Ein aufsehenerregender Appell zum Ukraine-Konflikt:

„Raus aus der Eskalationsspirale!“

Anfang Dezember 2021 veröffentlichte eine Gruppe ehemaliger Generäle, Diplomaten und Friedensforscher einen realpolitischen Appell zur Deeskalation im Ukraine-Konflikt. Gerade weil die meisten Autoren sich als Transatlantiker verstehen, hat er das Potential, wirklich etwas in Bewegung zu bringen. Endlich!

Von Published On: 5. Februar 2022Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 17.12.2021 auf Ostexperte.de unter der URL <https://ostexperte.de/raus-aus-der-eskalationsspirale/> veröffentlicht. Lizenz: Leo Ensel, Ostexperte.de, CC-BY-NC-ND 4.0

Vladimir Putin im Gespräch mit Joseph Biden bei einer Videokonferenz am 07.12.2021. (Bildquelle: kremlin.ru)

Und es wurde auch allerhöchste Zeit. Nachdem sich in den letzten Wochen das militärische, politische und mediale Gerangel um die Ukraine brandgefährlich zugespitzt hatte und das verbale Säbelrasseln täglich schriller wurde, meldete sich vor anderthalb Wochen (im Dez. 2021, Anm.d.Red.) unerwartet eine Stimme der Vernunft zu Wort. Und sie kommt nicht aus dem Lager der ‚üblichen Verdächtigen‘.

Am 5. Dezember veröffentlichte eine illustre Gruppe überwiegend konservativer ehemaliger deutscher Generäle, Botschafter und Friedensforscher einen Appell [1] mit dem unzweideutigen Titel „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ [2]. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Ulrich Brandenburg (ehemaliger Botschafter bei der NATO und in Russland), Klaus Naumann (Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr) und Michael Brzoska (ehemaliger Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik).

Der in militärischer Kürze gehaltene Text kommt sofort auf den Punkt: Er konstatiert nüchtern, die Welt drohe in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rücke. Nun müsse umgehend alles dafür getan werden, die Eskalationsspirale zu durchbrechen.

Die prominenten Autoren – die meisten von ihnen haben das Pensionsalter längst überschritten – lassen keinen Zweifel daran, dass sie keine ‚Russland-‘, gar ,Putin-Versteher‘ sind. Im Gegenteil: Sie kritisieren deutlich die (angeblichen oder tatsächlichen) „Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten in Übungen, insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte“, (was sie nicht näher ausführen). Sie wollen Deutschland nicht aus der NATO führen oder diese gar abschaffen. Sie wollen aber auch nicht zum hundertsten Male lediglich lautstark die westlichen Werte bemühen oder die üblichen Narrative bedienen.

Kurz: Die Ex-Generäle und Diplomaten a.D., die ihre einschlägigen Karrieren überwiegend im Kalten Krieg absolvierten und daher die akute Gefahr sehr genau einschätzen können, schwingen das scharfe Schwert der immanenten Kritik! Ihre Vorschläge zur ‚Feuerwehr‘, d.h. zur unmittelbaren Schadensbegrenzung und schrittweisen -verringerung, stehen auf dem festen Boden der Realpolitik. Was sie für die heutigen Kalten Krieger in Politik und Medien umso brisanter macht.

Schritte aus der Eskalationsspirale

Das Papier hebt sich wohltuend von der üblichen Medienhysterie ab, indem es völlig selbstverständlich und ohne dies groß zu betonen auch die russischen Sicherheitsbedürfnisse als gleichberechtigt anerkennt, statt diese, wie bislang üblich, als „quantité négligeable“ reflexartig vom Tisch zu wischen. Ebenso nüchtern lassen die Autoren zwischen den Zeilen durchblicken, dass sie die westliche Sanktionspolitik wie die „einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik“ für gescheitert halten. Ein möglicher Ausschluss aus dem SWIFT-System, den Biden kürzlich wortgewaltig als Sanktionssuperwaffe androhte, könnte ihrer Meinung nach gar die Sicherheitslage Europas destabilisieren – und zwar weil er die russische Wirtschaft gefährden würde.

Man sieht, die Autoren sind – heute eine immer seltenere Eigenschaft – in der Lage, Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich auch mal in die Schuhe ihres jeweiligen Gegenübers zu stellen. Sie denken vernetzt und nicht in simplen Freund-Feind-Polarisierungen. Als Profis wissen sie, dass Gespräche immer und namentlich in Krisenzeiten eine „Conditio sine qua non“ sind, die niemals an Bedingungen geknüpft werden darf. Und ihre Vorschläge zum Ausstieg aus der Eskalationsspirale wären tatsächlich geeignet, das Blatt zu wenden – vorausgesetzt, sie würden umgesetzt!

Der Westen, so schreiben sie, dürfe der Eskalation nicht tatenlos zusehen oder diese gar stillschweigend billigen. Er solle vielmehr „aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden.“ Im Einzelnen schlagen sie vor:

· Einberufung einer hochrangigen Konferenz mit dem Ziel: Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 sowie der Budapester Vereinbarung von 1994 – und zwar ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten.

· Solange diese Konferenz tage, solle beiderseits auf jede militärische Eskalation verzichtet und an der Grenze zwischen der Russischen Föderation und ihren westlichen Nachbarn keine weiteren Truppen und Infrastruktur stationiert werden. Zugleich plädieren die Autoren für die vollständige wechselseitige Transparenz bei Militärmanövern.

· Der NATO-Russland-Dialog solle ohne Konditionen auf politischer und militärischer Ebene wiederbelebt werden. Dazu zähle auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle, denn mittlerweile seien sämtliche wesentlichen Verträge für die europäische Sicherheit gekündigt. Umso wichtiger seien alle Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz und zur Förderung des Vertrauens.

· Schließlich solle „trotz der derzeitigen Lage“ über weitergehende wirtschaftliche Kooperationsangebote nachgedacht werden, als Anreiz für Russland, zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen zurückzukehren.

Es sollten Win-Win-Situationen geschaffen werden, um die derzeitige Blockade zu überwinden. – Und nun kommt der entscheidende Satz: „Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten. Mit Rücksicht darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in NATO, EU und CSTO (Collective Security Treaty Organization) für die Dauer der Konferenz ein Freeze vereinbart werden.“ Gemeint sind hier natürlich vor allem Georgien und die Ukraine.

Es geht den Autoren also zusammengefasst darum, die Logik der Eskalation zu durchbrechen, die aktuelle Situation zu entschärfen und einen Freiraum zu schaffen, in dem Kontakte wieder geknüpft und, wenn es positiv laufen sollte, das Vertrauen Schritt für Schritt rekonstruiert werden könnte. Im optimalen Fall könnte am Ende eine neue europäische Sicherheitsstruktur stehen, die das zentrale Prinzip der Charta von Paris wieder aufnähme: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“. [3]

Eine breite Diskussion ist nun fällig!

Beim Lesen dieses bemerkenswerten Textes atmet man förmlich auf: Endlich ein realpolitischer Ansatz für eine intelligente Politik, statt der ewigen kontraproduktiven „Werte-Gebetsmühle“, die jetzt auch die neue deutsche Außenministerin ebenso forsch wie unreflektiert bedient! Und das von Persönlichkeiten, die über einen gewissen Einfluss verfügen. Der Appell kommt exakt zum richtigen Zeitpunkt, in einem Augenblick, wo möglicherweise auch das Verhältnis zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten etwas in Bewegung gekommen sein könnte [4].

Bislang waren in den vergangenen Jahren die Themen „Frieden und Abrüstung“ in Deutschland eher von den Rändern besetzt. Dieser Text aber, und das macht seine Brisanz aus, hat das Potential, breitere Bevölkerungskreise zu erreichen. Wenn er kommuniziert wird!

Das Papier und seine Grundgedanken sollten daher schnellstmöglich als Start für eine breite Lösungsdiskussion in der deutschen, westlichen und russischen Öffentlichkeit – besser noch – als Ausgangspunkt einer längst überfälligen zivilgesellschaftlichen Initiative für militärische Deeskalation genutzt werden. Weitergehende Konzepte und Lösungen – Vorschläge dazu gibt es seit Langem [5] – können später in einer entspannteren Atmosphäre entwickelt und angegangen werden, wenn die akute Gefahr gebannt ist. Nun sind also nicht zuletzt die Zivilgesellschaften gefragt. Selbst die besten Ideen verbreiten sich bekanntlich nicht von alleine!

Ulrich Brandenburg (Deutscher Botschafter in Russland) während einer Pressekonferenz in Moskau am 14. September 2010 (Quelle: A.Savin, Wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Ulrich Brandenburg (Deutscher Botschafter in Russland) während einer Pressekonferenz in Moskau am 14. September 2010 (Quelle: A.Savin, Wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Michael Brzoska, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg am 9. September 2013 (Quelle: Isis Martins/Heinrich-Böll-Stiftung, Wikipedia.org, CC BY-SA 2.0)

 

Veröffentlicher des Appells vom 5.12.2021 „Get out of the escalation spiral! For a new beginning in the relation with Russia“:

Ulrich Brandenburg, Botschafter a.D., Deutscher Botschafter bei der NATO (2007-2010) und in Russland (2010-2014)
Prof. Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2006-2016)
Helmut Ganser, Brigadegeneral a.D., Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel (2004-2008)
Prof. Dr. Jörn Happel, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
Hans-Dieter Heumann, Botschafter a.D., Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2011-2015)
Hellmut Hoffmann, Botschafter a.D., Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Genfer Abrüstungskonferenz (2009-2013)
Heiner Horsten, Botschafter a.D., Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2008-2012)
Hans Hübner, Brigadegeneral a.D., Kommandeur des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (1999-2003)
Prof. Dr. Heinz-Gerhard Justenhoven, Direktor des Instituts für Theologie und Frieden
Stephan Klaus, Sprecher der Jungen GSP
Dr. Ulf von Krause, Generalleutnant a.D., Befehlshaber des Streitkräfte-Unterstützungskommandos der Bundeswehr (2001-2005)
Rüdiger Lüdeking, Botschafter a.D., Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2012-2015)
Prof. Dr. Gerhard Mangott, Universität Innsbruck
Klaus Naumann, General a.D., Generalinspekteur der Bundeswehr (1991-1996) und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (1996-1999)
Prof. em. Dr. August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
Roger Näbig, Blog Konflikte und Sicherheit
Prof. Dr. Götz Neuneck, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019)
Jessica Nies, Sprecherin der Jungen GSP
Harry Preetz, Oberst a.D., Landesvorsitzender Bereich I der Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Wolfgang Richter, Oberst a.D., Stiftung Wissenschaft und Politik, Leitender Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung (2005-2009)
Richard Rohde, Oberst a.D., Sektionsleiter Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Dr. Johannes Seidt, Botschafter a.D., Chefinspekteur des Auswärtigen Amts 2014 bis 2017
Reiner Schwalb, Brigadegeneral a.D., Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft Moskau (2011-2018)
Prof. Dr. Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
Armin Staigis, Brigadegeneral a.D., Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2013-2015)
Prof. Dr. Johannes Varwick, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Dr. Wolfgang Zellner, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019).

Quellen:

[1] Kein Krieg wegen Ukraine!, Artikel von Johannes Varwick am 07.12.2021 auf www.Karenina.de unter der URL: <https://www.karenina.de/news/kein-krieg-wegen-ukraine/>
[2] Get Out Of The Escalation Spiral! For A New Beginning In The Relation With Russia (December 5th, 2021) – Appeal From Former German Generals And Ambassadors, Artikel von Ralf Ostner am 07.12.2021 auf www.Global-Review.info unter der URL: <https://www.global-review.info/2021/12/06/get-out-of-the-escalation-spiral-for-a-new-beginning-in-the-relation-with-russia-december-5th-2021-appeal-from-former-german-generals-and-ambassadors/>
[3] Charta von Paris für ein neues Europa, veröffentlicht im November 1990, nachzulesen auf www.Bundestag.de unter der URL: <https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf>
[4] USA und Russland: Neuaufteilung der Welt?, Artikel von Florian Rötzer am 13.12.2021 auf www.Heise.de unter der URL: <https://www.heise.de/tp/features/USA-und-Russland-Neuaufteilung-der-Welt-6293086.html>
[5] Neue Entspannungspolitik unter Joe Biden? Die Chancen sind da – Der Wille auch?, Artikel von Leo Ensel am 04.12.2021 auf www.Ostexperte.de unter der URL: <https://ostexperte.de/neue-entspannungspolitik-unter-joe-biden/>

Ein aufsehenerregender Appell zum Ukraine-Konflikt:

„Raus aus der Eskalationsspirale!“

Anfang Dezember 2021 veröffentlichte eine Gruppe ehemaliger Generäle, Diplomaten und Friedensforscher einen realpolitischen Appell zur Deeskalation im Ukraine-Konflikt. Gerade weil die meisten Autoren sich als Transatlantiker verstehen, hat er das Potential, wirklich etwas in Bewegung zu bringen. Endlich!

Von Published On: 5. Februar 2022Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 17.12.2021 auf Ostexperte.de unter der URL <https://ostexperte.de/raus-aus-der-eskalationsspirale/> veröffentlicht. Lizenz: Leo Ensel, Ostexperte.de, CC-BY-NC-ND 4.0

Vladimir Putin im Gespräch mit Joseph Biden bei einer Videokonferenz am 07.12.2021. (Bildquelle: kremlin.ru)

Und es wurde auch allerhöchste Zeit. Nachdem sich in den letzten Wochen das militärische, politische und mediale Gerangel um die Ukraine brandgefährlich zugespitzt hatte und das verbale Säbelrasseln täglich schriller wurde, meldete sich vor anderthalb Wochen (im Dez. 2021, Anm.d.Red.) unerwartet eine Stimme der Vernunft zu Wort. Und sie kommt nicht aus dem Lager der ‚üblichen Verdächtigen‘.

Am 5. Dezember veröffentlichte eine illustre Gruppe überwiegend konservativer ehemaliger deutscher Generäle, Botschafter und Friedensforscher einen Appell [1] mit dem unzweideutigen Titel „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ [2]. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Ulrich Brandenburg (ehemaliger Botschafter bei der NATO und in Russland), Klaus Naumann (Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr) und Michael Brzoska (ehemaliger Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik).

Der in militärischer Kürze gehaltene Text kommt sofort auf den Punkt: Er konstatiert nüchtern, die Welt drohe in eine Lage zu geraten, in der ein Krieg in den Bereich des Möglichen rücke. Nun müsse umgehend alles dafür getan werden, die Eskalationsspirale zu durchbrechen.

Die prominenten Autoren – die meisten von ihnen haben das Pensionsalter längst überschritten – lassen keinen Zweifel daran, dass sie keine ‚Russland-‘, gar ,Putin-Versteher‘ sind. Im Gegenteil: Sie kritisieren deutlich die (angeblichen oder tatsächlichen) „Drohgebärden Russlands gegenüber der Ukraine und das Imponiergehabe gegenüber NATO-Staaten in Übungen, insbesondere durch Aktivitäten der nuklearen Kräfte“, (was sie nicht näher ausführen). Sie wollen Deutschland nicht aus der NATO führen oder diese gar abschaffen. Sie wollen aber auch nicht zum hundertsten Male lediglich lautstark die westlichen Werte bemühen oder die üblichen Narrative bedienen.

Kurz: Die Ex-Generäle und Diplomaten a.D., die ihre einschlägigen Karrieren überwiegend im Kalten Krieg absolvierten und daher die akute Gefahr sehr genau einschätzen können, schwingen das scharfe Schwert der immanenten Kritik! Ihre Vorschläge zur ‚Feuerwehr‘, d.h. zur unmittelbaren Schadensbegrenzung und schrittweisen -verringerung, stehen auf dem festen Boden der Realpolitik. Was sie für die heutigen Kalten Krieger in Politik und Medien umso brisanter macht.

Schritte aus der Eskalationsspirale

Das Papier hebt sich wohltuend von der üblichen Medienhysterie ab, indem es völlig selbstverständlich und ohne dies groß zu betonen auch die russischen Sicherheitsbedürfnisse als gleichberechtigt anerkennt, statt diese, wie bislang üblich, als „quantité négligeable“ reflexartig vom Tisch zu wischen. Ebenso nüchtern lassen die Autoren zwischen den Zeilen durchblicken, dass sie die westliche Sanktionspolitik wie die „einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik“ für gescheitert halten. Ein möglicher Ausschluss aus dem SWIFT-System, den Biden kürzlich wortgewaltig als Sanktionssuperwaffe androhte, könnte ihrer Meinung nach gar die Sicherheitslage Europas destabilisieren – und zwar weil er die russische Wirtschaft gefährden würde.

Man sieht, die Autoren sind – heute eine immer seltenere Eigenschaft – in der Lage, Perspektivenwechsel vorzunehmen und sich auch mal in die Schuhe ihres jeweiligen Gegenübers zu stellen. Sie denken vernetzt und nicht in simplen Freund-Feind-Polarisierungen. Als Profis wissen sie, dass Gespräche immer und namentlich in Krisenzeiten eine „Conditio sine qua non“ sind, die niemals an Bedingungen geknüpft werden darf. Und ihre Vorschläge zum Ausstieg aus der Eskalationsspirale wären tatsächlich geeignet, das Blatt zu wenden – vorausgesetzt, sie würden umgesetzt!

Der Westen, so schreiben sie, dürfe der Eskalation nicht tatenlos zusehen oder diese gar stillschweigend billigen. Er solle vielmehr „aktiv auf Russland zugehen und auf eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen werden.“ Im Einzelnen schlagen sie vor:

· Einberufung einer hochrangigen Konferenz mit dem Ziel: Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf Grundlage der fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990 sowie der Budapester Vereinbarung von 1994 – und zwar ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten.

· Solange diese Konferenz tage, solle beiderseits auf jede militärische Eskalation verzichtet und an der Grenze zwischen der Russischen Föderation und ihren westlichen Nachbarn keine weiteren Truppen und Infrastruktur stationiert werden. Zugleich plädieren die Autoren für die vollständige wechselseitige Transparenz bei Militärmanövern.

· Der NATO-Russland-Dialog solle ohne Konditionen auf politischer und militärischer Ebene wiederbelebt werden. Dazu zähle auch ein Neuansatz für die europäische Rüstungskontrolle, denn mittlerweile seien sämtliche wesentlichen Verträge für die europäische Sicherheit gekündigt. Umso wichtiger seien alle Maßnahmen zur Schaffung von mehr Transparenz und zur Förderung des Vertrauens.

· Schließlich solle „trotz der derzeitigen Lage“ über weitergehende wirtschaftliche Kooperationsangebote nachgedacht werden, als Anreiz für Russland, zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen zurückzukehren.

Es sollten Win-Win-Situationen geschaffen werden, um die derzeitige Blockade zu überwinden. – Und nun kommt der entscheidende Satz: „Dazu gehört die Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten. Mit Rücksicht darauf sollte in Fragen der künftigen Mitgliedschaften in NATO, EU und CSTO (Collective Security Treaty Organization) für die Dauer der Konferenz ein Freeze vereinbart werden.“ Gemeint sind hier natürlich vor allem Georgien und die Ukraine.

Es geht den Autoren also zusammengefasst darum, die Logik der Eskalation zu durchbrechen, die aktuelle Situation zu entschärfen und einen Freiraum zu schaffen, in dem Kontakte wieder geknüpft und, wenn es positiv laufen sollte, das Vertrauen Schritt für Schritt rekonstruiert werden könnte. Im optimalen Fall könnte am Ende eine neue europäische Sicherheitsstruktur stehen, die das zentrale Prinzip der Charta von Paris wieder aufnähme: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“. [3]

Eine breite Diskussion ist nun fällig!

Beim Lesen dieses bemerkenswerten Textes atmet man förmlich auf: Endlich ein realpolitischer Ansatz für eine intelligente Politik, statt der ewigen kontraproduktiven „Werte-Gebetsmühle“, die jetzt auch die neue deutsche Außenministerin ebenso forsch wie unreflektiert bedient! Und das von Persönlichkeiten, die über einen gewissen Einfluss verfügen. Der Appell kommt exakt zum richtigen Zeitpunkt, in einem Augenblick, wo möglicherweise auch das Verhältnis zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten etwas in Bewegung gekommen sein könnte [4].

Bislang waren in den vergangenen Jahren die Themen „Frieden und Abrüstung“ in Deutschland eher von den Rändern besetzt. Dieser Text aber, und das macht seine Brisanz aus, hat das Potential, breitere Bevölkerungskreise zu erreichen. Wenn er kommuniziert wird!

Das Papier und seine Grundgedanken sollten daher schnellstmöglich als Start für eine breite Lösungsdiskussion in der deutschen, westlichen und russischen Öffentlichkeit – besser noch – als Ausgangspunkt einer längst überfälligen zivilgesellschaftlichen Initiative für militärische Deeskalation genutzt werden. Weitergehende Konzepte und Lösungen – Vorschläge dazu gibt es seit Langem [5] – können später in einer entspannteren Atmosphäre entwickelt und angegangen werden, wenn die akute Gefahr gebannt ist. Nun sind also nicht zuletzt die Zivilgesellschaften gefragt. Selbst die besten Ideen verbreiten sich bekanntlich nicht von alleine!

Ulrich Brandenburg (Deutscher Botschafter in Russland) während einer Pressekonferenz in Moskau am 14. September 2010 (Quelle: A.Savin, Wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Ulrich Brandenburg (Deutscher Botschafter in Russland) während einer Pressekonferenz in Moskau am 14. September 2010 (Quelle: A.Savin, Wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Michael Brzoska, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg am 9. September 2013 (Quelle: Isis Martins/Heinrich-Böll-Stiftung, Wikipedia.org, CC BY-SA 2.0)

 

Veröffentlicher des Appells vom 5.12.2021 „Get out of the escalation spiral! For a new beginning in the relation with Russia“:

Ulrich Brandenburg, Botschafter a.D., Deutscher Botschafter bei der NATO (2007-2010) und in Russland (2010-2014)
Prof. Dr. Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2006-2016)
Helmut Ganser, Brigadegeneral a.D., Abteilungsleiter Militärpolitik bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel (2004-2008)
Prof. Dr. Jörn Happel, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
Hans-Dieter Heumann, Botschafter a.D., Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2011-2015)
Hellmut Hoffmann, Botschafter a.D., Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Genfer Abrüstungskonferenz (2009-2013)
Heiner Horsten, Botschafter a.D., Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2008-2012)
Hans Hübner, Brigadegeneral a.D., Kommandeur des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (1999-2003)
Prof. Dr. Heinz-Gerhard Justenhoven, Direktor des Instituts für Theologie und Frieden
Stephan Klaus, Sprecher der Jungen GSP
Dr. Ulf von Krause, Generalleutnant a.D., Befehlshaber des Streitkräfte-Unterstützungskommandos der Bundeswehr (2001-2005)
Rüdiger Lüdeking, Botschafter a.D., Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der OSZE in Wien (2012-2015)
Prof. Dr. Gerhard Mangott, Universität Innsbruck
Klaus Naumann, General a.D., Generalinspekteur der Bundeswehr (1991-1996) und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (1996-1999)
Prof. em. Dr. August Pradetto, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
Roger Näbig, Blog Konflikte und Sicherheit
Prof. Dr. Götz Neuneck, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019)
Jessica Nies, Sprecherin der Jungen GSP
Harry Preetz, Oberst a.D., Landesvorsitzender Bereich I der Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Wolfgang Richter, Oberst a.D., Stiftung Wissenschaft und Politik, Leitender Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung (2005-2009)
Richard Rohde, Oberst a.D., Sektionsleiter Bonn der Gesellschaft für Sicherheitspolitik
Dr. Johannes Seidt, Botschafter a.D., Chefinspekteur des Auswärtigen Amts 2014 bis 2017
Reiner Schwalb, Brigadegeneral a.D., Verteidigungsattaché an der deutschen Botschaft Moskau (2011-2018)
Prof. Dr. Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg
Armin Staigis, Brigadegeneral a.D., Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (2013-2015)
Prof. Dr. Johannes Varwick, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Dr. Wolfgang Zellner, Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (2009-2019).

Quellen:

[1] Kein Krieg wegen Ukraine!, Artikel von Johannes Varwick am 07.12.2021 auf www.Karenina.de unter der URL: <https://www.karenina.de/news/kein-krieg-wegen-ukraine/>
[2] Get Out Of The Escalation Spiral! For A New Beginning In The Relation With Russia (December 5th, 2021) – Appeal From Former German Generals And Ambassadors, Artikel von Ralf Ostner am 07.12.2021 auf www.Global-Review.info unter der URL: <https://www.global-review.info/2021/12/06/get-out-of-the-escalation-spiral-for-a-new-beginning-in-the-relation-with-russia-december-5th-2021-appeal-from-former-german-generals-and-ambassadors/>
[3] Charta von Paris für ein neues Europa, veröffentlicht im November 1990, nachzulesen auf www.Bundestag.de unter der URL: <https://www.bundestag.de/resource/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf>
[4] USA und Russland: Neuaufteilung der Welt?, Artikel von Florian Rötzer am 13.12.2021 auf www.Heise.de unter der URL: <https://www.heise.de/tp/features/USA-und-Russland-Neuaufteilung-der-Welt-6293086.html>
[5] Neue Entspannungspolitik unter Joe Biden? Die Chancen sind da – Der Wille auch?, Artikel von Leo Ensel am 04.12.2021 auf www.Ostexperte.de unter der URL: <https://ostexperte.de/neue-entspannungspolitik-unter-joe-biden/>