Die falschen Details in der CIA-Coverstory

Das Nord Stream-Geisterschiff

Von Published On: 30. Mai 2023Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 05.04.2023 auf www.seymourhersh.substack.com unter der URL <https://seymourhersh.substack.com/p/the-nord-stream-ghost-ship> veröffentlicht. Lizenz: © Seymour Hersh

Symbolbild (Bild: Pxhere, CC0)

Der amerikanische Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA, Anm. d. Red.) führt ständig verdeckte Operationen in der ganzen Welt durch. Und alle müssen eine Tarngeschichte haben, falls die Dinge schlecht laufen – was oft der Fall ist. Genauso wichtig ist es, eine Erklärung zu haben, wenn die Dinge gut laufen – wie im letzten Herbst in der Ostsee. Innerhalb weniger Wochen nach meinem Bericht, dass Joe Biden die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines angeordnet hat [1], produzierte die Agentur eine Coverstory und fand willige Abnehmer in der New York Times und zwei großen deutschen Publikationen.

Mit der Erfindung einer Geschichte über Tiefseetaucher und eine Besatzung, die nicht existierte, folgte die Behörde dem Protokoll, und die Geschichte wäre Teil der ersten Tage der geheimen Planung zur Zerstörung der Pipelines gewesen. Das wesentliche Element war eine mythische Yacht mit dem ironischen Namen Andromeda – nach der schönen Tochter eines mythischen Königs, die nackt an einen Felsen gekettet wurde. Die Tarngeschichte wurde mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) geteilt und von diesem unterstützt.

Mein ursprünglicher Bericht fand weltweit Beachtung, wurde aber von den großen Zeitungen und Fernsehsendern in den Vereinigten Staaten ignoriert. Als die Geschichte in Europa und anderswo im Ausland Fahrt aufnahm, veröffentlichte die New York Times am 7. März einen Bericht. Darin wurden US-Beamte zitiert, die behaupteten, der amerikanische Geheimdienst habe Informationen gesammelt, die darauf hindeuteten, dass eine pro-ukrainische Gruppe die Pipelines sabotiert habe [2]. In dem Bericht hieß es, dass Beamte, welche die neuen Informationen „geprüft“ hätten, diese als „einen Schritt zur Feststellung der Verantwortung“ für die Sabotage der Pipelines bezeichneten. Die Times-Story erregte weltweites Aufsehen, aber seitdem hat die Zeitung nichts mehr darüber gesagt, wer was getan hat. In einem Interview für einen Times-Podcast erklärte einer der drei Autoren des Artikels versehentlich, warum die Geschichte von Anfang an eine Totgeburt war. Der Autor wurde nach der Beteiligung der angeblichen pro-ukrainischen Gruppe gefragt: „Wie kommen Sie darauf, dass das passiert ist?“ Er antwortete: „Ich sollte ganz klar sagen, dass wir wirklich sehr wenig wissen. Okay?“

Am 3. April berichtete die Washington Post, dass einige europäische Ermittler nun bezweifeln, dass die Andromeda die Pipelines ohne die Hilfe eines zweiten Schiffes sabotiert haben könnte [3]. Einige in Europa fragten sich, ob die Rolle der Andromeda „so etwas wie eine Ablenkung oder doch nur ein Teil des Bildes“ sei. Der Artikel suggerierte nicht, dass die Biden-Administration in die Zerstörung der Pipelines verwickelt war, aber er zitierte einen ungenannten europäischen Diplomaten, der sagte, dass jeder sehen kann, dass dort eine Leiche liegt, aber alle so tun, als ob alles normal wäre. „Es ist besser, nichts zu wissen“, sagte der Diplomat. Kein amerikanischer Beamter wurde von der Washington Post zitiert – auch nicht anonym. Die Biden-Administration ist zu einer Nord Stream-freien Berichterstattungs-Zone geworden.

Hoch die Tassen für die verschiedenen CIA-Beamten, die den Medien im In- und Ausland falsche Geschichten aufgetischt haben, um die Welt auf mögliche Verdächtige außerhalb des logischsten Verdächtigen – des Präsidenten der Vereinigten Staaten – zu lenken.

Die Times berichtete auch, dass ein europäischer Gesetzgeber, der von den Geheimdiensten seines Landes informiert wurde, sagte, dass der Dienst Informationen über etwa fünfundvierzig Schiffe sammelte, deren Transponder nicht funktionierten als sie das Gebiet passierten, in dem die Pipelines gesprengt wurden. Eines dieser so genannten „Geisterschiffe“ könnte die Minen platziert und später den Auslöser betätigt haben.

Nachdem der Artikel der Times online gegangen war, veröffentlichte Die Zeit, Deutschlands größte Wochenzeitung, eilig einen Bericht über eine Untersuchung des Nord Stream-Bombenanschlags, die sie in Zusammenarbeit mit einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender monatelang recherchiert hatten [4]. Die Wochenzeitung hatte etwas Neues: Sie identifizierte eine Yacht, die, wie sie berichtete, „von einer Firma in Polen gemietet wurde, die offenbar zwei Ukrainern gehört“. Zu der Gruppe, welche die Yacht mietete und die Zerstörung der Pipeline durchgeführt haben soll, gehörten angeblich ein Kapitän, zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und ein Arzt. Die von der Zeit als „Attentäter“ bezeichneten Personen, deren Namen weder veröffentlicht noch bekannt sind, sollen gefälschte Pässe benutzt und den benötigten Sprengstoff zum Tatort transportiert haben. Die Yacht soll in die Nähe der dänischen Insel Bornholm – welche wiederum in der Nähe des Ortes der Pipeline-Sabotage liegt – gesegelt sein.

Ruhige Andromeda wartet auf die Opferung, 31.12.1879 (Bild: Gustave Dore, Wikimedia Commons, CC-PD-Mark, PD-old-70-expired)

Die Zeitung berichtete, die Yacht sei der Firma, die sie vermietet hatte – solche Yachten können zweitausend Dollar pro Woche oder mehr kosten – in einem „ungereinigten Zustand“ zurückgegeben worden, so dass deutsche Ermittler auf einem Kabinentisch Spuren eines Sprengstoffs finden konnten. Später hieß es, die Ermittler hätten auch zwei gefälschte ukrainische Pässe auf der Yacht gefunden. In einem späteren Bericht des deutschen Wochenmagazins Der Spiegel hieß es, die fragliche Yacht trüge den Namen Andromeda.

Daraufhin veröffentlichte ich einen Artikel, in dem ich die Vermutung äußerte, dass die Informationen, welche die deutsche Bundespolizei sowohl der Zeit als auch dem Spiegel zur Verfügung gestellt hatte, vom US-Geheimdienst stammten [5]. Der Autor des Zeit-Berichts – Holger Stark, ein erfahrener Journalist, den ich kenne, seit er vor etwa zehn Jahren in Washington gearbeitet hat – wandte sich an mich, um sich über diese Behauptung zu beschweren. Stark sagte mir, er habe ausgezeichnete Quellen bei der deutschen Bundespolizei und habe das, was er getan habe, von diesen Verbindungen erfahren und nicht von irgendeinem Geheimdienst, ob deutsch oder amerikanisch. Ich habe ihm geglaubt und die Geschichte sofort korrigiert.

Ich gebe zu, dass es für jeden Journalisten schwierig ist, über einen Journalistenkollegen zu schreiben, insbesondere über einen guten. Aber in diesem Fall geht es um die Akzeptanz von Tatsachen, die hinterfragt werden sollten. Ich habe Stark zum Beispiel nicht gefragt, ob er sich wundere, warum eine amerikanische Zeitung, die fast viertausend Meilen entfernt ist, dieselbe Behauptung über eine Gruppe ungenannter Ukrainer – die nicht mit der Führung in Kiew in Verbindung stehen – veröffentlichen würde, von der Beamte in Deutschland sagten, sie hätten sie verfolgt. Wir sprachen über eine Tatsache, die er erwähnte: dass Beamte in Deutschland, Schweden und Dänemark kurz nach den Bombenanschlägen auf die Pipeline beschlossen hatten, Teams an den Ort zu schicken, um die eine Mine zu bergen, die nicht explodiert war. Er sagte, sie seien zu spät gekommen; ein amerikanisches Schiff sei innerhalb von ein oder zwei Tagen zur Stelle gewesen und habe die Mine und andere Materialien geborgen. Ich fragte ihn, warum die Amerikaner seiner Meinung nach so schnell vor Ort waren, und er antwortete mit einer Handbewegung: „Sie wissen doch, wie Amerikaner sind. Sie wollen immer die Ersten sein.“ Es gab noch eine andere, sehr offensichtliche Erklärung.

Der Trick einer guten Propaganda-Operation besteht darin, den Zielpersonen – in diesem Fall den westlichen Medien – das zu liefern, was sie hören wollen. Ein Geheimdienst-Experte drückte es für mich noch prägnanter aus: „Wenn man eine Operation wie die mit den Pipelines durchführt, muss man eine Gegenoperation planen – ein Ablenkungsmanöver, das einen Hauch von Realität enthält. Und es muss so detailliert wie möglich sein, damit es geglaubt wird.“

„Die Menschen haben heute vergessen, dass es so etwas wie eine Parodie gibt“, sagte der Experte. „Gilbert und Sullivans HMS Pinafore ist keine Geschichte der Royal Navy im 19. Jahrhundert. Es ist eine Parodie. Das Ziel der CIA im Fall der Pipeline war es, eine Parodie zu produzieren, die so gut war, dass die Presse sie glauben würde. Aber wo soll man anfangen? Man kann die Pipelines nicht durch eine Bombe aus einem Flugzeug oder durch Matrosen auf einem Gummiboot zerstören lassen.“

„Aber warum nicht ein Segelboot? Jeder ernsthafte Analyst des Ereignisses würde wissen, dass man ein Segelboot nicht in Gewässern ankern kann, die 260 Fuß (ca. 80 Meter, Anm. d. Red.) tief sind“ – die Tiefe, in der die vier Pipelines zerstört wurden – „aber die Geschichte war nicht an solche Analysten gerichtet, sondern an die Presse, die eine Parodie nicht erkennt, wenn sie ihr vorgelegt wird.“

Der Geheimdienst-Experte zählte alle Elemente auf, die erforderlich sind, bevor eine Einzelperson oder eine Gruppe eine teure Yacht chartern kann. „Man kann nicht einfach mit einem gefälschten Pass auf die Straße gehen und ein Boot mieten. Man muss entweder einen Kapitän akzeptieren, der vom Vermieter oder vom Eigentümer der Yacht gestellt wird, oder einen Kapitän, der über ein Befähigungszeugnis verfügt, wie es das Seerecht vorschreibt. Jeder, der schon einmal eine Yacht gechartert hat, weiß das.“ Ein ähnlicher Nachweis von Sachkenntnis und Kompetenz für Tiefseetauchen, bei dem ein spezielles Gasgemisch verwendet wird, wäre von den Tauchern und dem Arzt zu erbringen.

Der Experte hatte noch weitere Fragen zu der angeblichen Yacht. „Wie kann ein 49-Fuß-Segelboot (ca. 15 Meter, Anm. d. Red.) die Pipelines in der Ostsee finden? Die Pipelines sind nicht so groß, und sie sind nicht auf den Karten verzeichnet, die mit dem Mietvertrag geliefert werden. Vielleicht wollte man die beiden Taucher ins Wasser lassen“ – was von einer kleinen Yacht aus nicht so einfach ist – „und die Taucher danach suchen lassen. Wie lange kann ein Taucher in seinem Anzug unten bleiben? Vielleicht fünfzehn Minuten. Das bedeutet, dass ein Taucher vier Jahre bräuchte, um eine Quadratmeile abzusuchen.“

„Keine dieser Fragen wird von den Medien gestellt. Sie haben also sechs Personen auf der Yacht – zwei Taucher, zwei Helfer, einen Arzt und einen Kapitän, der das Boot gemietet hat. Eine Sache fehlt – wer wird die Besatzung der Yacht sein? Oder der Koch? Was ist mit dem Logbuch, das die Leasingfirma aus rechtlichen Gründen führen muss?“

„Das ist alles nicht passiert“, sagte der Experte. „Hören Sie auf, das mit der ­Realität zu verbinden. Es ist eine Parodie.“

Die Berichte in der New York Times und der europäischen Presse enthalten keinen Hinweis darauf, dass ein Journalist an Bord gehen und die fragliche Yacht physisch untersuchen konnte. Sie erklären auch nicht, warum die Passagiere einer Yacht nach einer Anmietung gefälschte oder andere Pässe an Bord zurücklassen würden. Es wurden Fotos eines im Trockendock liegenden Segelbootes namens Andromeda veröffentlicht.

Nichts von alledem kann eine schlechte Tarngeschichte retten, sagte mir der Geheimdienst-Experte. „Der Versuch, aus der Fiktion eine Wahrheit zu machen, wird ewig weitergehen. Jetzt ist es das Bild eines Segelbootes, das nach den Ermittlungen auftaucht und nicht zurückverfolgt werden kann – ohne Nummernschild, wo es eigentlich hingehört. Die Andromeda hat in der Presse den Piltdown-Menschen ersetzt.“

(Als Piltdown-Mensch wurden gefälschte Überreste eines Frühmenschen bezeichnet, Anm. d. Red.)

Der Experte hatte noch einen letzten Gedanken: „In der Welt der professionellen Analysten und Operatoren wird jeder aus Ihrer Geschichte allgemein und korrekt schließen, dass die teuflische CIA eine Gegen-Operation ausgeheckt hat, die auf den ersten Blick so lächerlich und kindisch ist, dass der wahre Zweck darin bestand, die Wahrheit zu bekräftigen.“

Quellen:

[1] Substack Blog, Seymour Hersh „How America Took Out The Nord Stream Pipeline”, am 8.2.2023: <https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream>,
Free21, Seymour Hersh „Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline ausschaltete”, am 17.2.2023: <https://free21.org/wie-amerika-die-nord-stream-pipeline-ausschaltete/>
[2] New York Times, Adam Entous, Julian E. Barnes & Adam Goldman „Intelligence Suggests Pro-Ukrainian Group Sabotaged Pipelines, U.S. Officials Say”, am 7.3.2023: <https://www.nytimes.com/2023/03/07/us/politics/nord-stream-pipeline-sabotage-ukraine.html>
[3] Washington Post, Shane Harris, Souad Mekhennet, Loveday Morris, Michael Birnbaum & Kate Brady „Investigators skeptical of yacht’s role in Nord Stream bombing”, am 3.4.2023: <https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/03/nord-stream-bombing-yacht-andromeda/>
[4] Zeit Online, Holger Stark „Nord-Stream-Ermittlungen: Spuren führen in die Ukraine”, am 7.3.2023: <https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/nordstream-2-ukraine-anschlag>
[5] Substack Blog, Seymour Hersh „THE COVER-UP – The Biden Administration continues to conceal its responsibility for the destruction of the Nord Stream pipelines”, am 22.3.2023: <https://seymourhersh.substack.com/p/the-cover-up>,
Free21, Seymour Hersh „Die Vertuschung – Die Biden-Regierung verschleiert weiterhin ihre Verantwortung für die Zerstörung der Nordstream-Pipelines”, am 27.3.2023: <https://free21.org/die-vertuschung/>

Die falschen Details in der CIA-Coverstory

Das Nord Stream-Geisterschiff

Von Published On: 30. Mai 2023Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 05.04.2023 auf www.seymourhersh.substack.com unter der URL <https://seymourhersh.substack.com/p/the-nord-stream-ghost-ship> veröffentlicht. Lizenz: © Seymour Hersh

Symbolbild (Bild: Pxhere, CC0)

Der amerikanische Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA, Anm. d. Red.) führt ständig verdeckte Operationen in der ganzen Welt durch. Und alle müssen eine Tarngeschichte haben, falls die Dinge schlecht laufen – was oft der Fall ist. Genauso wichtig ist es, eine Erklärung zu haben, wenn die Dinge gut laufen – wie im letzten Herbst in der Ostsee. Innerhalb weniger Wochen nach meinem Bericht, dass Joe Biden die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines angeordnet hat [1], produzierte die Agentur eine Coverstory und fand willige Abnehmer in der New York Times und zwei großen deutschen Publikationen.

Mit der Erfindung einer Geschichte über Tiefseetaucher und eine Besatzung, die nicht existierte, folgte die Behörde dem Protokoll, und die Geschichte wäre Teil der ersten Tage der geheimen Planung zur Zerstörung der Pipelines gewesen. Das wesentliche Element war eine mythische Yacht mit dem ironischen Namen Andromeda – nach der schönen Tochter eines mythischen Königs, die nackt an einen Felsen gekettet wurde. Die Tarngeschichte wurde mit dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) geteilt und von diesem unterstützt.

Mein ursprünglicher Bericht fand weltweit Beachtung, wurde aber von den großen Zeitungen und Fernsehsendern in den Vereinigten Staaten ignoriert. Als die Geschichte in Europa und anderswo im Ausland Fahrt aufnahm, veröffentlichte die New York Times am 7. März einen Bericht. Darin wurden US-Beamte zitiert, die behaupteten, der amerikanische Geheimdienst habe Informationen gesammelt, die darauf hindeuteten, dass eine pro-ukrainische Gruppe die Pipelines sabotiert habe [2]. In dem Bericht hieß es, dass Beamte, welche die neuen Informationen „geprüft“ hätten, diese als „einen Schritt zur Feststellung der Verantwortung“ für die Sabotage der Pipelines bezeichneten. Die Times-Story erregte weltweites Aufsehen, aber seitdem hat die Zeitung nichts mehr darüber gesagt, wer was getan hat. In einem Interview für einen Times-Podcast erklärte einer der drei Autoren des Artikels versehentlich, warum die Geschichte von Anfang an eine Totgeburt war. Der Autor wurde nach der Beteiligung der angeblichen pro-ukrainischen Gruppe gefragt: „Wie kommen Sie darauf, dass das passiert ist?“ Er antwortete: „Ich sollte ganz klar sagen, dass wir wirklich sehr wenig wissen. Okay?“

Am 3. April berichtete die Washington Post, dass einige europäische Ermittler nun bezweifeln, dass die Andromeda die Pipelines ohne die Hilfe eines zweiten Schiffes sabotiert haben könnte [3]. Einige in Europa fragten sich, ob die Rolle der Andromeda „so etwas wie eine Ablenkung oder doch nur ein Teil des Bildes“ sei. Der Artikel suggerierte nicht, dass die Biden-Administration in die Zerstörung der Pipelines verwickelt war, aber er zitierte einen ungenannten europäischen Diplomaten, der sagte, dass jeder sehen kann, dass dort eine Leiche liegt, aber alle so tun, als ob alles normal wäre. „Es ist besser, nichts zu wissen“, sagte der Diplomat. Kein amerikanischer Beamter wurde von der Washington Post zitiert – auch nicht anonym. Die Biden-Administration ist zu einer Nord Stream-freien Berichterstattungs-Zone geworden.

Hoch die Tassen für die verschiedenen CIA-Beamten, die den Medien im In- und Ausland falsche Geschichten aufgetischt haben, um die Welt auf mögliche Verdächtige außerhalb des logischsten Verdächtigen – des Präsidenten der Vereinigten Staaten – zu lenken.

Die Times berichtete auch, dass ein europäischer Gesetzgeber, der von den Geheimdiensten seines Landes informiert wurde, sagte, dass der Dienst Informationen über etwa fünfundvierzig Schiffe sammelte, deren Transponder nicht funktionierten als sie das Gebiet passierten, in dem die Pipelines gesprengt wurden. Eines dieser so genannten „Geisterschiffe“ könnte die Minen platziert und später den Auslöser betätigt haben.

Nachdem der Artikel der Times online gegangen war, veröffentlichte Die Zeit, Deutschlands größte Wochenzeitung, eilig einen Bericht über eine Untersuchung des Nord Stream-Bombenanschlags, die sie in Zusammenarbeit mit einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender monatelang recherchiert hatten [4]. Die Wochenzeitung hatte etwas Neues: Sie identifizierte eine Yacht, die, wie sie berichtete, „von einer Firma in Polen gemietet wurde, die offenbar zwei Ukrainern gehört“. Zu der Gruppe, welche die Yacht mietete und die Zerstörung der Pipeline durchgeführt haben soll, gehörten angeblich ein Kapitän, zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und ein Arzt. Die von der Zeit als „Attentäter“ bezeichneten Personen, deren Namen weder veröffentlicht noch bekannt sind, sollen gefälschte Pässe benutzt und den benötigten Sprengstoff zum Tatort transportiert haben. Die Yacht soll in die Nähe der dänischen Insel Bornholm – welche wiederum in der Nähe des Ortes der Pipeline-Sabotage liegt – gesegelt sein.

Ruhige Andromeda wartet auf die Opferung, 31.12.1879 (Bild: Gustave Dore, Wikimedia Commons, CC-PD-Mark, PD-old-70-expired)

Die Zeitung berichtete, die Yacht sei der Firma, die sie vermietet hatte – solche Yachten können zweitausend Dollar pro Woche oder mehr kosten – in einem „ungereinigten Zustand“ zurückgegeben worden, so dass deutsche Ermittler auf einem Kabinentisch Spuren eines Sprengstoffs finden konnten. Später hieß es, die Ermittler hätten auch zwei gefälschte ukrainische Pässe auf der Yacht gefunden. In einem späteren Bericht des deutschen Wochenmagazins Der Spiegel hieß es, die fragliche Yacht trüge den Namen Andromeda.

Daraufhin veröffentlichte ich einen Artikel, in dem ich die Vermutung äußerte, dass die Informationen, welche die deutsche Bundespolizei sowohl der Zeit als auch dem Spiegel zur Verfügung gestellt hatte, vom US-Geheimdienst stammten [5]. Der Autor des Zeit-Berichts – Holger Stark, ein erfahrener Journalist, den ich kenne, seit er vor etwa zehn Jahren in Washington gearbeitet hat – wandte sich an mich, um sich über diese Behauptung zu beschweren. Stark sagte mir, er habe ausgezeichnete Quellen bei der deutschen Bundespolizei und habe das, was er getan habe, von diesen Verbindungen erfahren und nicht von irgendeinem Geheimdienst, ob deutsch oder amerikanisch. Ich habe ihm geglaubt und die Geschichte sofort korrigiert.

Ich gebe zu, dass es für jeden Journalisten schwierig ist, über einen Journalistenkollegen zu schreiben, insbesondere über einen guten. Aber in diesem Fall geht es um die Akzeptanz von Tatsachen, die hinterfragt werden sollten. Ich habe Stark zum Beispiel nicht gefragt, ob er sich wundere, warum eine amerikanische Zeitung, die fast viertausend Meilen entfernt ist, dieselbe Behauptung über eine Gruppe ungenannter Ukrainer – die nicht mit der Führung in Kiew in Verbindung stehen – veröffentlichen würde, von der Beamte in Deutschland sagten, sie hätten sie verfolgt. Wir sprachen über eine Tatsache, die er erwähnte: dass Beamte in Deutschland, Schweden und Dänemark kurz nach den Bombenanschlägen auf die Pipeline beschlossen hatten, Teams an den Ort zu schicken, um die eine Mine zu bergen, die nicht explodiert war. Er sagte, sie seien zu spät gekommen; ein amerikanisches Schiff sei innerhalb von ein oder zwei Tagen zur Stelle gewesen und habe die Mine und andere Materialien geborgen. Ich fragte ihn, warum die Amerikaner seiner Meinung nach so schnell vor Ort waren, und er antwortete mit einer Handbewegung: „Sie wissen doch, wie Amerikaner sind. Sie wollen immer die Ersten sein.“ Es gab noch eine andere, sehr offensichtliche Erklärung.

Der Trick einer guten Propaganda-Operation besteht darin, den Zielpersonen – in diesem Fall den westlichen Medien – das zu liefern, was sie hören wollen. Ein Geheimdienst-Experte drückte es für mich noch prägnanter aus: „Wenn man eine Operation wie die mit den Pipelines durchführt, muss man eine Gegenoperation planen – ein Ablenkungsmanöver, das einen Hauch von Realität enthält. Und es muss so detailliert wie möglich sein, damit es geglaubt wird.“

„Die Menschen haben heute vergessen, dass es so etwas wie eine Parodie gibt“, sagte der Experte. „Gilbert und Sullivans HMS Pinafore ist keine Geschichte der Royal Navy im 19. Jahrhundert. Es ist eine Parodie. Das Ziel der CIA im Fall der Pipeline war es, eine Parodie zu produzieren, die so gut war, dass die Presse sie glauben würde. Aber wo soll man anfangen? Man kann die Pipelines nicht durch eine Bombe aus einem Flugzeug oder durch Matrosen auf einem Gummiboot zerstören lassen.“

„Aber warum nicht ein Segelboot? Jeder ernsthafte Analyst des Ereignisses würde wissen, dass man ein Segelboot nicht in Gewässern ankern kann, die 260 Fuß (ca. 80 Meter, Anm. d. Red.) tief sind“ – die Tiefe, in der die vier Pipelines zerstört wurden – „aber die Geschichte war nicht an solche Analysten gerichtet, sondern an die Presse, die eine Parodie nicht erkennt, wenn sie ihr vorgelegt wird.“

Der Geheimdienst-Experte zählte alle Elemente auf, die erforderlich sind, bevor eine Einzelperson oder eine Gruppe eine teure Yacht chartern kann. „Man kann nicht einfach mit einem gefälschten Pass auf die Straße gehen und ein Boot mieten. Man muss entweder einen Kapitän akzeptieren, der vom Vermieter oder vom Eigentümer der Yacht gestellt wird, oder einen Kapitän, der über ein Befähigungszeugnis verfügt, wie es das Seerecht vorschreibt. Jeder, der schon einmal eine Yacht gechartert hat, weiß das.“ Ein ähnlicher Nachweis von Sachkenntnis und Kompetenz für Tiefseetauchen, bei dem ein spezielles Gasgemisch verwendet wird, wäre von den Tauchern und dem Arzt zu erbringen.

Der Experte hatte noch weitere Fragen zu der angeblichen Yacht. „Wie kann ein 49-Fuß-Segelboot (ca. 15 Meter, Anm. d. Red.) die Pipelines in der Ostsee finden? Die Pipelines sind nicht so groß, und sie sind nicht auf den Karten verzeichnet, die mit dem Mietvertrag geliefert werden. Vielleicht wollte man die beiden Taucher ins Wasser lassen“ – was von einer kleinen Yacht aus nicht so einfach ist – „und die Taucher danach suchen lassen. Wie lange kann ein Taucher in seinem Anzug unten bleiben? Vielleicht fünfzehn Minuten. Das bedeutet, dass ein Taucher vier Jahre bräuchte, um eine Quadratmeile abzusuchen.“

„Keine dieser Fragen wird von den Medien gestellt. Sie haben also sechs Personen auf der Yacht – zwei Taucher, zwei Helfer, einen Arzt und einen Kapitän, der das Boot gemietet hat. Eine Sache fehlt – wer wird die Besatzung der Yacht sein? Oder der Koch? Was ist mit dem Logbuch, das die Leasingfirma aus rechtlichen Gründen führen muss?“

„Das ist alles nicht passiert“, sagte der Experte. „Hören Sie auf, das mit der ­Realität zu verbinden. Es ist eine Parodie.“

Die Berichte in der New York Times und der europäischen Presse enthalten keinen Hinweis darauf, dass ein Journalist an Bord gehen und die fragliche Yacht physisch untersuchen konnte. Sie erklären auch nicht, warum die Passagiere einer Yacht nach einer Anmietung gefälschte oder andere Pässe an Bord zurücklassen würden. Es wurden Fotos eines im Trockendock liegenden Segelbootes namens Andromeda veröffentlicht.

Nichts von alledem kann eine schlechte Tarngeschichte retten, sagte mir der Geheimdienst-Experte. „Der Versuch, aus der Fiktion eine Wahrheit zu machen, wird ewig weitergehen. Jetzt ist es das Bild eines Segelbootes, das nach den Ermittlungen auftaucht und nicht zurückverfolgt werden kann – ohne Nummernschild, wo es eigentlich hingehört. Die Andromeda hat in der Presse den Piltdown-Menschen ersetzt.“

(Als Piltdown-Mensch wurden gefälschte Überreste eines Frühmenschen bezeichnet, Anm. d. Red.)

Der Experte hatte noch einen letzten Gedanken: „In der Welt der professionellen Analysten und Operatoren wird jeder aus Ihrer Geschichte allgemein und korrekt schließen, dass die teuflische CIA eine Gegen-Operation ausgeheckt hat, die auf den ersten Blick so lächerlich und kindisch ist, dass der wahre Zweck darin bestand, die Wahrheit zu bekräftigen.“

Quellen:

[1] Substack Blog, Seymour Hersh „How America Took Out The Nord Stream Pipeline”, am 8.2.2023: <https://seymourhersh.substack.com/p/how-america-took-out-the-nord-stream>,
Free21, Seymour Hersh „Wie Amerika die Nord Stream-Pipeline ausschaltete”, am 17.2.2023: <https://free21.org/wie-amerika-die-nord-stream-pipeline-ausschaltete/>
[2] New York Times, Adam Entous, Julian E. Barnes & Adam Goldman „Intelligence Suggests Pro-Ukrainian Group Sabotaged Pipelines, U.S. Officials Say”, am 7.3.2023: <https://www.nytimes.com/2023/03/07/us/politics/nord-stream-pipeline-sabotage-ukraine.html>
[3] Washington Post, Shane Harris, Souad Mekhennet, Loveday Morris, Michael Birnbaum & Kate Brady „Investigators skeptical of yacht’s role in Nord Stream bombing”, am 3.4.2023: <https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/03/nord-stream-bombing-yacht-andromeda/>
[4] Zeit Online, Holger Stark „Nord-Stream-Ermittlungen: Spuren führen in die Ukraine”, am 7.3.2023: <https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/nordstream-2-ukraine-anschlag>
[5] Substack Blog, Seymour Hersh „THE COVER-UP – The Biden Administration continues to conceal its responsibility for the destruction of the Nord Stream pipelines”, am 22.3.2023: <https://seymourhersh.substack.com/p/the-cover-up>,
Free21, Seymour Hersh „Die Vertuschung – Die Biden-Regierung verschleiert weiterhin ihre Verantwortung für die Zerstörung der Nordstream-Pipelines”, am 27.3.2023: <https://free21.org/die-vertuschung/>