Sergei Skripal und seine Tochter Julia Julia
(Facebook/Julia Skripal)

Das britische Verteidigungsministerium enthüllt:

Die Blutproben der Skripals könnten manipuliert sein

Es sind neue Beweise für grobe Verstöße während der britischen Ermittlungen zum mutmaßlichen Giftanschlag auf Sergei und Yulia Skripal in Salisbury am 4. März 2018 aufgetaucht. Die neuen Enthüllungen stellen die wichtigsten Beweise in Frage, nach denen die Skripal‘s mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurden.

Von Dilyana Gaytandzhieva , veröffentlicht am: 4. März 2022, Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 03.09.2021 auf www.dilyana.bg unter der URL <https://www.dilyana.bg/uk-defense-ministry-document-reveals-skripals-blood-samples-could-have-been-manipulated/> veröffentlicht. Lizenz: Dilyana Gaytandzhieva, dilyana.bg

Die den Skripal‘s entnommenen Blutproben könnten dahingehend manipuliert worden sein, bei Tests auf Nowitschok positiv auszufallen. Dies geht aus neu veröffentlichten Informationen des britischen Verteidigungsministeriums hervor. Außerdem zeigen die Dokumente, dass Russland nicht das einzige Land der Welt war, das mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok in Verbindung gebracht werden konnte.

Die USA hatten ein Jahrzehnt vor dem Skripal-Anschlag ihr eigenes Nowitschok-Programm verheimlicht und es als Forschung zu Nervenkampfstoffen der vierten Generation getarnt. Der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hatten sie einen Maulkorb verpasst.

Bruch der Beweismittelkette

Neu veröffentlichte Informationen, die das britische Verteidigungsministerium (MOD – Ministry of Defense; Anm. d. Red.) im Rahmen des Gesetzes über die Informationsfreiheit erhalten hat, stellen die Integrität der wichtigsten Beweise für die Vergiftung der Skripal‘s mit Nowitschok in Frage, nämlich ihre Blutproben [1]. Das Ministerium ist für das britische Militärlabor DSTL Porton Down zuständig, welches die Blutproben der Skripal‘s analysierte und angeblich Nowitschok identifizierte.

„Unsere Recherchen haben keine Informationen über den genauen Zeitpunkt der Probenentnahme erbracht“, so das Ministerium. Die dem Verteidigungsministerium vorliegenden Informationen deuten also darauf hin, dass die Proben irgendwann zwischen 16:15 Uhr am 4. März 2018 und 18:45 Uhr am 5. März 2018 entnommen wurden (nach Angaben des Verteidigungsministeriums der ungefähre Zeitpunkt, zu dem die Proben beim DSTL Porton Down eintrafen). Selbst die Ankunftszeit in Porton Down ist als „ungefähr“ angegeben.

Das Fehlen dieser Informationen stellt einen Bruch der Beweismittelkette dar. Das britische NHS-Protokoll schreibt vor, dass allen an das Labor gesendeten Proben ein Anforderungsformular beizufügen ist, auf dem das genaue (nicht ungefähre) Datum und die Uhrzeit der Entnahme angegeben sind [2].

Diese kürzlich enthüllten Informationen stellen die gesamte Geschichte der Skripal-Vergiftung mit Nowitschok in Frage. Die Tatsache, dass die Kontrollkette bei diesen Blutproben unterbrochen wurde, deutet direkt darauf hin, dass sie manipuliert und verfälscht worden sein könnten.

Laut dem Dokument des britischen Verteidigungsministeriums gibt es keine Informationen darüber, wann genau (Datum und Uhrzeit) die Blutproben entnommen wurden. Daher sind diese Proben vor Gericht als Beweismittel unzulässig, da die Proben ohne eine ordnungsgemäße Überwachungskette manipuliert und mit Nowitschok kontaminiert worden sein könnten.

Ein britischer Toxikologe mit umfassenden Kenntnissen auf dem Gebiet der Analyse von Organophosphatpestiziden, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, hat das MOD-Dokument geprüft:

„Es ist unvorstellbar, dass bei einem Fall von solcher Tragweite und der offensichtlichen Bedeutung aller biologischen Proben die normale und erwartete Probenerfassung und -dokumentation nicht stattgefunden hat. In jedem klinischen oder forensischen Umfeld weiß die Person, die die Probe entnimmt, dass Datum und Uhrzeit aufgezeichnet werden müssen und der Spender eindeutig identifiziert werden muss. In einem Strafverfahren würden die aus diesen Proben gewonnenen Beweise als unzulässig verworfen werden. Gewahrsamsiegel könnten gebrochen und wieder angebracht werden. Bei einer normalen Blutentnahme würde der Spender das Siegel unterschreiben, welches an den Fläschchen angebracht wird. In diesem Fall, wo die Spender offensichtlich bewusstlos waren, würde der Phlebologe [der die Blutprobe entnimmt, Anm. d. Redaktion] die Unterschrift leisten und könnte diese später auf dem Siegel überprüfen. Da wir nicht wissen, wann oder möglicherweise wo die Proben entnommen wurden, wäre es schwierig zu beweisen, dass die Siegel tatsächlich die Originalsiegel sind. Diese protokollarischen Mängel sind entweder Schlamperei oder Verheimlichung.“

Was ist die Beweismittelkette und warum ist sie wichtig?

Die Beweismittelkette ist der wichtigste Prozess der Beweisdokumentation. Der Begriff „Chain of Custody“ (CoC) bezieht sich im juristischen Kontext auf das Kontrollsystem für die Sammlung, Verarbeitung und Lagerung von Proben. Diese Kontrollen verringern die Möglichkeit, dass Proben versehentlich oder böswillig manipuliert werden.

Eine Formularvorlage für die Beweismittelkette (Chain of Custody, CoC) enthält detaillierte Informationen über jede Person, die mit der/den Probe(n) umgeht, vom Zeitpunkt der Entnahme bis zum Erhalt der Probe durch den Analytiker. Diese wesentlichen Informationen fehlen im Fall der Skripal‘s. Selbst die Ankunftszeit in Porton Down ist, laut dem Dokument des britischen Verteidigungsministeriums als „ungefähr“ angegeben, nicht exakt.

Die Beweismittelkette kann unterbrochen sein, wenn:

  1. ein Verwahrungsformular falsch beschriftet ist oder Angaben, wie das genaue Datum und die Uhrzeit der Entgegennahme, der Übergabe und des Empfangs fehlen
  2. wenn der Transfer von Beweismitteln unangemessen lange dauert, oder
  3. wenn Grund zu der Annahme besteht, dass das Beweismittel manipuliert wurde

Obwohl bereits eine der oben genannten Bedingungen ausreicht, um die Beweismittelkette zu unterbrechen, sind im Fall der Skripal‘s alle drei Bedingungen erfüllt:

  1. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums gibt es keine Informationen darüber, wann die Proben entnommen wurden, und die Zeit, zu der sie in Porton Down eintrafen, ist nur ungefähr angegeben (nicht genau).
  2. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums trafen die Blutproben 25 Stunden nach der Einlieferung der Skripal‘s ins Krankenhaus in Porton Down ein. Zum Vergleich: Die Entfernung zwischen dem Bezirkskrankenhaus von Salisbury und Porton Down beträgt nur 13 km oder 18 Minuten Fahrtzeit, was bedeutet, dass die Übergabe der Beweise unverhältnismäßig lange dauerte.
  3. Es gibt vier Gründe für die Annahme, dass die Proben manipuliert worden sind, die da wären:
    3.1. Keine der Personen, die direkten Kontakt mit den Skripal‘s hatten, wurde positiv auf Nowitschok getestet. Nach Angaben der britischen Regierung war das Nervengift auf den Türgriff des Hauses der Skripal‘s gesprüht worden. Yulia und ihr Vater Sergei berührten die Türklinke, und wenige Stunden später brachen die beiden gleichzeitig auf einer Bank in Salisbury zusammen. Wenige Minuten, nachdem sie angeblich durch Berühren der Türklinke vergiftet worden waren, reichten die Skripal‘s drei Kindern Brot, um Enten zu füttern [3]. Eines der Kinder hat das Brot sogar gegessen. Dies wurde durch CCTV-Aufnahmen dokumentiert, welche die Polizei den Eltern zeigte. Trotz des direkten Kontakts entwickelte keines der Kinder Vergiftungssymptome, und ihre Bluttests zeigten keine Spuren von Nowitschok.
    3.2. Man hat uns gesagt, dass Nowitschok der tödlichste Nervenkampfstoff ist, der je entwickelt wurde. Keines der angeblichen „Kreml-Ziele“ (die Skripal‘s und Alexej Nawalny) ist jedoch gestorben, und alle haben sich vollständig erholt, ohne gesundheitliche oder dauerhafte Schäden davongetragen zu haben. Wie ist es möglich, dass der tödlichste Nervenkampfstoff der Welt keinem der anvisierten Opfer Schaden zugefügt hat und sie alle vollständig genesen sind?
    3.3. Sergei Skripal und seine Tochter Yulia wurden mit der Droge Fentanyl vergiftet, nicht mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok, wie aus dem ersten Bericht über den Vorfall hervorgeht [4]. Nachdem ich diesen Bericht auf meinem Twitter-Account veröffentlicht hatte, wurden die Informationen sofort redigiert und die Droge Fentanyl wurde aus der ursprünglichen Version gestrichen.
    3.4 Porton Down, welches die Blutproben erhielt und analysierte, verfügte laut dem britischen Premierminister Boris Johnson [5] bereits vor der angeblichen Vergiftung der Skripal‘s über Nowitschok. Obwohl die britische Regierung öffentlich gelogen hat, dass nur Russland die Quelle des Nervenkampfstoffs Nowitschok gewesen sein kann, könnte, wie sich herausstellt, auch Porton Down die Quelle des Nowitschok-Kampfstoffs gewesen sein. Ganz zufällig genau die Einrichtung, die bei der Untersuchung der Skripal-Blutproben Nowitschok gefunden hat.

Porton Down ist 13 km vom Salisbury District Hospital entfernt.

Der Fall Nawalny

Die Beweismittelkette kann unterbrochen werden, wenn die Übergabe von Beweismitteln unverhältnismäßig lange dauert. Dies ist ebenso der Fall bei einem anderen mutmaßlichen Nervenkampfstoff-Opfer: Alexey Navalny. Seine biologischen Proben wurden in einem deutschen Krankenhaus entnommen und erst mit 5 Tagen Verspätung an die von der OPCW benannten Labore weitergeleitet, wie aus einem OPCW-Dokument hervorgeht [6].

Alexey Navalny erkrankte während eines Fluges von Tomsk nach Moskau am 20. August 2020 und wurde nach einer Notlandung in ein Krankenhaus in Omsk gebracht. Das russische Krankenhaus stellte kein Gift in seinem Blut fest und schrieb seinen Zustand einer Stoffwechselstörung zu. Auf Ersuchen von Nawalnys Ehefrau Julia erlaubte Russland zwei Tage später den Transport des Patienten zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Deutschland gab bekannt, dass Russland Nawalny mit Nowitschock vergiftet hätte und bat die OPCW um Unterstützung. Der folgende von der OPCW beschriebene zeitliche Ablauf der Ereignisse zeigt deutlich, dass die von Nawalny entnommenen biomedizinischen Proben unerklärlicherweise erst mit einer Verzögerung von fünf Tagen (Arbeitstage!) an die von der OPCW benannten Labore weitergeleitet wurden [7]:

Dem OPCW-Bericht zufolge wurden am 6. September biomedizinische Proben von Navalny entnommen. Am 11. September erhielt die OPCW eine Anfrage aus Deutschland (5 Arbeitstage nach der Entnahme der Proben) und schickte sie zur Analyse an die von der OPCW benannten Labore. Laut dem kürzlich freigegebenen Schriftwechsel zwischen Deutschland und der OPCW über die angebliche Vergiftung Nawalnys „sollte die Übermittlung der Proben an die Referenzlabore der OPCW erst nach Zustimmung Deutschlands erfolgen“ [8]. Obwohl die Proben bereits entnommen worden waren, verzögerte Deutschland seine Zustimmung um 5 Tage. Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Wie das Vereinigte Königreich war auch Deutschland vor dem mutmaßlichen Giftanschlag auf Nawalny im Besitz von Nowitschok. Die Probe wurde nach Angaben deutscher Medien in den 1990er Jahren gewonnen. In einem gemeinsamen Bericht der Süddeutschen Zeitung, der Wochenzeitung Die Zeit und der Sender NDR und WDR hieß es, der deutsche BND habe die Probe des Nervenkampfstoffs Nowitschok von einem russischen Wissenschaftler erworben [9]. Dem deutschen Medienbericht zufolge hatte der BND nach der Analyse die US-amerikanischen und britischen Geheimdienste über den Fall informiert, und kleine Mengen des Giftes wurden später in mehreren NATO-Mitgliedstaaten hergestellt. Einer dieser NATO-Mitgliedsstaaten waren die USA.

Dokumente enthüllen, wie die USA ihr eigenes Nowitschok-Programm als Forschung zu FGAs verschleierten

Die US-Armee produzierte Nowitschok A-234 (derselbe Nervenkampfstoff, der auch in den Blutproben der Skripal‘s gefunden wurde) im Jahr 1998 und startete 2002 ein spezielles Nowitschok-Forschungsprogramm, das als Forschung über Nervenkampfstoffe der vierten Generation (FGAs – Fourth Generation Agents; Anm. d. Redaktion) getarnt war, wie aus Dokumenten hervorgeht.

Dennis Rohrbaugh vom Edgewood Research Development and Engineering Center des US Army Chemical and Biological Defense Command fügte das massenspektrometrische Profil des Nowitschok-Nervenkampfstoffs A-234 der Version 1998-2001 (NIST 98) der Massenspektralbibliothek des National Institute of Standards and Technology hinzu [10]. In der biochemischen Anlage in Edgewood wurde A-234 etwa 20 Jahre vor dem Skripal-Anschlag in Salisbury hergestellt, synthetisiert und analysiert.

In der NIST-Ausgabe, die nach der Version von 1998 veröffentlicht wurde, war das Spektrum entfernt worden. Nach Angaben des NIST wurde der Eintrag auf Wunsch einer US-Regierungsstelle zurückgezogen. Die Spektraldatei existiert noch im Archiv, aber seit 1998 in keiner Bibliothek mehr.

Im Jahr 2001 berichtete das Verteidigungsministerium dem US-Kongress, dass russische Wissenschaftler Informationen über eine neue Generation von Wirkstoffen veröffentlicht hatten, die manchmal als „Nowitschoks„ bezeichnet werden [11]. Eine Sondergruppe aus hochrangigen Geheimdienstmitarbeitern und Wissenschaftlern, die Chemical and Biological Agents Action Group (CBAAG), wurde eingerichtet, um sich mit der Bedrohung durch die Wirkstoffe der vierten Generation zu befassen. Zu diesem Zeitpunkt waren nur drei Generationen von Nervenkampfstoffen bekannt. Laut einem DoD-Bericht von 2019 über Nervengifte der vierten Generation [12] gehören Nowitschoks zu dieser Gruppe von Nervenkampfstoffen (FGAs), auch bekannt als Nervenkampfstoffe der A-Serie oder Nowitschok.

In dem Bericht heißt es: „Es ist keine illegale Verwendung oder Herstellung eines FGA oder eines anderen Nervenkampfstoffs in den Vereinigten Staaten bekannt“. Quelle: Fourth Generation Agents: Reference Guide, Januar 2019 [13]

Pentagon-Papiere zeigen genau das Gegenteil. Laut dem Jahresbericht des Verteidigungsministeriums an den Kongress von 2002 [14] haben die USA FGA’s hergestellt.

Im Jahr 2002 startete das Pentagon zwei Programme: TC2 und TC3, die sich mit der Erforschung von Wirkstoffen der vierten Generation (FGAs) befassen. Zu den Zielen von 2002 listet das Dokument auf:

– Initiierung eines Programms für die Synthese, Toxikologie, das Screening und die Charakterisierung neuer Bedrohungsstoffe (einschließlich der Wirkstoffe der vierten Generation), deren dringender Bedarf festgestellt wurde, während gleichzeitig die Notwendigkeit eines langfristigen Bedarfs untersucht werden sollte;

– Bestätigung pathologischer Befunde am Herzen nach Exposition gegenüber FGA’s

– Durchführung einer verbesserten Bewertung medizinischer Gegenmaßnahmen an Meerschweinchen durch Auswertung physiologischer und histopathologischer Parameter. Evaluierung von Bio-Radikalfänger-Vorbehandlungen als medizinische Maßnahme gegen FGA’s bei Meerschweinchen. Durchführung von Studien zur fortgeschrittenen Bewertung (Pharmakokinetik und Bioverfügbarkeit) führender medizinischer Maßnahmen gegen FGA’s bei höheren Tierarten zur Einschätzung der Wirksamkeit beim Menschen.

– Entwicklung von Surrogatmarkern in Meerschweinchen für alternative medizinische Gegenmaßnahmen bei FGA-Exposition. Entwicklung eingrenzender Kriterien für die Auswahl der besten Kandidaten für verbesserte medizinische Gegenmaßnahmen bei FGA-Exposition.

Die USA haben den Vorsitzenden des OPCW-Beirats zum Thema Wirkstoffe der nächsten Generation zum Schweigen gebracht: diplomatische Depesche

Im Februar 2006 erklärte der damalige Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der OPCW, der Tscheche Jiri Matousek, dass im Edgewood Research Development and Engineering Center Nowitschok entwickelt würde. Aus einem diplomatischen Telegramm vom 28. Februar 2006 geht hervor, dass die US-Delegation die OPCW dahingehend belogen hat, dass in Edgewood kein Nowitschok entwickelt werde [15]. Darüber hinaus zwang ein US-Diplomat die Tschechische Republik, Jiri Matousek anzuweisen, in Zukunft nicht mehr öffentlich über Wirkstoffe der nächsten Generation zu sprechen, wie aus einem geheimen diplomatischen Telegramm mit dem Titel: „Czechs muzzle advisory board chairman on Next Generation Agents“ (28. März 2006) [16] hervorgeht.

Clinton an US-Diplomaten: Vermeiden Sie Diskussionen über Kampfstoffe der vierten Generation

In einem geheimen Telegramm eines US-Delegierten an die OPCW vom 26. März 2009 wird berichtet, dass bei einer Sitzung der OPCW-Datenvalidierungsgruppe in Den Haag „Vertreter mehrerer Länder (Finnland, Niederlande, Vereinigtes Königreich) am Rande der Sitzung mit der Diskussion über das Mirzayanov-Buch begonnen haben“ [17]. Wenige Monate zuvor hatte der in die USA übergelaufene ehemalige sowjetische Wissenschaftler Vil Mirzayanov ein Buch veröffentlicht, in dem er die chemischen Formeln einer Reihe von Nowitschok-Nervenkampfstoffen öffentlich machte. Der US-Delegierte bat um weitere Handlungsempfehlungen. Die Depesche war an die CIA, den Nationalen Sicherheitsrat, den Verteidigungsminister und den Außenminister gerichtet.

In einem weiteren Telegramm vom 3. April 2009 wies die damalige Außenministerin Hillary Clinton die US-Delegation in der Australischen Gruppe (informeller Zusammenschluss von 42 Staaten, der sich für die Verhinderung des Exports chemischer und biologischer Waffen einsetzt) an [18]:

– Vermeiden Sie jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Mirazayanov-Buch „State Secrets: An Insider’s View of the Russian Chemical Weapons Program“ („Staatsgeheimnisse: Das russische Chemiewaffenprogramm“ aus Sicht eines Insiders“, Anm.d. Red.) oder die so genannten „Fourth Generation Agents“.

– Wenn AG-Teilnehmer das Buch von Vils Mirazayonov „Staatsgeheimnisse: Das russische Chemiewaffenprogramm aus Sicht eines Insiders“ ansprechen, sollte die Delegation:

– alle Fälle melden, in denen das Buch angesprochen wurde

– weder Gespräche über das Buch anfangen, noch provozieren oder sich inhaltlich beteiligen, wenn es zur Sprache kommt.

– einen Mangel an Kenntnissen zur Thematik um Ausdruck bringen

– im Stillen von inhaltlichen Diskussionen abraten, indem sie vorschlagen, das Thema am besten den Experten (in Großbuchstaben) zu überlassen.

Aus diesen diplomatischen Depeschen geht hervor, dass die US-Forschung an Wirkstoffen der vierten Generation (Nowitschok) mindestens ein Jahrzehnt lang andauerte und aus unbekannten Gründen geheim gehalten wurde. Im Jahr 2012 lagerte das Pentagon einen Großteil seiner Nervenkampfstoff-Forschung an das britische Militärlabor Dstl Porton Down aus, welches Tests mit Nervenkampfstoffen an Tieren durchführte [19]. („Dstl“ steht für „Defense Science and Technology Laboratory“, also ein Labor für Verteidigungswissenschaft und -technologie, Anm. d. Red.). Da Porton Down vor dem Skripal-Anschlag über Nowitschok-Proben verfügte, ist es sehr wahrscheinlich, dass Nowitschok einer der getesteten Nervenkampfstoffe war.

Quellen:

[1] What do they know, Ministry of Defence, „Freedom of information Act 2000 – Internal Review“, am 12.3.2019, <https://www.whatdotheyknow.com/request/539751/response/1327639/attach/3/20190312%20FOI2018%2015985%20Novichok%20Samples%20Rev.pdf>
[2] NHS University Hospital Southampton, „Laboratory medicine“, <https://www.uhs.nhs.uk/HealthProfessionals/PathologyServices/Handbook/LaboratoryMedicine.aspx#specimen>
[3] The Sun, Nick Pisa, „Putin´s Youngest Victim Schoolboy,12, on how he was exposed to deadly poison after Russian spy Sergei Skripal gave him bread to feed ducks in Salisbury“, am 28.3.2018, <https://www.thesun.co.uk/news/5916870/schoolboy-salisbury-nerve-agent-attack/>
[4] Dilyana.bg, Dilyana Gaytandzhieva, „Skripals poisoned with Fentanyl, initial report redacted“, am 3.5.2018, <http://dilyana.bg/skripals-poisoned-with-fentanyl/>
[5] Youtube, „Boris Johnson: Russia´s position in Skripal case is increasingly bizarre“, am 20.3.2018, <https://www.youtube.com/watch?v=CZgGujo2h3A>
[6] OPCW, „Summary of the report on activities carried out in support of a request for technical assistance by Germany“, am 6.10.2020, <https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2020/10/s-1906-2020%28e%29.pdf>
[7] OPCW, „Summary of the report on activities carried out in support of a request for technical assistance by Germany“, am 6.10.2020, <https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2020/10/s-1906-2020%28e%29.pdf>
[8] OPCW, „Correspondence from Germany to the OPCW requesting technical assistance in the case of Mr Alexei Navalny, and associated documents“, am 3.8.2021, <https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2021/08/s-1979-2021%28e%29.pdf>
[9] Reuters, Sabine Siebold und Andrea Shalal, „West´s knowledge of Novichok came from sample secured in 1990s: report“, am 16.5.2018, <https://www.reuters.com/article/us-britain-russia-chemicalweapons-german/wests-knowledge-of-novichok-came-from-sample-secured-in-1990s-report-idUSKCN1IH2HC>
[10] Internet Archiv, <https://archive.org/details/Edgewood>
[11] Department of Defense, „Annual report to Congress and performance plan Juli 2001“, <https://www.hsdl.org/?view&did=1434>
[12] Defense Technical Information Center, „Fourth Generation Agents: Reference Guide“, am 18.1.2019, <https://apps.dtic.mil/sti/citations/AD1066891>
[13] Defense Technical Information Center, „Fourth Generation Agents: Reference Guide“, am 18.1.2019, <https://apps.dtic.mil/sti/citations/AD1066891>
[14] Department of Defense, „Chemical and Biological Defense Program“, April 2002, <https://www.hsdl.org/?view&did=1498>
[15] WikiLeaks, <https://wikileaks.org/plusd/cables/06THEHAGUE450_a.html>
[16] WikiLeaks, <https://search.wikileaks.org/plusd/cables/06PRAGUE319_a.html>
[17] WikiLeaks, <https://wikileaks.org/plusd/cables/09THEHAGUE205_a.html>
[18] WikiLeaks, <https://search.wikileaks.org/plusd/cables/09STATE32931_a.html>
[19] DILYANA.BG, Dilyana Gaytandzhieva, „Salisbury attack reveals $70 Million Pentagon program at Porton Down“, am 30.4.2018, <http://dilyana.bg/salisbury-attack-reveals-70-million-pentagon-program-at-porton-down/>
[20] <http://dilyana.bg/donate/>
[21] <https://armswatch.com/become-volunteer/>

Das britische Verteidigungsministerium enthüllt:

Die Blutproben der Skripals könnten manipuliert sein

Von Dilyana Gaytandzhieva , veröffentlicht am: 4. März 2022, Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 03.09.2021 auf www.dilyana.bg unter der URL <https://www.dilyana.bg/uk-defense-ministry-document-reveals-skripals-blood-samples-could-have-been-manipulated/> veröffentlicht. Lizenz: Dilyana Gaytandzhieva, dilyana.bg

Sergei Skripal und seine Tochter Julia Julia
(Facebook/Julia Skripal)

Es sind neue Beweise für grobe Verstöße während der britischen Ermittlungen zum mutmaßlichen Giftanschlag auf Sergei und Yulia Skripal in Salisbury am 4. März 2018 aufgetaucht. Die neuen Enthüllungen stellen die wichtigsten Beweise in Frage, nach denen die Skripal‘s mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurden.

Die den Skripal‘s entnommenen Blutproben könnten dahingehend manipuliert worden sein, bei Tests auf Nowitschok positiv auszufallen. Dies geht aus neu veröffentlichten Informationen des britischen Verteidigungsministeriums hervor. Außerdem zeigen die Dokumente, dass Russland nicht das einzige Land der Welt war, das mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok in Verbindung gebracht werden konnte.

Die USA hatten ein Jahrzehnt vor dem Skripal-Anschlag ihr eigenes Nowitschok-Programm verheimlicht und es als Forschung zu Nervenkampfstoffen der vierten Generation getarnt. Der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hatten sie einen Maulkorb verpasst.

Bruch der Beweismittelkette

Neu veröffentlichte Informationen, die das britische Verteidigungsministerium (MOD – Ministry of Defense; Anm. d. Red.) im Rahmen des Gesetzes über die Informationsfreiheit erhalten hat, stellen die Integrität der wichtigsten Beweise für die Vergiftung der Skripal‘s mit Nowitschok in Frage, nämlich ihre Blutproben [1]. Das Ministerium ist für das britische Militärlabor DSTL Porton Down zuständig, welches die Blutproben der Skripal‘s analysierte und angeblich Nowitschok identifizierte.

„Unsere Recherchen haben keine Informationen über den genauen Zeitpunkt der Probenentnahme erbracht“, so das Ministerium. Die dem Verteidigungsministerium vorliegenden Informationen deuten also darauf hin, dass die Proben irgendwann zwischen 16:15 Uhr am 4. März 2018 und 18:45 Uhr am 5. März 2018 entnommen wurden (nach Angaben des Verteidigungsministeriums der ungefähre Zeitpunkt, zu dem die Proben beim DSTL Porton Down eintrafen). Selbst die Ankunftszeit in Porton Down ist als „ungefähr“ angegeben.

Das Fehlen dieser Informationen stellt einen Bruch der Beweismittelkette dar. Das britische NHS-Protokoll schreibt vor, dass allen an das Labor gesendeten Proben ein Anforderungsformular beizufügen ist, auf dem das genaue (nicht ungefähre) Datum und die Uhrzeit der Entnahme angegeben sind [2].

Diese kürzlich enthüllten Informationen stellen die gesamte Geschichte der Skripal-Vergiftung mit Nowitschok in Frage. Die Tatsache, dass die Kontrollkette bei diesen Blutproben unterbrochen wurde, deutet direkt darauf hin, dass sie manipuliert und verfälscht worden sein könnten.

Laut dem Dokument des britischen Verteidigungsministeriums gibt es keine Informationen darüber, wann genau (Datum und Uhrzeit) die Blutproben entnommen wurden. Daher sind diese Proben vor Gericht als Beweismittel unzulässig, da die Proben ohne eine ordnungsgemäße Überwachungskette manipuliert und mit Nowitschok kontaminiert worden sein könnten.

Ein britischer Toxikologe mit umfassenden Kenntnissen auf dem Gebiet der Analyse von Organophosphatpestiziden, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte, hat das MOD-Dokument geprüft:

„Es ist unvorstellbar, dass bei einem Fall von solcher Tragweite und der offensichtlichen Bedeutung aller biologischen Proben die normale und erwartete Probenerfassung und -dokumentation nicht stattgefunden hat. In jedem klinischen oder forensischen Umfeld weiß die Person, die die Probe entnimmt, dass Datum und Uhrzeit aufgezeichnet werden müssen und der Spender eindeutig identifiziert werden muss. In einem Strafverfahren würden die aus diesen Proben gewonnenen Beweise als unzulässig verworfen werden. Gewahrsamsiegel könnten gebrochen und wieder angebracht werden. Bei einer normalen Blutentnahme würde der Spender das Siegel unterschreiben, welches an den Fläschchen angebracht wird. In diesem Fall, wo die Spender offensichtlich bewusstlos waren, würde der Phlebologe [der die Blutprobe entnimmt, Anm. d. Redaktion] die Unterschrift leisten und könnte diese später auf dem Siegel überprüfen. Da wir nicht wissen, wann oder möglicherweise wo die Proben entnommen wurden, wäre es schwierig zu beweisen, dass die Siegel tatsächlich die Originalsiegel sind. Diese protokollarischen Mängel sind entweder Schlamperei oder Verheimlichung.“

Was ist die Beweismittelkette und warum ist sie wichtig?

Die Beweismittelkette ist der wichtigste Prozess der Beweisdokumentation. Der Begriff „Chain of Custody“ (CoC) bezieht sich im juristischen Kontext auf das Kontrollsystem für die Sammlung, Verarbeitung und Lagerung von Proben. Diese Kontrollen verringern die Möglichkeit, dass Proben versehentlich oder böswillig manipuliert werden.

Eine Formularvorlage für die Beweismittelkette (Chain of Custody, CoC) enthält detaillierte Informationen über jede Person, die mit der/den Probe(n) umgeht, vom Zeitpunkt der Entnahme bis zum Erhalt der Probe durch den Analytiker. Diese wesentlichen Informationen fehlen im Fall der Skripal‘s. Selbst die Ankunftszeit in Porton Down ist, laut dem Dokument des britischen Verteidigungsministeriums als „ungefähr“ angegeben, nicht exakt.

Die Beweismittelkette kann unterbrochen sein, wenn:

  1. ein Verwahrungsformular falsch beschriftet ist oder Angaben, wie das genaue Datum und die Uhrzeit der Entgegennahme, der Übergabe und des Empfangs fehlen
  2. wenn der Transfer von Beweismitteln unangemessen lange dauert, oder
  3. wenn Grund zu der Annahme besteht, dass das Beweismittel manipuliert wurde

Obwohl bereits eine der oben genannten Bedingungen ausreicht, um die Beweismittelkette zu unterbrechen, sind im Fall der Skripal‘s alle drei Bedingungen erfüllt:

  1. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums gibt es keine Informationen darüber, wann die Proben entnommen wurden, und die Zeit, zu der sie in Porton Down eintrafen, ist nur ungefähr angegeben (nicht genau).
  2. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums trafen die Blutproben 25 Stunden nach der Einlieferung der Skripal‘s ins Krankenhaus in Porton Down ein. Zum Vergleich: Die Entfernung zwischen dem Bezirkskrankenhaus von Salisbury und Porton Down beträgt nur 13 km oder 18 Minuten Fahrtzeit, was bedeutet, dass die Übergabe der Beweise unverhältnismäßig lange dauerte.
  3. Es gibt vier Gründe für die Annahme, dass die Proben manipuliert worden sind, die da wären:
    3.1. Keine der Personen, die direkten Kontakt mit den Skripal‘s hatten, wurde positiv auf Nowitschok getestet. Nach Angaben der britischen Regierung war das Nervengift auf den Türgriff des Hauses der Skripal‘s gesprüht worden. Yulia und ihr Vater Sergei berührten die Türklinke, und wenige Stunden später brachen die beiden gleichzeitig auf einer Bank in Salisbury zusammen. Wenige Minuten, nachdem sie angeblich durch Berühren der Türklinke vergiftet worden waren, reichten die Skripal‘s drei Kindern Brot, um Enten zu füttern [3]. Eines der Kinder hat das Brot sogar gegessen. Dies wurde durch CCTV-Aufnahmen dokumentiert, welche die Polizei den Eltern zeigte. Trotz des direkten Kontakts entwickelte keines der Kinder Vergiftungssymptome, und ihre Bluttests zeigten keine Spuren von Nowitschok.
    3.2. Man hat uns gesagt, dass Nowitschok der tödlichste Nervenkampfstoff ist, der je entwickelt wurde. Keines der angeblichen „Kreml-Ziele“ (die Skripal‘s und Alexej Nawalny) ist jedoch gestorben, und alle haben sich vollständig erholt, ohne gesundheitliche oder dauerhafte Schäden davongetragen zu haben. Wie ist es möglich, dass der tödlichste Nervenkampfstoff der Welt keinem der anvisierten Opfer Schaden zugefügt hat und sie alle vollständig genesen sind?
    3.3. Sergei Skripal und seine Tochter Yulia wurden mit der Droge Fentanyl vergiftet, nicht mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok, wie aus dem ersten Bericht über den Vorfall hervorgeht [4]. Nachdem ich diesen Bericht auf meinem Twitter-Account veröffentlicht hatte, wurden die Informationen sofort redigiert und die Droge Fentanyl wurde aus der ursprünglichen Version gestrichen.
    3.4 Porton Down, welches die Blutproben erhielt und analysierte, verfügte laut dem britischen Premierminister Boris Johnson [5] bereits vor der angeblichen Vergiftung der Skripal‘s über Nowitschok. Obwohl die britische Regierung öffentlich gelogen hat, dass nur Russland die Quelle des Nervenkampfstoffs Nowitschok gewesen sein kann, könnte, wie sich herausstellt, auch Porton Down die Quelle des Nowitschok-Kampfstoffs gewesen sein. Ganz zufällig genau die Einrichtung, die bei der Untersuchung der Skripal-Blutproben Nowitschok gefunden hat.

Porton Down ist 13 km vom Salisbury District Hospital entfernt.

Der Fall Nawalny

Die Beweismittelkette kann unterbrochen werden, wenn die Übergabe von Beweismitteln unverhältnismäßig lange dauert. Dies ist ebenso der Fall bei einem anderen mutmaßlichen Nervenkampfstoff-Opfer: Alexey Navalny. Seine biologischen Proben wurden in einem deutschen Krankenhaus entnommen und erst mit 5 Tagen Verspätung an die von der OPCW benannten Labore weitergeleitet, wie aus einem OPCW-Dokument hervorgeht [6].

Alexey Navalny erkrankte während eines Fluges von Tomsk nach Moskau am 20. August 2020 und wurde nach einer Notlandung in ein Krankenhaus in Omsk gebracht. Das russische Krankenhaus stellte kein Gift in seinem Blut fest und schrieb seinen Zustand einer Stoffwechselstörung zu. Auf Ersuchen von Nawalnys Ehefrau Julia erlaubte Russland zwei Tage später den Transport des Patienten zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Deutschland gab bekannt, dass Russland Nawalny mit Nowitschock vergiftet hätte und bat die OPCW um Unterstützung. Der folgende von der OPCW beschriebene zeitliche Ablauf der Ereignisse zeigt deutlich, dass die von Nawalny entnommenen biomedizinischen Proben unerklärlicherweise erst mit einer Verzögerung von fünf Tagen (Arbeitstage!) an die von der OPCW benannten Labore weitergeleitet wurden [7]:

Dem OPCW-Bericht zufolge wurden am 6. September biomedizinische Proben von Navalny entnommen. Am 11. September erhielt die OPCW eine Anfrage aus Deutschland (5 Arbeitstage nach der Entnahme der Proben) und schickte sie zur Analyse an die von der OPCW benannten Labore. Laut dem kürzlich freigegebenen Schriftwechsel zwischen Deutschland und der OPCW über die angebliche Vergiftung Nawalnys „sollte die Übermittlung der Proben an die Referenzlabore der OPCW erst nach Zustimmung Deutschlands erfolgen“ [8]. Obwohl die Proben bereits entnommen worden waren, verzögerte Deutschland seine Zustimmung um 5 Tage. Eine Erklärung dafür gibt es nicht.

Wie das Vereinigte Königreich war auch Deutschland vor dem mutmaßlichen Giftanschlag auf Nawalny im Besitz von Nowitschok. Die Probe wurde nach Angaben deutscher Medien in den 1990er Jahren gewonnen. In einem gemeinsamen Bericht der Süddeutschen Zeitung, der Wochenzeitung Die Zeit und der Sender NDR und WDR hieß es, der deutsche BND habe die Probe des Nervenkampfstoffs Nowitschok von einem russischen Wissenschaftler erworben [9]. Dem deutschen Medienbericht zufolge hatte der BND nach der Analyse die US-amerikanischen und britischen Geheimdienste über den Fall informiert, und kleine Mengen des Giftes wurden später in mehreren NATO-Mitgliedstaaten hergestellt. Einer dieser NATO-Mitgliedsstaaten waren die USA.

Dokumente enthüllen, wie die USA ihr eigenes Nowitschok-Programm als Forschung zu FGAs verschleierten

Die US-Armee produzierte Nowitschok A-234 (derselbe Nervenkampfstoff, der auch in den Blutproben der Skripal‘s gefunden wurde) im Jahr 1998 und startete 2002 ein spezielles Nowitschok-Forschungsprogramm, das als Forschung über Nervenkampfstoffe der vierten Generation (FGAs – Fourth Generation Agents; Anm. d. Redaktion) getarnt war, wie aus Dokumenten hervorgeht.

Dennis Rohrbaugh vom Edgewood Research Development and Engineering Center des US Army Chemical and Biological Defense Command fügte das massenspektrometrische Profil des Nowitschok-Nervenkampfstoffs A-234 der Version 1998-2001 (NIST 98) der Massenspektralbibliothek des National Institute of Standards and Technology hinzu [10]. In der biochemischen Anlage in Edgewood wurde A-234 etwa 20 Jahre vor dem Skripal-Anschlag in Salisbury hergestellt, synthetisiert und analysiert.

In der NIST-Ausgabe, die nach der Version von 1998 veröffentlicht wurde, war das Spektrum entfernt worden. Nach Angaben des NIST wurde der Eintrag auf Wunsch einer US-Regierungsstelle zurückgezogen. Die Spektraldatei existiert noch im Archiv, aber seit 1998 in keiner Bibliothek mehr.

Im Jahr 2001 berichtete das Verteidigungsministerium dem US-Kongress, dass russische Wissenschaftler Informationen über eine neue Generation von Wirkstoffen veröffentlicht hatten, die manchmal als „Nowitschoks„ bezeichnet werden [11]. Eine Sondergruppe aus hochrangigen Geheimdienstmitarbeitern und Wissenschaftlern, die Chemical and Biological Agents Action Group (CBAAG), wurde eingerichtet, um sich mit der Bedrohung durch die Wirkstoffe der vierten Generation zu befassen. Zu diesem Zeitpunkt waren nur drei Generationen von Nervenkampfstoffen bekannt. Laut einem DoD-Bericht von 2019 über Nervengifte der vierten Generation [12] gehören Nowitschoks zu dieser Gruppe von Nervenkampfstoffen (FGAs), auch bekannt als Nervenkampfstoffe der A-Serie oder Nowitschok.

In dem Bericht heißt es: „Es ist keine illegale Verwendung oder Herstellung eines FGA oder eines anderen Nervenkampfstoffs in den Vereinigten Staaten bekannt“. Quelle: Fourth Generation Agents: Reference Guide, Januar 2019 [13]

Pentagon-Papiere zeigen genau das Gegenteil. Laut dem Jahresbericht des Verteidigungsministeriums an den Kongress von 2002 [14] haben die USA FGA’s hergestellt.

Im Jahr 2002 startete das Pentagon zwei Programme: TC2 und TC3, die sich mit der Erforschung von Wirkstoffen der vierten Generation (FGAs) befassen. Zu den Zielen von 2002 listet das Dokument auf:

– Initiierung eines Programms für die Synthese, Toxikologie, das Screening und die Charakterisierung neuer Bedrohungsstoffe (einschließlich der Wirkstoffe der vierten Generation), deren dringender Bedarf festgestellt wurde, während gleichzeitig die Notwendigkeit eines langfristigen Bedarfs untersucht werden sollte;

– Bestätigung pathologischer Befunde am Herzen nach Exposition gegenüber FGA’s

– Durchführung einer verbesserten Bewertung medizinischer Gegenmaßnahmen an Meerschweinchen durch Auswertung physiologischer und histopathologischer Parameter. Evaluierung von Bio-Radikalfänger-Vorbehandlungen als medizinische Maßnahme gegen FGA’s bei Meerschweinchen. Durchführung von Studien zur fortgeschrittenen Bewertung (Pharmakokinetik und Bioverfügbarkeit) führender medizinischer Maßnahmen gegen FGA’s bei höheren Tierarten zur Einschätzung der Wirksamkeit beim Menschen.

– Entwicklung von Surrogatmarkern in Meerschweinchen für alternative medizinische Gegenmaßnahmen bei FGA-Exposition. Entwicklung eingrenzender Kriterien für die Auswahl der besten Kandidaten für verbesserte medizinische Gegenmaßnahmen bei FGA-Exposition.

Die USA haben den Vorsitzenden des OPCW-Beirats zum Thema Wirkstoffe der nächsten Generation zum Schweigen gebracht: diplomatische Depesche

Im Februar 2006 erklärte der damalige Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der OPCW, der Tscheche Jiri Matousek, dass im Edgewood Research Development and Engineering Center Nowitschok entwickelt würde. Aus einem diplomatischen Telegramm vom 28. Februar 2006 geht hervor, dass die US-Delegation die OPCW dahingehend belogen hat, dass in Edgewood kein Nowitschok entwickelt werde [15]. Darüber hinaus zwang ein US-Diplomat die Tschechische Republik, Jiri Matousek anzuweisen, in Zukunft nicht mehr öffentlich über Wirkstoffe der nächsten Generation zu sprechen, wie aus einem geheimen diplomatischen Telegramm mit dem Titel: „Czechs muzzle advisory board chairman on Next Generation Agents“ (28. März 2006) [16] hervorgeht.

Clinton an US-Diplomaten: Vermeiden Sie Diskussionen über Kampfstoffe der vierten Generation

In einem geheimen Telegramm eines US-Delegierten an die OPCW vom 26. März 2009 wird berichtet, dass bei einer Sitzung der OPCW-Datenvalidierungsgruppe in Den Haag „Vertreter mehrerer Länder (Finnland, Niederlande, Vereinigtes Königreich) am Rande der Sitzung mit der Diskussion über das Mirzayanov-Buch begonnen haben“ [17]. Wenige Monate zuvor hatte der in die USA übergelaufene ehemalige sowjetische Wissenschaftler Vil Mirzayanov ein Buch veröffentlicht, in dem er die chemischen Formeln einer Reihe von Nowitschok-Nervenkampfstoffen öffentlich machte. Der US-Delegierte bat um weitere Handlungsempfehlungen. Die Depesche war an die CIA, den Nationalen Sicherheitsrat, den Verteidigungsminister und den Außenminister gerichtet.

In einem weiteren Telegramm vom 3. April 2009 wies die damalige Außenministerin Hillary Clinton die US-Delegation in der Australischen Gruppe (informeller Zusammenschluss von 42 Staaten, der sich für die Verhinderung des Exports chemischer und biologischer Waffen einsetzt) an [18]:

– Vermeiden Sie jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Mirazayanov-Buch „State Secrets: An Insider’s View of the Russian Chemical Weapons Program“ („Staatsgeheimnisse: Das russische Chemiewaffenprogramm“ aus Sicht eines Insiders“, Anm.d. Red.) oder die so genannten „Fourth Generation Agents“.

– Wenn AG-Teilnehmer das Buch von Vils Mirazayonov „Staatsgeheimnisse: Das russische Chemiewaffenprogramm aus Sicht eines Insiders“ ansprechen, sollte die Delegation:

– alle Fälle melden, in denen das Buch angesprochen wurde

– weder Gespräche über das Buch anfangen, noch provozieren oder sich inhaltlich beteiligen, wenn es zur Sprache kommt.

– einen Mangel an Kenntnissen zur Thematik um Ausdruck bringen

– im Stillen von inhaltlichen Diskussionen abraten, indem sie vorschlagen, das Thema am besten den Experten (in Großbuchstaben) zu überlassen.

Aus diesen diplomatischen Depeschen geht hervor, dass die US-Forschung an Wirkstoffen der vierten Generation (Nowitschok) mindestens ein Jahrzehnt lang andauerte und aus unbekannten Gründen geheim gehalten wurde. Im Jahr 2012 lagerte das Pentagon einen Großteil seiner Nervenkampfstoff-Forschung an das britische Militärlabor Dstl Porton Down aus, welches Tests mit Nervenkampfstoffen an Tieren durchführte [19]. („Dstl“ steht für „Defense Science and Technology Laboratory“, also ein Labor für Verteidigungswissenschaft und -technologie, Anm. d. Red.). Da Porton Down vor dem Skripal-Anschlag über Nowitschok-Proben verfügte, ist es sehr wahrscheinlich, dass Nowitschok einer der getesteten Nervenkampfstoffe war.

Quellen:

[1] What do they know, Ministry of Defence, „Freedom of information Act 2000 – Internal Review“, am 12.3.2019, <https://www.whatdotheyknow.com/request/539751/response/1327639/attach/3/20190312%20FOI2018%2015985%20Novichok%20Samples%20Rev.pdf>
[2] NHS University Hospital Southampton, „Laboratory medicine“, <https://www.uhs.nhs.uk/HealthProfessionals/PathologyServices/Handbook/LaboratoryMedicine.aspx#specimen>
[3] The Sun, Nick Pisa, „Putin´s Youngest Victim Schoolboy,12, on how he was exposed to deadly poison after Russian spy Sergei Skripal gave him bread to feed ducks in Salisbury“, am 28.3.2018, <https://www.thesun.co.uk/news/5916870/schoolboy-salisbury-nerve-agent-attack/>
[4] Dilyana.bg, Dilyana Gaytandzhieva, „Skripals poisoned with Fentanyl, initial report redacted“, am 3.5.2018, <http://dilyana.bg/skripals-poisoned-with-fentanyl/>
[5] Youtube, „Boris Johnson: Russia´s position in Skripal case is increasingly bizarre“, am 20.3.2018, <https://www.youtube.com/watch?v=CZgGujo2h3A>
[6] OPCW, „Summary of the report on activities carried out in support of a request for technical assistance by Germany“, am 6.10.2020, <https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2020/10/s-1906-2020%28e%29.pdf>
[7] OPCW, „Summary of the report on activities carried out in support of a request for technical assistance by Germany“, am 6.10.2020, <https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2020/10/s-1906-2020%28e%29.pdf>
[8] OPCW, „Correspondence from Germany to the OPCW requesting technical assistance in the case of Mr Alexei Navalny, and associated documents“, am 3.8.2021, <https://www.opcw.org/sites/default/files/documents/2021/08/s-1979-2021%28e%29.pdf>
[9] Reuters, Sabine Siebold und Andrea Shalal, „West´s knowledge of Novichok came from sample secured in 1990s: report“, am 16.5.2018, <https://www.reuters.com/article/us-britain-russia-chemicalweapons-german/wests-knowledge-of-novichok-came-from-sample-secured-in-1990s-report-idUSKCN1IH2HC>
[10] Internet Archiv, <https://archive.org/details/Edgewood>
[11] Department of Defense, „Annual report to Congress and performance plan Juli 2001“, <https://www.hsdl.org/?view&did=1434>
[12] Defense Technical Information Center, „Fourth Generation Agents: Reference Guide“, am 18.1.2019, <https://apps.dtic.mil/sti/citations/AD1066891>
[13] Defense Technical Information Center, „Fourth Generation Agents: Reference Guide“, am 18.1.2019, <https://apps.dtic.mil/sti/citations/AD1066891>
[14] Department of Defense, „Chemical and Biological Defense Program“, April 2002, <https://www.hsdl.org/?view&did=1498>
[15] WikiLeaks, <https://wikileaks.org/plusd/cables/06THEHAGUE450_a.html>
[16] WikiLeaks, <https://search.wikileaks.org/plusd/cables/06PRAGUE319_a.html>
[17] WikiLeaks, <https://wikileaks.org/plusd/cables/09THEHAGUE205_a.html>
[18] WikiLeaks, <https://search.wikileaks.org/plusd/cables/09STATE32931_a.html>
[19] DILYANA.BG, Dilyana Gaytandzhieva, „Salisbury attack reveals $70 Million Pentagon program at Porton Down“, am 30.4.2018, <http://dilyana.bg/salisbury-attack-reveals-70-million-pentagon-program-at-porton-down/>
[20] <http://dilyana.bg/donate/>
[21] <https://armswatch.com/become-volunteer/>