Wir haben keine Antworten, wir haben Fragen. Dringende.

Wir wissen nicht, wie wir die vom Kapital verursachte Zerstörung des Planeten aufhalten können – aber indem wir die richtigen Fragen stellen, können wir zusammen einen Weg nach vorne finden. Dies ist eine angepasste Version des Vortrags von John Holloway auf der Konferenz „Crisis of Nation States – Anarchist Answers“ [1].

Von Published On: 31. Oktober 2021Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 01.05.2021 auf www.roarmag.org unter der URL <https://roarmag.org/essays/holloway-asking-questions/> veröffentlicht. Lizenz: John Holloway/ROAR, Lizenzart: CC BY-NC-ND 4.0

Foto: Pixabay, chenspec, Pixabay License

Wir leben in einem gescheiterten System. Es wird jeden Tag deutlicher, dass die derzeitige Organisation der Gesellschaft eine Katastrophe ist, dass der Kapitalismus nicht fähig ist, eine akzeptable Lebensweise zu sichern. Die COVID-19-Pandemie ist kein natürliches Phänomen, sondern das Ergebnis der gesellschaftlichen Zerstörung der Artenvielfalt – und weitere Pandemien werden wahrscheinlich folgen. Die globale Erwärmung, die eine Bedrohung sowohl für menschliches als auch für viele Formen nicht-menschlichen Lebens darstellt, ist das Ergebnis der kapitalistischen Zerstörung etablierter Gleichgewichte. Die Akzeptanz des Geldes als vorherrschendes Maß sozialen Wertes, zwingt einen großen Teil der Weltbevölkerung dazu, unter elenden und prekären Bedingungen zu leben.

Die vom Kapitalismus verursachte Zerstörung beschleunigt sich. Wachsende Ungleichheit, eine Zunahme rassistischer Gewalt, die Ausbreitung des Faschismus, zunehmende Spannungen zwischen Staaten und die Anhäufung von Macht durch Polizei und Militär. Darüber hinaus beruht das Überleben des Kapitalismus auf einer ständig wachsenden Verschuldung, die irgendwann zum Zusammenbruch verurteilt ist. 

Die Situation ist dringlich, wir Menschen stehen jetzt vor der realen Möglichkeit unseres eigenen Aussterbens.Wie kommen wir hier wieder raus? Die traditionelle Antwort derer, die sich der Tragweite der sozialen Probleme bewusst sind, lautet: durch den Staat. Politische Denker und Politiker von Hegel über Keynes und Roosevelt bis hin zu Biden haben den Staat als Gegengewicht zur Zerstörung durch das Wirtschaftssystem gesehen. Staaten werden das Problem der globalen Erwärmung lösen; Staaten werden die Zerstörung der Biodiversität beenden; Staaten werden die enorme Not und Armut lindern, die aus der gegenwärtigen Krise resultiert. Wählen Sie einfach die richtigen Politiker und alles wird gut. Und wenn Sie sehr besorgt sind über das, was passiert, wählen Sie einfach radikalere Führer – Sanders, Corbyn oder Die Linke oder Podemos, Evo Morales, Maduro oder López Obrador – und alles wird gut.

Das Problem mit diesem Argument ist, dass die Erfahrung uns sagt, dass es nicht funktioniert. Linke Politiker haben ihre Versprechen nie erfüllt, haben nie die Veränderungen herbeigeführt, die sie versprochen haben. In Lateinamerika sind die linken Politiker, die mit der sogenannten Rosa Welle zu Beginn dieses Jahrhunderts an die Macht kamen, eng mit dem Extraktivismus [2] und anderen Formen der zerstörerischen Entwicklung verbunden. Der Tren Maya, das derzeitige Lieblingsprojekt des mexikanischen Präsidenten López Obrador in Mexiko, ist nur das jüngste Beispiel dafür [3]. Linke Parteien und Politiker können vielleicht kleine Veränderungen herbeiführen, aber sie haben nichts getan, um die destruktive Dynamik des Kapitals zu brechen.

Der Staat ist nicht die Antwort

Nicht nur die Erfahrung sagt uns, dass der Staat nicht das Gegengewicht zum Kapital ist, auch wenn manche es so darstellen, auch theoretische Überlegungen besagen dies. Der Staat, der vom Kapital getrennt zu sein scheint, wird in Wirklichkeit vom Kapital erzeugt und ist in seiner Existenz vom Kapital abhängig. Der Staat ist kein Kapitalist und seine Arbeiter generieren im Großen und Ganzen nicht das Einkommen, das er für seine Existenz benötigt. Dieses Einkommen stammt aus der Ausbeutung von Arbeitern durch das Kapital, sodass der Staat tatsächlich auf diese Ausbeutung, d.h. auf die Akkumulation von Kapital, angewiesen ist, um seine eigene Existenz zu erhalten.

Gerade durch seine Form ist er gezwungen, die Akkumulation von Kapital zu fördern. Auch das Kapital ist auf die Existenz des Staates angewiesen, die sich nicht wie ein Kapitalist verhält und die scheinbar völlig unabhängig vom Kapital ist, um seine eigene Reproduktion zu sichern. Der Staat scheint das Zentrum der Macht zu sein, aber in Wirklichkeit liegt die Macht bei den Kapitaleignern, d.h. bei jenen Personen, die ihre Existenz der Expansion des Kapitals widmen. Mit anderen Worten: Der Staat ist kein Gegengewicht zum Kapital, er ist Teil der gleichen unkontrollierbaren Zerstörungsdynamik.

Die Tatsache, dass der Staat an das Kapital gebunden ist, bedeutet, dass er uns ausschließt. Die staatliche Demokratie ist ein Ausschlussverfahren, das besagt: „Kommt alle vier oder fünf Jahre zur Wahl, dann geht nach Hause und akzeptiert, was wir entscheiden.“ Der Staat ist die Existenz eines Gremiums von Vollzeit-Beamten, die die Verantwortung für das Wohlergehen der Gesellschaft übernehmen – natürlich in einer Weise, die mit der Reproduktion des Kapitals vereinbar ist. Indem sie sich diese Verantwortung anmaßen, nehmen sie sie uns ab. Aber unabhängig von ihren Absichten sind sie nicht in der Lage, diese Verantwortung zu erfüllen, weil sie nicht über die Gegenmacht verfügen, die sie zu haben scheinen: Was sie tun und wie sie es tun, ist von der Notwendigkeit geprägt, die Reproduktion des Kapitals sicherzustellen.

So sprechen Politiker gerade jetzt von der Notwendigkeit eines radikalen politischen Richtungswechsels, wenn die Welt aus der Pandemie herauskommt, aber kein einziger Politiker oder Regierungsbeamter deutet auch nur an, dass ein Teil dieses Richtungswechsels die Abschaffung eines auf dem Profitstreben basierenden Systems sein muss. Wenn der Staat nicht die Antwort hinsichtlich der Beendigung der kapitalistischen Zerstörung ist, dann folgt daraus, dass es auch nicht die Antwort sein kann unsere Sorgen in politischen Parteien zu kanalisieren, da Parteien Organisationen sind, die darauf abzielen, Veränderungen durch den Staat herbeizuführen. Versuche, radikale Veränderungen durch Parteien und die Übernahme staatlicher Macht herbeizuführen, sind in der Regel in der Schaffung autoritärer Regime gemündet, die mindestens genauso schlimm waren wie die, die sie zu verändern versuchten.

Fragend gehen wir voran

Wenn der Staat also nicht die Antwort ist, an wen oder was richten wir uns dann? Wie kommen wir hier wieder raus? Wir kommen natürlich zu einer Konferenz wie dieser [4], um anarchistische Antworten zu diskutieren. Aber es gibt mindestens drei Probleme: 

  1. Die Millionen Menschen sind nicht hier, die wir für einen wirklichen Richtungswechsel brauchen.
  2. Wir haben keine Antworten.
  3. Das Etikett „Anarchist“ ist wahrscheinlich nicht hilfreich.

Warum sind die Millionen Menschen nicht hier? 

Es gibt sicherlich ein weit verbreitetes, wachsendes Gefühl der Wut, der Verzweiflung und ein Bewusstsein dafür, dass das System nicht funktioniert. Aber warum wird diese Wut entweder auf links-reformistische Parteien und Kandidaten (Die Linke, Sanders, Corbyn, Tsipras) oder auf die extreme Rechte projiziert und nicht auf Bemühungen, die gegen das System und darüber hinaus gehen? Es gibt viele Erklärungen, aber eine, die mir wichtig erscheint, ist die Bemerkung von Leonidas Oikonomakis zur Wahl von Syriza in Griechenland 2015, dass, selbst nach Jahren sehr militanter antistaatlicher Proteste gegen die Austeritätsmaßnahmen, die Menschen immer noch den Eindruck hatten, dass der Staat „das einzige Spiel in der Stadt“ sei [5].

Wenn wir an die globale Erwärmung denken, an die Beendigung der Gewalt gegen Frauen, an die Bekämpfung der Pandemie, an die Lösung unserer wirtschaftlichen Verzweiflung in der gegenwärtigen Krise, ist es immer noch schwer, nicht zu denken, der Staat sei der Ort, wo die Antworten lägen – selbst wenn wir wissen, dass er es nicht ist.

Vielleicht müssen wir die Idee von Antworten aufgeben. Wir haben keine Antworten. Es kann nicht darum gehen, die anarchistischen Antworten den staatlichen Antworten entgegenzusetzen. Der Staat gibt Antworten, falsche Antworten. Wir haben Fragen, dringende Fragen, neue Fragen, denn diese Situation der drohenden Auslöschung hat es noch nie gegeben. Wie können wir die zerstörerische Dynamik des Kapitals stoppen? Die einzige Antwort die wir haben, ist, dass wir es nicht wissen.

Es ist wichtig zu sagen, dass wir es nicht wissen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil es wahr ist. Wir wissen nicht, wie wir die gegenwärtige Katastrophe beenden können. Wir haben Ideen, aber wir wissen es wirklich nicht. Und zweitens, weil eine Politik der Fragen etwas ganz anderes ist als eine Politik der Antworten. 

Wenn wir die Antworten haben, ist es unsere Pflicht, sie den anderen zu erklären. Das ist es, was der Staat tut, das ist es, was vanguardistische Parteien tun. Wenn wir Fragen haben, aber keine Antworten, dann müssen wir sie gemeinsam diskutieren und versuchen, Wege nach vorn zu finden. „Preguntando caminamos“, wie die Zapatistas sagen: „Fragend gehen wir voran.“

Der Prozess des Fragens und Zuhörens ist nicht der Weg zu einer anderen Gesellschaft, er ist bereits die Schaffung einer anderen Gesellschaft. Das Fragen-Zuhören ist bereits ein gegenseitiges Anerkennen unserer unterschiedlichen Würden. Wir fragen-und-hören dir zu, weil wir deine Würde anerkennen. Das ist das Gegenteil von staatlicher Politik. Der Staat redet. Er gibt vor, zu fragen-und-zuzuhören, aber er tut es nicht und kann es nicht, weil seine Existenz davon abhängt, dass er eine Form der sozialen Organisation wiederherstellt, die auf dem Kommando des Geldes basiert.

Unser Fragen-Zuhören ist eine anti-identitäre Bewegung. Wir erkennen deine Würde nicht deshalb an, weil du Anarchist oder Kommunist bist, oder Deutscher, Österreicher, Mexikaner oder Ire, oder weil du eine Frau, ein Schwarzer oder Inder bist. Etiketten sind sehr gefährlich – selbst wenn es „nette“ Etiketten sind – weil sie identitäre Unterscheidungen schaffen. Zu sagen: „wir sind Anarchisten“. ist ein Widerspruch in sich, weil es die identitäre Logik des Staates reproduziert: Wir sind Anarchisten, ihr seid es nicht; wir sind Deutsche, ihr seid es nicht. Wenn wir gegen den Staat sind, dann sind wir gegen seine Logik, gegen seine Grammatik.

Eine Bewegung der Selbstbestimmung

Wir haben keine Antworten, aber unser „vorwärts Gehen-Fragen“ beginnt nicht bei Null. Es ist Teil einer langen Geschichte des Gehen-Fragens. Gerade in diesen Tagen begehen wir den 150. Jahrestag der Pariser Kommune [6] und den hundertsten Jahrestag des Kronstädter Aufstands [7]. In der Gegenwart können wir uns von den Erfahrungen der Zapatistas inspirieren lassen, die gerade ihre Reise über den Atlantik vorbereiten, um sich diesen Sommer mit den Gehenden-Fragenden gegen das Kapital in Europa zu verbinden [8]. 

Und natürlich schauen wir auf die tief verwurzelte Praxis des Rätesystems in der kurdischen Bewegung unter den furchtbar schwierigen Bedingungen ihres Kampfes. Und darüber hinaus auf die Millionen von Spalten, in denen Menschen versuchen, sich auf einer anti-hierarchischen, sich gegenseitig anerkennenden Basis zu organisieren. Es ist einfach nicht wahr, dass der Staat das einzige Spiel in der Stadt ist. Wir müssen von den Dächern schreien, dass es noch ein anderes, seit langem etabliertes Spiel gibt: das Spiel, die Dinge selbst zu machen – kollektiv.

Die Organisation in der kommunalen oder rätespezifischen Tradition beruht nicht auf Auslese und Ausschluss, sondern auf dem Zusammenkommen derer, die da sind, sei es im Dorf, in der Nachbarschaft oder in der Fabrik. Mit all ihren Unterschieden, ihren Streitereien, ihren Verrücktheiten, ihren Gemeinheiten, ihren gemeinsamen Interessen und gemeinsamen Anliegen.

Die Organisation ist nicht instrumentell: Sie ist nicht als der beste Weg zur Erreichung eines Ziels gedacht, denn sie ist selbst ihr eigenes Ziel. Sie hat keine festgelegte Mitgliedschaft, denn ihr Ziel ist es, einzuladen und nicht auszuschließen. Ihre Diskussionen zielen nicht darauf ab, die richtige Linie festzulegen, sondern Unterschiede zu artikulieren und auszugleichen, um hier und jetzt die gegenseitige Anerkennung zu schaffen, die vom Kapitalismus negiert wird.

Dies bedeutet keine Unterdrückung der Debatte, sondern im Gegenteil einen ständigen Prozess der Diskussion und der Kritik, der nicht darauf abzielt, den Gegner zu eliminieren, zu denunzieren oder zu etikettieren, sondern die kreative Spannung aufrechtzuerhalten, die sich aus dem Sammeln von Ideen ergibt, die in leicht unterschiedliche Richtungen gehen. Ein stets schwieriges gegenseitiges Anerkennen der Würden, die in unterschiedliche Richtungen ziehen.

Der Rat oder die Kommune ist eine Bewegung der Selbstbestimmung: Durch Fragen-Zuhören-Denken werden wir entscheiden, wie wir die Welt haben wollen, nicht indem wir dem blinden Diktat von Geld und Profit folgen. Und, was vielleicht noch wichtiger ist, es ist eine Übernahme unserer Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft des menschlichen Lebens.

Wenn wir den Punkt der Auslöschung erreichen, wird es nichts nützen, am letzten Tag zu sagen: „Es ist alles die Schuld der Kapitalisten und ihrer Staaten.“ Nein. Es wird unsere Schuld sein, wenn wir die Macht des Geldes nicht brechen und dem Staat die Verantwortung für die Zukunft des menschlichen Lebens entreißen.

Quellen:

[1] Pädagogische Hochschule Freiburg, „Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten? 19.-21. März 2021 – Online Tagung!“,März 2021, <https://www.ph-freiburg.de/en/soziologie/veranstaltungen.html#c20910>

[2] Dissent Magazine, Thea Riofrancos, „What Comes After Extractivism?“, Winter 2019, <https://www.dissentmagazine.org/article/what-comes-after-extractivism>

[3] Roar Magazine, Alexander Gorski und Pedro Uc Be, „There is nothing “Mayan” about Mexico’s Mayan Train“, am 31.01.2020,  <https://roarmag.org/essays/there-is-nothing-mayan-about-mexicos-mayan-train/>

[4] Pädagogische Hochschule Freiburg, „Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten? 19.-21. März 2021 – Online Tagung!“,März 2021, <https://www.ph-freiburg.de/en/soziologie/veranstaltungen.html#c20910>

[5] PM Press, John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos, „Beyond Crisis: After the Collapse of Institutional Hope in Greece, What?“, <https://www.pmpress.org/index.php?l=product_detail&p=934>

[6] Roar Magazine, „Remembering the Commune“, <http://roarmag.org/paris-commune-150/>

[7] Roar Magazine, Alexander Herbert. „Recovering the anarchism of the 1921 Kronstadt Rebellion“, am 01.03.2021, <https://roarmag.org/essays/1921-2021-kronstadt-rebellion-anarchism/>

[8] Roar Magazine, ROAR Collective, „The Zapatistas are coming to Europe“, am 13.04.2021,  <https://roarmag.org/2021/04/13/the-zapatistas-are-coming-to-europe/>

Wir haben keine Antworten, wir haben Fragen. Dringende.

Wir wissen nicht, wie wir die vom Kapital verursachte Zerstörung des Planeten aufhalten können – aber indem wir die richtigen Fragen stellen, können wir zusammen einen Weg nach vorne finden. Dies ist eine angepasste Version des Vortrags von John Holloway auf der Konferenz „Crisis of Nation States – Anarchist Answers“ [1].

Von Published On: 31. Oktober 2021Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 01.05.2021 auf www.roarmag.org unter der URL <https://roarmag.org/essays/holloway-asking-questions/> veröffentlicht. Lizenz: John Holloway/ROAR, Lizenzart: CC BY-NC-ND 4.0

Foto: Pixabay, chenspec, Pixabay License

Wir leben in einem gescheiterten System. Es wird jeden Tag deutlicher, dass die derzeitige Organisation der Gesellschaft eine Katastrophe ist, dass der Kapitalismus nicht fähig ist, eine akzeptable Lebensweise zu sichern. Die COVID-19-Pandemie ist kein natürliches Phänomen, sondern das Ergebnis der gesellschaftlichen Zerstörung der Artenvielfalt – und weitere Pandemien werden wahrscheinlich folgen. Die globale Erwärmung, die eine Bedrohung sowohl für menschliches als auch für viele Formen nicht-menschlichen Lebens darstellt, ist das Ergebnis der kapitalistischen Zerstörung etablierter Gleichgewichte. Die Akzeptanz des Geldes als vorherrschendes Maß sozialen Wertes, zwingt einen großen Teil der Weltbevölkerung dazu, unter elenden und prekären Bedingungen zu leben.

Die vom Kapitalismus verursachte Zerstörung beschleunigt sich. Wachsende Ungleichheit, eine Zunahme rassistischer Gewalt, die Ausbreitung des Faschismus, zunehmende Spannungen zwischen Staaten und die Anhäufung von Macht durch Polizei und Militär. Darüber hinaus beruht das Überleben des Kapitalismus auf einer ständig wachsenden Verschuldung, die irgendwann zum Zusammenbruch verurteilt ist. 

Die Situation ist dringlich, wir Menschen stehen jetzt vor der realen Möglichkeit unseres eigenen Aussterbens.Wie kommen wir hier wieder raus? Die traditionelle Antwort derer, die sich der Tragweite der sozialen Probleme bewusst sind, lautet: durch den Staat. Politische Denker und Politiker von Hegel über Keynes und Roosevelt bis hin zu Biden haben den Staat als Gegengewicht zur Zerstörung durch das Wirtschaftssystem gesehen. Staaten werden das Problem der globalen Erwärmung lösen; Staaten werden die Zerstörung der Biodiversität beenden; Staaten werden die enorme Not und Armut lindern, die aus der gegenwärtigen Krise resultiert. Wählen Sie einfach die richtigen Politiker und alles wird gut. Und wenn Sie sehr besorgt sind über das, was passiert, wählen Sie einfach radikalere Führer – Sanders, Corbyn oder Die Linke oder Podemos, Evo Morales, Maduro oder López Obrador – und alles wird gut.

Das Problem mit diesem Argument ist, dass die Erfahrung uns sagt, dass es nicht funktioniert. Linke Politiker haben ihre Versprechen nie erfüllt, haben nie die Veränderungen herbeigeführt, die sie versprochen haben. In Lateinamerika sind die linken Politiker, die mit der sogenannten Rosa Welle zu Beginn dieses Jahrhunderts an die Macht kamen, eng mit dem Extraktivismus [2] und anderen Formen der zerstörerischen Entwicklung verbunden. Der Tren Maya, das derzeitige Lieblingsprojekt des mexikanischen Präsidenten López Obrador in Mexiko, ist nur das jüngste Beispiel dafür [3]. Linke Parteien und Politiker können vielleicht kleine Veränderungen herbeiführen, aber sie haben nichts getan, um die destruktive Dynamik des Kapitals zu brechen.

Der Staat ist nicht die Antwort

Nicht nur die Erfahrung sagt uns, dass der Staat nicht das Gegengewicht zum Kapital ist, auch wenn manche es so darstellen, auch theoretische Überlegungen besagen dies. Der Staat, der vom Kapital getrennt zu sein scheint, wird in Wirklichkeit vom Kapital erzeugt und ist in seiner Existenz vom Kapital abhängig. Der Staat ist kein Kapitalist und seine Arbeiter generieren im Großen und Ganzen nicht das Einkommen, das er für seine Existenz benötigt. Dieses Einkommen stammt aus der Ausbeutung von Arbeitern durch das Kapital, sodass der Staat tatsächlich auf diese Ausbeutung, d.h. auf die Akkumulation von Kapital, angewiesen ist, um seine eigene Existenz zu erhalten.

Gerade durch seine Form ist er gezwungen, die Akkumulation von Kapital zu fördern. Auch das Kapital ist auf die Existenz des Staates angewiesen, die sich nicht wie ein Kapitalist verhält und die scheinbar völlig unabhängig vom Kapital ist, um seine eigene Reproduktion zu sichern. Der Staat scheint das Zentrum der Macht zu sein, aber in Wirklichkeit liegt die Macht bei den Kapitaleignern, d.h. bei jenen Personen, die ihre Existenz der Expansion des Kapitals widmen. Mit anderen Worten: Der Staat ist kein Gegengewicht zum Kapital, er ist Teil der gleichen unkontrollierbaren Zerstörungsdynamik.

Die Tatsache, dass der Staat an das Kapital gebunden ist, bedeutet, dass er uns ausschließt. Die staatliche Demokratie ist ein Ausschlussverfahren, das besagt: „Kommt alle vier oder fünf Jahre zur Wahl, dann geht nach Hause und akzeptiert, was wir entscheiden.“ Der Staat ist die Existenz eines Gremiums von Vollzeit-Beamten, die die Verantwortung für das Wohlergehen der Gesellschaft übernehmen – natürlich in einer Weise, die mit der Reproduktion des Kapitals vereinbar ist. Indem sie sich diese Verantwortung anmaßen, nehmen sie sie uns ab. Aber unabhängig von ihren Absichten sind sie nicht in der Lage, diese Verantwortung zu erfüllen, weil sie nicht über die Gegenmacht verfügen, die sie zu haben scheinen: Was sie tun und wie sie es tun, ist von der Notwendigkeit geprägt, die Reproduktion des Kapitals sicherzustellen.

So sprechen Politiker gerade jetzt von der Notwendigkeit eines radikalen politischen Richtungswechsels, wenn die Welt aus der Pandemie herauskommt, aber kein einziger Politiker oder Regierungsbeamter deutet auch nur an, dass ein Teil dieses Richtungswechsels die Abschaffung eines auf dem Profitstreben basierenden Systems sein muss. Wenn der Staat nicht die Antwort hinsichtlich der Beendigung der kapitalistischen Zerstörung ist, dann folgt daraus, dass es auch nicht die Antwort sein kann unsere Sorgen in politischen Parteien zu kanalisieren, da Parteien Organisationen sind, die darauf abzielen, Veränderungen durch den Staat herbeizuführen. Versuche, radikale Veränderungen durch Parteien und die Übernahme staatlicher Macht herbeizuführen, sind in der Regel in der Schaffung autoritärer Regime gemündet, die mindestens genauso schlimm waren wie die, die sie zu verändern versuchten.

Fragend gehen wir voran

Wenn der Staat also nicht die Antwort ist, an wen oder was richten wir uns dann? Wie kommen wir hier wieder raus? Wir kommen natürlich zu einer Konferenz wie dieser [4], um anarchistische Antworten zu diskutieren. Aber es gibt mindestens drei Probleme: 

  1. Die Millionen Menschen sind nicht hier, die wir für einen wirklichen Richtungswechsel brauchen.
  2. Wir haben keine Antworten.
  3. Das Etikett „Anarchist“ ist wahrscheinlich nicht hilfreich.

Warum sind die Millionen Menschen nicht hier? 

Es gibt sicherlich ein weit verbreitetes, wachsendes Gefühl der Wut, der Verzweiflung und ein Bewusstsein dafür, dass das System nicht funktioniert. Aber warum wird diese Wut entweder auf links-reformistische Parteien und Kandidaten (Die Linke, Sanders, Corbyn, Tsipras) oder auf die extreme Rechte projiziert und nicht auf Bemühungen, die gegen das System und darüber hinaus gehen? Es gibt viele Erklärungen, aber eine, die mir wichtig erscheint, ist die Bemerkung von Leonidas Oikonomakis zur Wahl von Syriza in Griechenland 2015, dass, selbst nach Jahren sehr militanter antistaatlicher Proteste gegen die Austeritätsmaßnahmen, die Menschen immer noch den Eindruck hatten, dass der Staat „das einzige Spiel in der Stadt“ sei [5].

Wenn wir an die globale Erwärmung denken, an die Beendigung der Gewalt gegen Frauen, an die Bekämpfung der Pandemie, an die Lösung unserer wirtschaftlichen Verzweiflung in der gegenwärtigen Krise, ist es immer noch schwer, nicht zu denken, der Staat sei der Ort, wo die Antworten lägen – selbst wenn wir wissen, dass er es nicht ist.

Vielleicht müssen wir die Idee von Antworten aufgeben. Wir haben keine Antworten. Es kann nicht darum gehen, die anarchistischen Antworten den staatlichen Antworten entgegenzusetzen. Der Staat gibt Antworten, falsche Antworten. Wir haben Fragen, dringende Fragen, neue Fragen, denn diese Situation der drohenden Auslöschung hat es noch nie gegeben. Wie können wir die zerstörerische Dynamik des Kapitals stoppen? Die einzige Antwort die wir haben, ist, dass wir es nicht wissen.

Es ist wichtig zu sagen, dass wir es nicht wissen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil es wahr ist. Wir wissen nicht, wie wir die gegenwärtige Katastrophe beenden können. Wir haben Ideen, aber wir wissen es wirklich nicht. Und zweitens, weil eine Politik der Fragen etwas ganz anderes ist als eine Politik der Antworten. 

Wenn wir die Antworten haben, ist es unsere Pflicht, sie den anderen zu erklären. Das ist es, was der Staat tut, das ist es, was vanguardistische Parteien tun. Wenn wir Fragen haben, aber keine Antworten, dann müssen wir sie gemeinsam diskutieren und versuchen, Wege nach vorn zu finden. „Preguntando caminamos“, wie die Zapatistas sagen: „Fragend gehen wir voran.“

Der Prozess des Fragens und Zuhörens ist nicht der Weg zu einer anderen Gesellschaft, er ist bereits die Schaffung einer anderen Gesellschaft. Das Fragen-Zuhören ist bereits ein gegenseitiges Anerkennen unserer unterschiedlichen Würden. Wir fragen-und-hören dir zu, weil wir deine Würde anerkennen. Das ist das Gegenteil von staatlicher Politik. Der Staat redet. Er gibt vor, zu fragen-und-zuzuhören, aber er tut es nicht und kann es nicht, weil seine Existenz davon abhängt, dass er eine Form der sozialen Organisation wiederherstellt, die auf dem Kommando des Geldes basiert.

Unser Fragen-Zuhören ist eine anti-identitäre Bewegung. Wir erkennen deine Würde nicht deshalb an, weil du Anarchist oder Kommunist bist, oder Deutscher, Österreicher, Mexikaner oder Ire, oder weil du eine Frau, ein Schwarzer oder Inder bist. Etiketten sind sehr gefährlich – selbst wenn es „nette“ Etiketten sind – weil sie identitäre Unterscheidungen schaffen. Zu sagen: „wir sind Anarchisten“. ist ein Widerspruch in sich, weil es die identitäre Logik des Staates reproduziert: Wir sind Anarchisten, ihr seid es nicht; wir sind Deutsche, ihr seid es nicht. Wenn wir gegen den Staat sind, dann sind wir gegen seine Logik, gegen seine Grammatik.

Eine Bewegung der Selbstbestimmung

Wir haben keine Antworten, aber unser „vorwärts Gehen-Fragen“ beginnt nicht bei Null. Es ist Teil einer langen Geschichte des Gehen-Fragens. Gerade in diesen Tagen begehen wir den 150. Jahrestag der Pariser Kommune [6] und den hundertsten Jahrestag des Kronstädter Aufstands [7]. In der Gegenwart können wir uns von den Erfahrungen der Zapatistas inspirieren lassen, die gerade ihre Reise über den Atlantik vorbereiten, um sich diesen Sommer mit den Gehenden-Fragenden gegen das Kapital in Europa zu verbinden [8]. 

Und natürlich schauen wir auf die tief verwurzelte Praxis des Rätesystems in der kurdischen Bewegung unter den furchtbar schwierigen Bedingungen ihres Kampfes. Und darüber hinaus auf die Millionen von Spalten, in denen Menschen versuchen, sich auf einer anti-hierarchischen, sich gegenseitig anerkennenden Basis zu organisieren. Es ist einfach nicht wahr, dass der Staat das einzige Spiel in der Stadt ist. Wir müssen von den Dächern schreien, dass es noch ein anderes, seit langem etabliertes Spiel gibt: das Spiel, die Dinge selbst zu machen – kollektiv.

Die Organisation in der kommunalen oder rätespezifischen Tradition beruht nicht auf Auslese und Ausschluss, sondern auf dem Zusammenkommen derer, die da sind, sei es im Dorf, in der Nachbarschaft oder in der Fabrik. Mit all ihren Unterschieden, ihren Streitereien, ihren Verrücktheiten, ihren Gemeinheiten, ihren gemeinsamen Interessen und gemeinsamen Anliegen.

Die Organisation ist nicht instrumentell: Sie ist nicht als der beste Weg zur Erreichung eines Ziels gedacht, denn sie ist selbst ihr eigenes Ziel. Sie hat keine festgelegte Mitgliedschaft, denn ihr Ziel ist es, einzuladen und nicht auszuschließen. Ihre Diskussionen zielen nicht darauf ab, die richtige Linie festzulegen, sondern Unterschiede zu artikulieren und auszugleichen, um hier und jetzt die gegenseitige Anerkennung zu schaffen, die vom Kapitalismus negiert wird.

Dies bedeutet keine Unterdrückung der Debatte, sondern im Gegenteil einen ständigen Prozess der Diskussion und der Kritik, der nicht darauf abzielt, den Gegner zu eliminieren, zu denunzieren oder zu etikettieren, sondern die kreative Spannung aufrechtzuerhalten, die sich aus dem Sammeln von Ideen ergibt, die in leicht unterschiedliche Richtungen gehen. Ein stets schwieriges gegenseitiges Anerkennen der Würden, die in unterschiedliche Richtungen ziehen.

Der Rat oder die Kommune ist eine Bewegung der Selbstbestimmung: Durch Fragen-Zuhören-Denken werden wir entscheiden, wie wir die Welt haben wollen, nicht indem wir dem blinden Diktat von Geld und Profit folgen. Und, was vielleicht noch wichtiger ist, es ist eine Übernahme unserer Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft des menschlichen Lebens.

Wenn wir den Punkt der Auslöschung erreichen, wird es nichts nützen, am letzten Tag zu sagen: „Es ist alles die Schuld der Kapitalisten und ihrer Staaten.“ Nein. Es wird unsere Schuld sein, wenn wir die Macht des Geldes nicht brechen und dem Staat die Verantwortung für die Zukunft des menschlichen Lebens entreißen.

Quellen:

[1] Pädagogische Hochschule Freiburg, „Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten? 19.-21. März 2021 – Online Tagung!“,März 2021, <https://www.ph-freiburg.de/en/soziologie/veranstaltungen.html#c20910>

[2] Dissent Magazine, Thea Riofrancos, „What Comes After Extractivism?“, Winter 2019, <https://www.dissentmagazine.org/article/what-comes-after-extractivism>

[3] Roar Magazine, Alexander Gorski und Pedro Uc Be, „There is nothing “Mayan” about Mexico’s Mayan Train“, am 31.01.2020,  <https://roarmag.org/essays/there-is-nothing-mayan-about-mexicos-mayan-train/>

[4] Pädagogische Hochschule Freiburg, „Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten? 19.-21. März 2021 – Online Tagung!“,März 2021, <https://www.ph-freiburg.de/en/soziologie/veranstaltungen.html#c20910>

[5] PM Press, John Holloway, Katerina Nasioka und Panagiotis Doulos, „Beyond Crisis: After the Collapse of Institutional Hope in Greece, What?“, <https://www.pmpress.org/index.php?l=product_detail&p=934>

[6] Roar Magazine, „Remembering the Commune“, <http://roarmag.org/paris-commune-150/>

[7] Roar Magazine, Alexander Herbert. „Recovering the anarchism of the 1921 Kronstadt Rebellion“, am 01.03.2021, <https://roarmag.org/essays/1921-2021-kronstadt-rebellion-anarchism/>

[8] Roar Magazine, ROAR Collective, „The Zapatistas are coming to Europe“, am 13.04.2021,  <https://roarmag.org/2021/04/13/the-zapatistas-are-coming-to-europe/>