamten Arbeitsbericht wird die Bedeutung des übergreifenden Konzepts der chinesischen Außenpolitik hervorgehoben: die neue Seidenstraße [Belt and Road Initiative, BRI, Anm. d. Redaktion] und ihre Handels-/Verbindungskorridore durch Eurasien und Afrika.

Es war Sache des Sprechers des chinesischen Außenministeriums, Wang Wenbin, klarzustellen, wohin die BRI führt:

„Die BRI überwindet die veraltete Mentalität geopolitischer Spiele und schafft ein neues Modell der internationalen Zusammenarbeit. Es handelt sich nicht um eine exklusive Gruppe, die andere Teilnehmer ausschließt, sondern um eine offene und inklusive Kooperationsplattform. Es ist nicht nur Chinas Alleingang, sondern eine Sinfonie, die von allen teilnehmenden Ländern aufgeführt wird.“

Die BRI ist in das chinesische Konzept der „Öffnung“ integriert. Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass Xi die BRI vor neun Jahren ins Leben gerufen hat – in Zentralasien (Astana) und dann in Südostasien (Jakarta). Peking hat aus seinen Fehlern gelernt und stimmt die BRI in Absprache mit seinen Partnern – von Pakistan, Sri Lanka und Malaysia bis hin zu mehreren afrikanischen Staaten – immer wieder ab.

Es ist kein Wunder, dass Chinas Handel mit den an der BRI beteiligten Ländern im August dieses Jahres ein Volumen von 12 Billionen US-Dollar erreichte und die nichtfinanziellen Direktinvestitionen in diesen Ländern 140 Milliarden US-Dollar überstiegen.

Wang weist zu Recht darauf hin, dass infolge der BRI-Infrastrukturinvestitionen „Ostafrika und Kambodscha Autobahnen haben, Kasachstan [Trocken-]Häfen für den Export hat, die Malediven ihre erste Brücke über das Meer haben und Laos von einem Binnenland zu einem verbundenen Land geworden ist“.

Trotz großer Herausforderungen – von Null-Covid über verschiedene Sanktionen bis hin zum Zusammenbruch von Lieferketten – steigt die Zahl der Expressfrachtzüge zwischen China und der EU weiter an; die China-Laos-Eisenbahn und die Peljesac-Brücke in Kroatien sind in Betrieb und die Arbeiten an der Hochgeschwindigkeitsstrecke Jakarta-Bandung und der China-Thailand-Eisenbahn sind im Gange.

Die Landeschefs der BRICS-Staaten (v.l.n.r): Xi Jinping (China), Wladimir Putin (Russland), Jair Bolsonaro (Brasilien, bis Oktober 2022), Narendra Modi (Indien) und Cyril Ramaphosa (Südafrika)
(Foto: Alan Santos/PR / Wikimedia Commons; Lizenz: CC-BY 2.0)

Mackinder auf Crack

Überall auf dem extrem glühenden globalen Schachbrett werden die internationalen Beziehungen völlig neu geordnet.

China – und die wichtigsten eurasischen Akteure der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), der BRICS+ und der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) – schlagen alle eine friedliche Entwicklung vor.

Im Kontrast dazu verhängt der Hegemon eine Lawine von Sanktionen – nicht zufällig sind die drei Hauptadressaten die eurasischen Mächte Russland, Iran und China; tödliche Stellvertreterkriege (Ukraine) und alle möglichen Formen des hybriden Krieges, um das Ende seiner Vorherrschaft zu verhindern, die gerade einmal siebeneinhalb Jahrzehnte andauerte, was aus historischer Sicht ein Klacks ist.

Die derzeitige Dysfunktion – physisch, politisch, finanziell, kognitiv – erreicht einen Höhepunkt. Während Europa in den Abgrund weitgehend selbstverschuldeter Verwüstung und Finsternis stürzt – ein Neo-Mittelalter im Wachzustand – plündert ein innerlich zerrüttetes Imperium sogar seine wohlhabenden „Verbündeten“.

Es ist, als ob wir alle Zeugen eines Mackinder-auf-Crack-Szenarios werden.

Halford Mackinder war der britische Geograph, der die „Heartland-Theorie“ der Geopolitik entwickelte, die die Außenpolitik der USA während des Kalten Krieges stark beeinflusste:

„Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt“.

Russland erstreckt sich über 11 Zeitzonen und beherbergt ein Drittel der natürlichen Ressourcen der Welt. Eine natürliche Symbiose zwischen Europa und Russland ist wie eine Tatsache des Lebens. Aber die EU-Oligarchie hat es vermurkst.

Kein Wunder, dass die chinesische Führung den Prozess mit Schrecken betrachtet, denn einer der wesentlichen Punkte der BRI ist die Erleichterung eines nahtlosen Handels zwischen China und Europa. Da Russlands Verbindungskorridor durch Sanktionen blockiert ist, wird China Korridore über Westasien bevorzugen.

In der Zwischenzeit vollzieht Russland seinen Schwenk gen Osten. Die enormen Ressourcen Russlands in Verbindung mit den Produktionskapazitäten Chinas und Ostasiens insgesamt lassen eine Handels- und Konnektivitätssphäre entstehen, die sogar über die BRI hinausgeht. Das ist der Kern des russischen Konzepts der „Größeren Eurasischen Partnerschaft“.

In einer weiteren unvorhersehbaren Wendung der Geschichte könnte Mackinder vor einem Jahrhundert im Wesentlichen Recht gehabt haben, dass diejenigen, die das Herzland/die Weltinsel kontrollieren, auch die Welt kontrollieren. Es sieht nicht so aus, als würde der Hegemon die Kontrolle ausüben, und noch viel weniger seine europäischen Vasallen/Sklaven.

Wenn die Chinesen sagen, sie seien gegen Blöcke, dann sind Eurasien und der Westen de facto zwei Blöcke. Obwohl sie sich formal noch nicht im Krieg miteinander befinden, stecken sie in Wirklichkeit schon knietief im Gebiet des Hybriden Krieges.

Russland und der Iran stehen an vorderster Front – sowohl militärisch als auch in Bezug auf die Absorption ununterbrochenen Drucks. Andere wichtige Akteure des Globalen Südens halten sich bedeckt oder unterstützen in noch stillerer Form China und die anderen, um die multipolare Welt wirtschaftlich durchzusetzen.

Da China eine friedliche Modernisierung vorschlägt, ist die versteckte Botschaft des Arbeitsberichts noch deutlicher. Der Globale Süden steht vor einer schweren Entscheidung: Entweder Souveränität – verkörpert in einer multipolaren Welt, die sich friedlich modernisiert – oder völliges Vasallentum.

Quellen:

[1] Strategic Culture Foundation, „China: Xi Gets Ready for the Final Countdown“ von Pepe Escobar am 18. Oktober 2022 <https://strategic-culture.org/news/2022/10/18/china-xi-gets-ready-for-the-final-countdown/>
[2] „Hold High the Great Banner of Socialism with Chinese Characteristics and Strive in Unity to Build a Modern Socialist Country in All Respects – Report to the 20th National Congress of the Communist Party of China“ von XiJinping am 16. Oktober 2022 (PDF) <https://drive.google.com/file/d/1tGegLW_OEtEJXxJbtnDndJECKA7OASYh/view?usp=sharing>
[3] Caixin Global, „The Sweeping Impact of New U.S. Semiconductor Restrictions“ von Du Zhihang, Liu Peilin, Zhai Shaohui, Tan Min, Qu Yunxu, Zhang Erchi und Denise Jia am 17.10.2022 <https://www.caixinglobal.com/2022-10-17/cover-story-the-sweeping-impact-of-new-us-semiconductor-restrictions-101952436.html>
[4] Global Times, „China’s wisdom to drive global modernization“ am 19.10.2022 <https://www.globaltimes.cn/page/202210/1277437.shtml>