Es beginnt in Gedanken

Mit dem Kapitalismus haben wir keine Zukunft. Diese Erkenntnis reift zunehmend und der Ruf nach Alternativen wird lauter. Um vom einem zum anderen zu kommen, ist es hilfreich sich über Ziel und Weg Gedanken zu machen. Eine Einladung zum Mitdenken von Thiemo Kirmse.

Von Published On: 22. Februar 2023Kategorien: Utopie

Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors erstveröffentlicht auf free21.org. Lizenz: Thiemo Kirmse, Free21, CC BY-NC-ND 4.0

Symbolbild
(Bild: Unbekannt, PxHere, CC0)

Die Geschichte bringt immer wieder Menschen zum Vorschein, die uns durch ihre Taten, ihre Worte und Gedanken inspirieren, uns begeistern und mitreißen. Was sie gesagt und getan haben, bleibt über die Zeit erhalten. Der afrikanische Revolutionsführer Thomas Sankara, der aus dem postkolonialen Obervolta das „Land der Aufrechten“ gemacht hat, war so ein Mensch. Er war Anführer und Revolutionär, aber vor allem auch ein Visionär und Träumer mit unmittelbarer Tatkraft. Sankara kämpfte für die Befreiung und die Selbstbestimmung der Menschen in Burkina Faso und darüber hinaus in ganz Afrika. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft hob er den Unterschied zwischen Männern und Frauen auf und motivierte sein Volk zu einem neuen Aufbruch. Wie so viele, die der Welt zu einem neuen Aufbruch verhelfen wollten, starb er eines gewaltsamen Todes. Doch sein Andenken bleibt.

„Everything that man can imagine, he is capable of creating“

Alles, was sich der Mensch vorstellen kann, das kann er auch erschaffen. Sankara hat daran geglaubt. Folgt man diesem Gedanken und denkt an eine friedliche und gerechte Welt, dann beginnt diese damit, sich eine Vorstellung davon zu machen. Wie diese ausschauen könnte, hat uns ein anderer inspirierender Geist mit seinem zeitlosen Werk, in ganz einfachen und wohlklingenden Worten, mit auf den Weg gegeben. In seinem Song „Imagine“ beschreibt John Lennon, der kaum weniger Träumer als Sankara war und den dasselbe Schicksal ereilte, diese andere Welt, die, wie er an gleicher Stelle sagt, so schwer gar nicht vorzustellen ist. Wenn man Lennons Lied hört, kann man gar nicht anders, als ihm zu glauben.

Statue Thomas Sankaras, ihm zu Ehren errichtet 2019, (Foto: EKokou, Wikimedia Commons, 25.9.2022, CC-BY-SA-4.0)

„No countries, no possessions, nothing to kill or die for“

Keine Länder, kein Besitz und nichts, wofür es sich lohnte zu töten oder zu sterben. Im Grunde „Ja“. Das kann man sich vorstellen. Nicht jeder und jede vielleicht, was gewiss kein Manko oder ein Mangel an Fantasie bedeuten muss, denn schaut man auf die letzten paar tausend Jahre der Menschheitsgeschichte mit all den Kriegen und den Zerstörungen, dann kann selbst vorsichtiger Optimismus Verwunderung hervorrufen. Für den Moment sei es dahingestellt, ob wir hier über den Rahmen menschlicher Möglichkeiten reden oder ob solche Träume dazu verdammt sind, im Reich der Fantasie zu bleiben. Gehen wir also einen Schritt weiter und fragen: Wie denn genau? Oder wenigstens ein bisschen genauer. Wie könnte eine solche andere Welt aussehen?

Eine utopische Welt

Die Sehnsucht nach einer anderen Welt speist sich aus den Unzulänglichkeiten der Gegenwärtigen. Die Ungerechtigkeit, die Unterdrückung, Zerstörung und Grausamkeit sollen überwunden werden – für einen selbst, für alle, jetzt oder in der fernen Zukunft. Wenn das Leben auf Erden kaum auszuhalten ist oder die Bedrohungen existenziell wirken, wenn gar der Untergang von allem droht, dann erscheint nicht nur die Apokalypse, sondern es ist auch Zeit für Utopien. Utopien sind in ihrer Entstehung nie unabhängig von der gegenwärtigen Welt. Sie reflektieren bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, greifen bestehende Entwicklungen und Gedanken auf und liefern einen Gegenentwurf, der eine Kritik der herrschenden Verhältnisse beinhaltet. Die Gegenwart und eine Kritik am herrschenden System sind damit ein guter Ausgangspunkt, um sich gezielt auf eine gedankliche Reise zu begeben.

Aus einer Kritik am Kapitalismus lässt sich eine alternative Gesellschaft entwickeln. Je besser und treffender und auch je umfassender unsere Kritik am Kapitalismus ist und je besser wir dabei verstehen, woher er kommt und was ihn ausmacht, desto besser können wir unseren Gegenentwurf formulieren. Es lohnt dabei, weit zurück, bis zu den Anfängen von Herrschaft und damit mehrere tausend Jahre zurückzugehen. Eine Kapitalismuskritik bleibt hier aus. Wer möchte und sich auf die Suche macht, der wird aus einem reichhaltigen Fundus schöpfen können [1].

Ein zweiter Aspekt muss bei unseren Überlegungen eine Rolle spielen. Die imaginierte Welt muss menschengerecht sein, das heißt dem Wesen Mensch entsprechen. Eine Welt, die zuerst eine Wandlung von uns Menschen erforderte, ist unerreichbar. Wir wollen nicht über einen Nicht-Ort, ein unerreichbares Utopia, nachdenken, sondern über eine Weltgesellschaft im Rahmen menschlicher Möglichkeiten. Gleichzeitig muss klar sein, dass es dabei nicht um ein konkretes Ziel geht, das es anzustreben gelte. Das wäre dann schon direkt nicht mehr menschengerecht. Eine alternative Weltgesellschaft entsteht erst im Tun und auf dem Weg dorthin. Wenn wir über konkrete utopische Welten nachdenken, dann nur deswegen, um zu überlegen, wie es sein könnte und um unserer Vorstellung und Hoffnung mehr Halt zu geben.

Kernelemente einer befreiten Gesellschaft

Was in der Diskussion um Utopien und um andere Gesellschaftsmodelle wichtig ist, sind die Kernelemente, die eine solche Alternative ausmachen können. Der Utopieforscher Richard Saage unterscheidet zwischen etatistischen und anarchistischen Utopien, also solchen, die einen Staat mitdenken und den anderen, die das nicht tun. Er meint, dass sich die autoritär-etatistische Linie der Utopien mit dem Jahr 1989 erschöpft hat. Eine fundierte Kritik am Kapitalismus führt beim Entwurf einer Utopie zum gleichen Ergebnis: Macht ist ein Problem. Ein erster Vorschlag lautet also, Macht – gemeint als Herrschaft über Menschen – so stark wie möglich zu begrenzen oder am besten gleich vollständig aufzuheben.

Ein weiterer Vorschlag ist unmittelbar einleuchtend. Jedes Kind würde entsprechend antworten. Die Produktion muss sich nach dem Bedarf richten. Wonach denn sonst? Das mit dem Profit ist keine so gute Idee. Gerecht und friedlich soll unsere utopische Welt sein und wenn wir auf den Staat verzichten können, dann brauchen wir auch keine Grenzen mehr. Unsere Unterschiedlichkeit können wir zelebrieren, aber den Begriff der Nation lassen wir verschwinden. Genauso wie alles Militärische. Es gibt keinen Bereich, in dem der Mensch mehr entmenschlicht wird, als wenn er erst seines Wesens und Willens beraubt und dann – der Maschine gleich – darauf trainiert wird, auf Befehl mit der Waffe in der Hand zu töten.

Es gibt Kritiker, die meinen, dass Utopien im Allgemeinen nicht viel zu bieten hätten und immer wieder nur bei der einen Frage landeten und die Aufhebung des Eigentums forderten. Das alleine wäre zu wenig, aber über das Eigentum muss nachgedacht werden: Wem gehört was? Oder anders gefragt: Wer kann worüber in welcher Form verfügen? Antworten auf diese Fragen bekommen wir, wenn wir die Beschränkung von Macht zusammen mit der Orientierung der Produktion und Reproduktion – die letztlich eines werden – am Bedarf denken. Kurz gesagt: Es braucht nicht viel für ein gelingendes Leben.

Wie und warum über Utopien nachdenken?

Die Vorstellung von einer anderen Welt, kann helfen, sich in diese Richtung auf den Weg zu machen. Wer die Schrecken des Kapitalismus sieht, dieses System aber für alternativlos hält, der wird nicht viel tun, um es zu überwinden. Die vielen einzelnen Initiativen, die sich jenseits der kapitalistischen Logik in der Gegenwart als zarte Pflänzchen mal mehr, mal weniger entwickeln, können so auf ein gemeinsames Ziel orientieren und sich verbinden. Ideen können am Ende viel wirkmächtiger sein als Staaten und Armeen. Es beginnt eben in Gedanken.

Das lange 19. Jahrhundert – von der Amerikanischen Revolution der 1770er bis zum Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre – war auch ein Zeitalter der Revolutionen. Die Arbeiterbewegung, angetrieben von den Träumen von Sozialismus und Kommunismus, erlangte eine Stärke, die für das System herausfordernd war. Das 1848 erschienene „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels ist mittlerweile das am drittmeisten verkaufte Buch der Welt. Es bräuchte nun aber etwas Neues. Hannes Wader singt es uns in „Trotz alledem“ [2] vor: „Ein Sozialismus müsste her. Mit neuem Schwung und alledem. Doch wenn der wie der alte wär, wird’s wieder nichts trotz alledem.“ Keine Revolution ohne gute Musik!

Bei der Frage nach dem Wie hilft uns Richard Saage, der drei Anforderungen an zukunftsfähiges utopisches Denken formuliert. Erstens müssten heutige Utopien ohne einen geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben auskommen, der historisch und aktuell diskreditiert sei. Das heißt davon auszugehen, dass es kein absolut gesetztes Ziel in der menschlichen Geschichte geben kann. Die menschliche Geschichte ist unbestimmt, sie ist offen und unvorhersehbar. Zweitens dürften Utopien als regulative Prinzipien nie ganz verwirklicht werden. Es müsse eine Differenz zwischen dem utopischen Anspruch und der defizitären Realität bestehen bleiben. Nur so könne die Utopie ihre kritische Funktion behalten und ein Umschlagen in die Ideologie verhindert werden. Drittens müssten heutige Utopien hochgradig selbstreflexiv sein, das heißt ihre eigene Kritik gleich mitliefern. Es braucht das Bewusstsein, dass das positiv Beabsichtigte in sein negatives Gegenteil umschlagen kann.

Illustration zu dem Buch von Friedrich Eduard Bilz: Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000. Verlag F.E. Bilz, Leipzig 1904, (Illustration: Unbekannt, Wikimedia Commons, CC-PD-Mark)

Pfade der Transformation

Es stimmt natürlich nicht so ganz, dass es in Gedanken beginnt. Das ist nur die eine Seite, denn die Transformation, also der Ausstieg aus dem Kapitalismus hat schon längst in unzähligen, vielen kleinen Initiativen begonnen, die Neues jenseits der Verwertungslogik ausprobieren. Auch der stete Widerstand gegen den kapitalistischen Raubbau, gegen die Naturzerstörung, die Ausbeutung von Mensch und Tier und das Zurückdrängen der kapitalistischen Maschine aus den Bereichen der Daseinsvorsorge gehören dazu. Das „fragende Voranschreiten“ ist auch die Suche nach einem Weg raus aus dem System und letztlich geschieht Veränderung durch viele kleine Taten von hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt.

Die Frage nach dem Weg zum Ziel wirft die Begriffe von Reform und Revolution auf, aber auch von den Keimformen des Neuen und einem sich langsamen Herausarbeiten aus dem Kapitalismus. Die Transformation wird auf vielen verschiedenen Pfaden gegangen werden. Das Nachdenken über mögliche Wege aber setzt voraus, dass man grob weiß, wohin die Reise gehen soll. Darüber lohnt es sich, gemeinsam nachzudenken.

Wie also? Nichts tun ist jedenfalls keine Alternative. Diejenige, der das zufällige Glück oder Unglück – es liegt im Auge der Betrachterin – der Aufklärung zuteil wird, kann entscheiden, sich aus dem Stand der Unmündigkeit zu erheben und die Masse der Teilnahmslosen zu verlassen. Es gibt eine Menge Beteiligungsmöglichkeiten in widerständigen Kämpfen oder beim Aufbau von etwas Neuem. Befreiung fängt bei jeder und jedem selbst an.

Quellen:

[1] Die Auswahl an kapitalismuskritischer Literatur ist ohne Zweifel riesig und es finden sich ebenso sicher viele lesenswerte Bücher. Bevor man zufällig aber doch daneben greift, hier ein guter Tipp für einen Einstieg, der kein Fehlgriff ist: „Das Ende der Megamaschine“, Fabian Scheidler, Promedia Verlag, 2015.
[2] Der ursprüngliche Liedtext von Waders „Trotz alledem“ enthält die zitierte Textzeile nicht. Diese Version ist neuer und enthält Waders Wunsch nach einem Neuanfang: <https://www.youtube.com/watch?v=724j5MiALGI>

Es beginnt in Gedanken

Mit dem Kapitalismus haben wir keine Zukunft. Diese Erkenntnis reift zunehmend und der Ruf nach Alternativen wird lauter. Um vom einem zum anderen zu kommen, ist es hilfreich sich über Ziel und Weg Gedanken zu machen. Eine Einladung zum Mitdenken von Thiemo Kirmse.

Von Published On: 22. Februar 2023Kategorien: Utopie

Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors erstveröffentlicht auf free21.org. Lizenz: Thiemo Kirmse, Free21, CC BY-NC-ND 4.0

Symbolbild
(Bild: Unbekannt, PxHere, CC0)

Die Geschichte bringt immer wieder Menschen zum Vorschein, die uns durch ihre Taten, ihre Worte und Gedanken inspirieren, uns begeistern und mitreißen. Was sie gesagt und getan haben, bleibt über die Zeit erhalten. Der afrikanische Revolutionsführer Thomas Sankara, der aus dem postkolonialen Obervolta das „Land der Aufrechten“ gemacht hat, war so ein Mensch. Er war Anführer und Revolutionär, aber vor allem auch ein Visionär und Träumer mit unmittelbarer Tatkraft. Sankara kämpfte für die Befreiung und die Selbstbestimmung der Menschen in Burkina Faso und darüber hinaus in ganz Afrika. In einer patriarchal geprägten Gesellschaft hob er den Unterschied zwischen Männern und Frauen auf und motivierte sein Volk zu einem neuen Aufbruch. Wie so viele, die der Welt zu einem neuen Aufbruch verhelfen wollten, starb er eines gewaltsamen Todes. Doch sein Andenken bleibt.

„Everything that man can imagine, he is capable of creating“

Alles, was sich der Mensch vorstellen kann, das kann er auch erschaffen. Sankara hat daran geglaubt. Folgt man diesem Gedanken und denkt an eine friedliche und gerechte Welt, dann beginnt diese damit, sich eine Vorstellung davon zu machen. Wie diese ausschauen könnte, hat uns ein anderer inspirierender Geist mit seinem zeitlosen Werk, in ganz einfachen und wohlklingenden Worten, mit auf den Weg gegeben. In seinem Song „Imagine“ beschreibt John Lennon, der kaum weniger Träumer als Sankara war und den dasselbe Schicksal ereilte, diese andere Welt, die, wie er an gleicher Stelle sagt, so schwer gar nicht vorzustellen ist. Wenn man Lennons Lied hört, kann man gar nicht anders, als ihm zu glauben.

Statue Thomas Sankaras, ihm zu Ehren errichtet 2019, (Foto: EKokou, Wikimedia Commons, 25.9.2022, CC-BY-SA-4.0)

„No countries, no possessions, nothing to kill or die for“

Keine Länder, kein Besitz und nichts, wofür es sich lohnte zu töten oder zu sterben. Im Grunde „Ja“. Das kann man sich vorstellen. Nicht jeder und jede vielleicht, was gewiss kein Manko oder ein Mangel an Fantasie bedeuten muss, denn schaut man auf die letzten paar tausend Jahre der Menschheitsgeschichte mit all den Kriegen und den Zerstörungen, dann kann selbst vorsichtiger Optimismus Verwunderung hervorrufen. Für den Moment sei es dahingestellt, ob wir hier über den Rahmen menschlicher Möglichkeiten reden oder ob solche Träume dazu verdammt sind, im Reich der Fantasie zu bleiben. Gehen wir also einen Schritt weiter und fragen: Wie denn genau? Oder wenigstens ein bisschen genauer. Wie könnte eine solche andere Welt aussehen?

Eine utopische Welt

Die Sehnsucht nach einer anderen Welt speist sich aus den Unzulänglichkeiten der Gegenwärtigen. Die Ungerechtigkeit, die Unterdrückung, Zerstörung und Grausamkeit sollen überwunden werden – für einen selbst, für alle, jetzt oder in der fernen Zukunft. Wenn das Leben auf Erden kaum auszuhalten ist oder die Bedrohungen existenziell wirken, wenn gar der Untergang von allem droht, dann erscheint nicht nur die Apokalypse, sondern es ist auch Zeit für Utopien. Utopien sind in ihrer Entstehung nie unabhängig von der gegenwärtigen Welt. Sie reflektieren bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, greifen bestehende Entwicklungen und Gedanken auf und liefern einen Gegenentwurf, der eine Kritik der herrschenden Verhältnisse beinhaltet. Die Gegenwart und eine Kritik am herrschenden System sind damit ein guter Ausgangspunkt, um sich gezielt auf eine gedankliche Reise zu begeben.

Aus einer Kritik am Kapitalismus lässt sich eine alternative Gesellschaft entwickeln. Je besser und treffender und auch je umfassender unsere Kritik am Kapitalismus ist und je besser wir dabei verstehen, woher er kommt und was ihn ausmacht, desto besser können wir unseren Gegenentwurf formulieren. Es lohnt dabei, weit zurück, bis zu den Anfängen von Herrschaft und damit mehrere tausend Jahre zurückzugehen. Eine Kapitalismuskritik bleibt hier aus. Wer möchte und sich auf die Suche macht, der wird aus einem reichhaltigen Fundus schöpfen können [1].

Ein zweiter Aspekt muss bei unseren Überlegungen eine Rolle spielen. Die imaginierte Welt muss menschengerecht sein, das heißt dem Wesen Mensch entsprechen. Eine Welt, die zuerst eine Wandlung von uns Menschen erforderte, ist unerreichbar. Wir wollen nicht über einen Nicht-Ort, ein unerreichbares Utopia, nachdenken, sondern über eine Weltgesellschaft im Rahmen menschlicher Möglichkeiten. Gleichzeitig muss klar sein, dass es dabei nicht um ein konkretes Ziel geht, das es anzustreben gelte. Das wäre dann schon direkt nicht mehr menschengerecht. Eine alternative Weltgesellschaft entsteht erst im Tun und auf dem Weg dorthin. Wenn wir über konkrete utopische Welten nachdenken, dann nur deswegen, um zu überlegen, wie es sein könnte und um unserer Vorstellung und Hoffnung mehr Halt zu geben.

Kernelemente einer befreiten Gesellschaft

Was in der Diskussion um Utopien und um andere Gesellschaftsmodelle wichtig ist, sind die Kernelemente, die eine solche Alternative ausmachen können. Der Utopieforscher Richard Saage unterscheidet zwischen etatistischen und anarchistischen Utopien, also solchen, die einen Staat mitdenken und den anderen, die das nicht tun. Er meint, dass sich die autoritär-etatistische Linie der Utopien mit dem Jahr 1989 erschöpft hat. Eine fundierte Kritik am Kapitalismus führt beim Entwurf einer Utopie zum gleichen Ergebnis: Macht ist ein Problem. Ein erster Vorschlag lautet also, Macht – gemeint als Herrschaft über Menschen – so stark wie möglich zu begrenzen oder am besten gleich vollständig aufzuheben.

Ein weiterer Vorschlag ist unmittelbar einleuchtend. Jedes Kind würde entsprechend antworten. Die Produktion muss sich nach dem Bedarf richten. Wonach denn sonst? Das mit dem Profit ist keine so gute Idee. Gerecht und friedlich soll unsere utopische Welt sein und wenn wir auf den Staat verzichten können, dann brauchen wir auch keine Grenzen mehr. Unsere Unterschiedlichkeit können wir zelebrieren, aber den Begriff der Nation lassen wir verschwinden. Genauso wie alles Militärische. Es gibt keinen Bereich, in dem der Mensch mehr entmenschlicht wird, als wenn er erst seines Wesens und Willens beraubt und dann – der Maschine gleich – darauf trainiert wird, auf Befehl mit der Waffe in der Hand zu töten.

Es gibt Kritiker, die meinen, dass Utopien im Allgemeinen nicht viel zu bieten hätten und immer wieder nur bei der einen Frage landeten und die Aufhebung des Eigentums forderten. Das alleine wäre zu wenig, aber über das Eigentum muss nachgedacht werden: Wem gehört was? Oder anders gefragt: Wer kann worüber in welcher Form verfügen? Antworten auf diese Fragen bekommen wir, wenn wir die Beschränkung von Macht zusammen mit der Orientierung der Produktion und Reproduktion – die letztlich eines werden – am Bedarf denken. Kurz gesagt: Es braucht nicht viel für ein gelingendes Leben.

Wie und warum über Utopien nachdenken?

Die Vorstellung von einer anderen Welt, kann helfen, sich in diese Richtung auf den Weg zu machen. Wer die Schrecken des Kapitalismus sieht, dieses System aber für alternativlos hält, der wird nicht viel tun, um es zu überwinden. Die vielen einzelnen Initiativen, die sich jenseits der kapitalistischen Logik in der Gegenwart als zarte Pflänzchen mal mehr, mal weniger entwickeln, können so auf ein gemeinsames Ziel orientieren und sich verbinden. Ideen können am Ende viel wirkmächtiger sein als Staaten und Armeen. Es beginnt eben in Gedanken.

Das lange 19. Jahrhundert – von der Amerikanischen Revolution der 1770er bis zum Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre – war auch ein Zeitalter der Revolutionen. Die Arbeiterbewegung, angetrieben von den Träumen von Sozialismus und Kommunismus, erlangte eine Stärke, die für das System herausfordernd war. Das 1848 erschienene „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels ist mittlerweile das am drittmeisten verkaufte Buch der Welt. Es bräuchte nun aber etwas Neues. Hannes Wader singt es uns in „Trotz alledem“ [2] vor: „Ein Sozialismus müsste her. Mit neuem Schwung und alledem. Doch wenn der wie der alte wär, wird’s wieder nichts trotz alledem.“ Keine Revolution ohne gute Musik!

Bei der Frage nach dem Wie hilft uns Richard Saage, der drei Anforderungen an zukunftsfähiges utopisches Denken formuliert. Erstens müssten heutige Utopien ohne einen geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben auskommen, der historisch und aktuell diskreditiert sei. Das heißt davon auszugehen, dass es kein absolut gesetztes Ziel in der menschlichen Geschichte geben kann. Die menschliche Geschichte ist unbestimmt, sie ist offen und unvorhersehbar. Zweitens dürften Utopien als regulative Prinzipien nie ganz verwirklicht werden. Es müsse eine Differenz zwischen dem utopischen Anspruch und der defizitären Realität bestehen bleiben. Nur so könne die Utopie ihre kritische Funktion behalten und ein Umschlagen in die Ideologie verhindert werden. Drittens müssten heutige Utopien hochgradig selbstreflexiv sein, das heißt ihre eigene Kritik gleich mitliefern. Es braucht das Bewusstsein, dass das positiv Beabsichtigte in sein negatives Gegenteil umschlagen kann.

Illustration zu dem Buch von Friedrich Eduard Bilz: Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000. Verlag F.E. Bilz, Leipzig 1904, (Illustration: Unbekannt, Wikimedia Commons, CC-PD-Mark)

Pfade der Transformation

Es stimmt natürlich nicht so ganz, dass es in Gedanken beginnt. Das ist nur die eine Seite, denn die Transformation, also der Ausstieg aus dem Kapitalismus hat schon längst in unzähligen, vielen kleinen Initiativen begonnen, die Neues jenseits der Verwertungslogik ausprobieren. Auch der stete Widerstand gegen den kapitalistischen Raubbau, gegen die Naturzerstörung, die Ausbeutung von Mensch und Tier und das Zurückdrängen der kapitalistischen Maschine aus den Bereichen der Daseinsvorsorge gehören dazu. Das „fragende Voranschreiten“ ist auch die Suche nach einem Weg raus aus dem System und letztlich geschieht Veränderung durch viele kleine Taten von hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt.

Die Frage nach dem Weg zum Ziel wirft die Begriffe von Reform und Revolution auf, aber auch von den Keimformen des Neuen und einem sich langsamen Herausarbeiten aus dem Kapitalismus. Die Transformation wird auf vielen verschiedenen Pfaden gegangen werden. Das Nachdenken über mögliche Wege aber setzt voraus, dass man grob weiß, wohin die Reise gehen soll. Darüber lohnt es sich, gemeinsam nachzudenken.

Wie also? Nichts tun ist jedenfalls keine Alternative. Diejenige, der das zufällige Glück oder Unglück – es liegt im Auge der Betrachterin – der Aufklärung zuteil wird, kann entscheiden, sich aus dem Stand der Unmündigkeit zu erheben und die Masse der Teilnahmslosen zu verlassen. Es gibt eine Menge Beteiligungsmöglichkeiten in widerständigen Kämpfen oder beim Aufbau von etwas Neuem. Befreiung fängt bei jeder und jedem selbst an.

Quellen:

[1] Die Auswahl an kapitalismuskritischer Literatur ist ohne Zweifel riesig und es finden sich ebenso sicher viele lesenswerte Bücher. Bevor man zufällig aber doch daneben greift, hier ein guter Tipp für einen Einstieg, der kein Fehlgriff ist: „Das Ende der Megamaschine“, Fabian Scheidler, Promedia Verlag, 2015.
[2] Der ursprüngliche Liedtext von Waders „Trotz alledem“ enthält die zitierte Textzeile nicht. Diese Version ist neuer und enthält Waders Wunsch nach einem Neuanfang: <https://www.youtube.com/watch?v=724j5MiALGI>