Weshalb direkte Demokratie nicht im Grundgesetz steht

Von Published On: 18. August 2018Kategorien: Allgemein

Auf wenig sind deutsche Politiker so stolz wie auf das Grundgesetz. Es gilt als der Goldstandard schlechthin, als Basis deutscher Staatskunst und Bollwerk der Freiheit und des Rechtsstaats. Rund um das Grundgesetz hat sich über die Jahrzehnte eine Art Kult entwickelt, ein fester Glaube, wonach aus dieser Regelung die endgültig beste aller denkbaren Welten hervorgehe. Die sagenumwobenen „Väter des Grundgesetzes“ erscheinen manchem als Heilige aus grauer Vorzeit, deren Weisheit und Unbestechlichkeit bis heute – und womöglich für alle Zeit – unerreicht bleibt.

Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist das Grundgesetz ohne Frage ein freiheitlicher und rechtsstaatlicher Höhepunkt. Dennoch enthält es gravierende demokratische Defizite, die mit den heiklen, oft ausgeblendeten Umständen seiner Entstehung zu tun haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland militärisch von fremden Mächten besetzt und in keiner Weise souverän, sondern Spielball der großen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den USA. Die entscheidende Frage dieser Zeit war die deutsche Teilung: Hatte sie Bestand, war sie unvermeidlich, oder sollte die deutsche Politik eine vereinte Nation anstreben?

Die Westmächte mit den Amerikanern an der Spitze hatten das größte und wertvollste Stück von Deutschland unter ihrer Kontrolle und daher wenig Interesse an einem neutralen Gesamtstaat, für dessen Schaffung man der Sowjetunion Zugeständnisse hätte machen müssen. 1948, als die Beratungen für das Grundgesetz begannen, standen die Zeichen klar auf Trennung. Ein eigener westdeutscher Staat würde geschaffen werden – so wollten es die westlichen Siegermächte. In Deutschland war dieses Ziel unpopulär. Das Volk wünschte eine Vereinigung. In der sowjetisch besetzten Zone wurde dafür offiziell geworben.

Vor diesem Hintergrund fiel im Westen die Entscheidung, bundesweite Volksabstimmungen generell auszuschließen. Im instabilen Gleichgewicht der Großmächte und dem Bemühen deutscher Politiker, zwischen Besatzern, alten und neuen Eliten ihren Platz zu finden, schienen Referenden ein Risiko, insbesondere wenn die Stimmung im Volk erkennbar von den Plänen an der Spitze abwich – was so direkt natürlich nicht offen zugegeben wurde. Die in späteren Jahren beliebte Erklärung, ominöse „Weimarer Erfahrungen“ seien der Grund für diese Entscheidung gewesen, (so jüngst auch wieder Bundespräsident Steinmeier) ist wenig schlüssig und erscheint vorgeschoben.

„Wir sollten das Volk mehr in die Gesamtentscheidung einschalten“

Deutlich wird das schon an den Verfassungen der Bundesländer in der Westzone, die 1946/47 diskutiert und verabschiedet wurden – also noch vor dem Grundgesetz – und in denen direkte Demokratie ganz natürlich vorkam. Volksabstimmungen wurden darin nicht nur beibehalten, sondern sogar weiterentwickelt, so etwa durch den Wegfall der hemmenden Regel, dass ein Volksentscheid nur gültig sei, wenn 50 Prozent der Bevölkerung teilnehmen. Insgesamt wurden Elemente direkter Demokratie in den Ländern 1946/47 überwiegend positiv eingeschätzt.

Bei einer Debatte über die künftige Verfassung von Nordrhein-Westfalen meinte der FDP-Landesvorsitzende und spätere NRW-Wirtschaftsminister Friedrich Middelhauve 1947:

„Wir sollten das Volk mehr in die Gesamtentscheidung einschalten. Hätten wir das vor 1933 getan, es wäre durchaus anders gekommen; es wäre nicht möglich gewesen, dass Hitler mit seinen etwas mehr als 40 Prozent die Mehrheit des Volks überrennen und sich durch ein Ermächtigungsgesetz dann nachher völlig in den Sattel setzen konnte.“

Selbst ein Konservativer, wie der bayerische Journalist und Politiker Erwein von Aretin, argumentierte 1946 energisch, dass für Verfassungsänderungen ein Volksbegehren möglich sein müsse:

„Man kann doch logischerweise unmöglich dem „Souverän“, dem Volk, weniger Rechte einräumen als seiner Vertretung.“

Und gegenüber dem Einwand der CDU, Volksabstimmungen könnten von Radikalen missbraucht werden, meinte der aus armen Verhältnissen stammende und in der Weimarer Republik bis zum Innenminister aufgestiegene SPD-Mann Carl Severing 1949:

 „Die Freiheit, die nicht auch einmal missbraucht werden kann, ist eigentlich  keine Freiheit. Wenn Sie dem Volk selbst nicht eine Mitwirkung bei seiner  Gesetzgebung  einräumen wollen und wenn Sie die Streichung des  Volksbegehrens in der Vorlage mit  dem Missbrauch der Freiheit begründen,  der früher einmal betrieben worden ist (…), leisten Sie damit dem  demokratischen Gesicht und dem Inhalt dieses Entwurfs einen  schlechten Dienst.“
Severing, zum Zeitpunkt dieser Rede 74 Jahre alt, war ein kenntnisreicher Zeuge der direkten Demokratie in der Weimarer Republik. In seiner Zeit als Innenminister einer großen Koalition von 1928 bis 1930 hatte er die Anträge für die Volksbegehren zum Panzerkreuzerverbot und zum „Freiheitsgesetz“ persönlich genehmigt, wenngleich er mit beiden Anliegen in keiner Weise politisch übereinstimmte.

Die geschilderten Zitate von so unterschiedlichen Politikern wie dem Liberalen Middelhauve, dem bayerischen Monarchisten Aretin oder dem konservativen Sozialdemokraten Severing zeigen, wie sehr der Gedanke direkter Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur bei Linken, sondern parteiübergreifend in der Politik verankert war – wenngleich es natürlich auch viele Gegner gab. Wie also genau war es geschehen, dass bei den Beratungen zum Grundgesetz 1948 solche Einschätzungen praktisch keine Rolle spielten? (1)

Direkte Demokratie als Problem bei der Durchsetzung der deutschen Teilung

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Nachdem die westlichen Siegermächte im Sommer 1948 den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder „empfohlen“ hatten, einen eigenen westdeutschen Staat zu gründen und dazu noch im selben Jahr eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, berieten sich die Ministerpräsidenten untereinander, was nun zu tun sei. Hauptproblem: Eine deutsche Teilung war nicht im Sinne der Bevölkerung.
In der sowjetischen Zone hatte die SED mit großem Aufwand eine Volksabstimmung zur deutschen Einheit initiiert und sammelte dazu auch im Westen Unterschriften. Die Stimmung war aufgeheizt. Der spätere Bundeskanzler Willy Brandt, damals Vertreter des SPD-Parteivorstandes in Berlin, formulierte die martialische Parole: „Wer das kommunistische Volksbegehren unterzeichnet, unterschreibt seinen eigenen Haftbefehl.“ (2)

Im Grunde ging es darum, dass die Westmächte die deutsche Teilung schon beschlossen hatten, aber kein westdeutscher Politiker die Verantwortung für diese unpopuläre Entscheidung übernehmen wollte. Die von den Kommunisten lancierte Volksabstimmung für eine deutsche Einheit brachte die Politiker im Westen daher in eine missliche Lage.

Verschärfend kam hinzu, dass die westlichen Siegermächte wünschten, die neu zu entwerfende Verfassung Westdeutschlands ihrerseits per Volksabstimmung absegnen zu lassen. Das würde, so das Kalkül der Sieger, öffentlich einen guten Eindruck machen – schließlich vertrat man ja den „freien“ Westen. Die deutschen Politiker in der Westzone sahen allerdings voraus, dass damit das gesamte Projekt scheitern konnte, da sie sich kaum in der Lage fühlten, die Bevölkerung mehrheitlich von der Notwendigkeit einer deutschen Teilung zu überzeugen. Am Ende würden sie möglicherweise verlieren und noch dazu als willfährige Handlanger der Siegermächte dastehen.

Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold (CDU), sprach es bei den internen Beratungen der Länderchefs im Sommer 1948 offen aus:
 „Wenn wir die Bevölkerung zu einem solchen Referendum aufrufen, dann  geben wir nach meinem Gefühl den Kommunisten die seltene Chance,  über uns herzufallen und uns als die Westpolitiker zu bezeichnen und zu  sagen: diese Westpolitiker sind  jetzt dabei, Deutschland endgültig in  Ostdeutschland und Westdeutschland zu zerreißen. (…) Ich könnte mir  vorstellen, dass bei einer solchen Auseinandersetzung die Möglichkeit  entsteht, dass das Referendum nicht angenommen wird.“

Den Politikern war klar, dass derart offene Worte besser vertraulich bleiben mussten. So warnte der hessische Ministerpräsident Christian Stock (SPD) bei den Beratungen:

 „Wir sollten aber auf keinen Fall in der Öffentlichkeit bekannt werden lassen,  dass wir in Bezug auf die Entscheidung durch das Volk irgendwelche  Besorgnisse hegen. Das dürfen wir auf keinen Fall preisgeben.“

Das leuchtete ein. Einen Volksentscheid abzulehnen, weil man vor dem Ergebnis Angst hatte, war wenig demokratisch. Doch so standen die Dinge im Sommer 1948. Der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (CSU), ein promovierter Jurist, entwarf die passende Schutzbehauptung:

„Eine Begründung für die Öffentlichkeit kann nur so lauten, dass man sagt: ein Referendum ist eine Sache, die nach außen hin etwas Endgültiges dokumentiert.“

Bei dieser Linie blieb man dann. Die zu entwerfende Verfassung sei nur vorläufig, eben ein „Grund-Gesetz“, das später, nach der hoffentlich baldigen Vereinigung Deutschlands, von einer echten und dauerhaften Verfassung abgelöst werden würde. Und da es sich ja nur um ein Provisorium, um eine Übergangslösung handelte, sei eine Volksabstimmung dazu auch völlig übertrieben.

Diese beschwichtigende Erklärung ließ sich öffentlich vertreten. Und auch in Washington sah man nun die Sachzwänge. US-Außenminister George Marshall ließ in einem vertraulichen Telegramm an den amerikanischen Militärgouverneur in Deutschland durchblicken, man ziehe eine Volksabstimmung über die neue Verfassung zwar vor, bestehe aber nicht darauf. Eine Verabschiedung durch die Landtage reiche im Zweifel auch. (3)

Die Angst vor Kommunisten und Enteignung

Diese Entscheidung hat Folgen bis heute. Da lediglich die Landtage abstimmten und eben nicht das Volk direkt, ist im Grunde schon die Präambel des 1949 beschlossenen Grundgesetzes falsch. Dort heißt es:

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Doch genau das war eben nicht geschehen. „Das Deutsche Volk“ hatte nicht abgestimmt. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist bis heute nie direkt von der Bevölkerung bestätigt worden – ein demokratisches Unding und besonders widersinnig vor dem Hintergrund, dass die Verfassungen der Länder zwischen 1946 und 1950 sehr wohl dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurden. (4)

Die Angst vor den Kommunisten, die beispielsweise in Sachsen 1946 das Volk über die Vergesellschaftung von Betrieben von Naziverbrechern hatten abstimmen lassen (Ergebnis: 77 Prozent Zustimmung bei 93 Prozent Abstimmungsbeteiligung) (5), überschattete die gesamten Verhandlungen des Parlamentarischen Rats, wo das Grundgesetz diskutiert und entwickelt wurde. Das Thema direkte Demokratie wurde dort weitgehend gemieden, jedenfalls ohne größere Debatten behandelt. Es gab keine tiefschürfenden Argumentationen, eher ein unwilliges Abblocken, eine stille Übereinkunft der Beteiligten, dass Volksabstimmungen im Zweifel den Kommunisten in die Hände spielen könnten und daher besser umgangen werden sollten.
In einer Besprechung von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates mit den Ministerpräsidenten der Länder betonte der SPD-Politiker Rudolf Katz Anfang 1949, er wolle es „vermieden sehen, dass man durch Anordnung eines Volksentscheides den negativen Kreisen des Volkes eine Kristallisationsmöglichkeit gebe“. (6)

Wer oder was als „negativ“ zu gelten habe, blieb dabei einer höheren Instanz, einer Autorität, zur Entscheidung vorbehalten, deren Klugheit man sich wohl hoch über dem Volk thronend vorzustellen hatte. Solange in dieser Art gedacht wurde und es „gute“ und „negative“ Teile eines Volkes gab, war die Demokratie in den Köpfen ihrer Vertreter noch nicht vollständig angekommen. Der hessische Ministerpräsident Stock trieb den Widerspruch auf die Spitze mit seiner Aussage, dass Volksabstimmungen möglicherweise „nicht das Resultat haben werden, das im Interesse der Demokratie wünschenswert wäre“. (7)

Dieser Gedankengang gleicht der aktuellen „Verteidigung der Demokratie“ gegen Populisten, die zwar Wahlen gewinnen, aber unerwünscht sind. Dahinter steht in beiden Fällen eine erstaunlich simple Begriffsverwechslung von „Demokratie“ und „Regierung“. Doch so viel sollte eigentlich klar sein: Nicht alles, was die etablierte Macht schützt, sichert auch die Demokratie – eher im Gegenteil.

(Dieser Text ist ein Auszug aus Kapitel 6 meines neuen Buches „Die Angst der Eliten“. Er erschien auch im Magazin Telepolis.)

Anmerkungen:

(1) Die folgenden Schilderungen stützen sich in großen Teilen auf die 300-seitige Studie „Grundgesetz und Volksentscheid“ von Otmar Jung, dessen penible Archivrecherchen zum Thema die historische Forschung entscheidend vorangebracht haben. Seine Studie enthält mehr als 1500 Fußnoten, die vor allem auf Primärquellen in öffentlichen Archiven verweisen.
(2) Willy Brandt in einem Bericht an den Parteivorstand vom 23. April 1948, zitiert nach: Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, Westdeutscher Verlag 1994, S. 188.
(3) Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, a. a. O., S. 213.
(4) Anmerkung am Rande: Zwar wurden damals die Landesverfassungen alle von einer Mehrheit der Abstimmenden angenommen, jedoch nie von der Mehrheit aller Wahlberechtigten. So stimmten etwa für die nordrhein-westfälische Landesverfassung 1950 62 Prozent derjenigen, die an dem Volksentscheid teilnahmen, aber insgesamt gesehen nur 41 Prozent aller Wahlberechtigten. Gleiches gilt für die übrigen Länder. Betrachtet man auch die Volksentscheide zu den Verfassungen der ostdeutschen Bundesländer in den 1990er Jahren, dann wurde – bis auf eine einzige Ausnahme (Thüringen 1994 mit 50,5 Prozent) – keine Landesverfassung von einer Mehrheit des gesamten Volkes angenommen. – Heußner, Hermann K. / Jung, Otmar: Mehr direkte Demokratie wagen, a. a. O., S. 225f.
(5) Otmar Jung führt auch Einwände gegen die Durchführung dieses Volksentscheids an, resümiert aber: „Über 77 Prozent Ja-Stimmen bei gut 93 Prozent Abstimmungsbeteiligung sind Werte, die bei formal freier und grundsätzlich geheimer Abstimmung nicht wegzudiskutieren sind. Vom Ergebnis her wird man daher jenen sächsischen Maßnahmen das Prädikat ‚demokratisch‘ nicht versagen können.“ – Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, a. a. O., S. 147.
(6) Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, a. a. O., S. 255.
(7) Ebd., S. 256.

 

Dieser Text wurde zuerst am 18.06.2018 auf www.paulschreyer.wordpress.com unter der URL <https://paulschreyer.wordpress.com/2018/06/18/weshalb-direkte-demokratie-nicht-im-grundgesetz-steht/#more-1628> veröffentlicht. Lizenz: Paul Schreyer

Weshalb direkte Demokratie nicht im Grundgesetz steht

Von Published On: 18. August 2018Kategorien: Allgemein

Auf wenig sind deutsche Politiker so stolz wie auf das Grundgesetz. Es gilt als der Goldstandard schlechthin, als Basis deutscher Staatskunst und Bollwerk der Freiheit und des Rechtsstaats. Rund um das Grundgesetz hat sich über die Jahrzehnte eine Art Kult entwickelt, ein fester Glaube, wonach aus dieser Regelung die endgültig beste aller denkbaren Welten hervorgehe. Die sagenumwobenen „Väter des Grundgesetzes“ erscheinen manchem als Heilige aus grauer Vorzeit, deren Weisheit und Unbestechlichkeit bis heute – und womöglich für alle Zeit – unerreicht bleibt.

Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist das Grundgesetz ohne Frage ein freiheitlicher und rechtsstaatlicher Höhepunkt. Dennoch enthält es gravierende demokratische Defizite, die mit den heiklen, oft ausgeblendeten Umständen seiner Entstehung zu tun haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland militärisch von fremden Mächten besetzt und in keiner Weise souverän, sondern Spielball der großen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den USA. Die entscheidende Frage dieser Zeit war die deutsche Teilung: Hatte sie Bestand, war sie unvermeidlich, oder sollte die deutsche Politik eine vereinte Nation anstreben?

Die Westmächte mit den Amerikanern an der Spitze hatten das größte und wertvollste Stück von Deutschland unter ihrer Kontrolle und daher wenig Interesse an einem neutralen Gesamtstaat, für dessen Schaffung man der Sowjetunion Zugeständnisse hätte machen müssen. 1948, als die Beratungen für das Grundgesetz begannen, standen die Zeichen klar auf Trennung. Ein eigener westdeutscher Staat würde geschaffen werden – so wollten es die westlichen Siegermächte. In Deutschland war dieses Ziel unpopulär. Das Volk wünschte eine Vereinigung. In der sowjetisch besetzten Zone wurde dafür offiziell geworben.

Vor diesem Hintergrund fiel im Westen die Entscheidung, bundesweite Volksabstimmungen generell auszuschließen. Im instabilen Gleichgewicht der Großmächte und dem Bemühen deutscher Politiker, zwischen Besatzern, alten und neuen Eliten ihren Platz zu finden, schienen Referenden ein Risiko, insbesondere wenn die Stimmung im Volk erkennbar von den Plänen an der Spitze abwich – was so direkt natürlich nicht offen zugegeben wurde. Die in späteren Jahren beliebte Erklärung, ominöse „Weimarer Erfahrungen“ seien der Grund für diese Entscheidung gewesen, (so jüngst auch wieder Bundespräsident Steinmeier) ist wenig schlüssig und erscheint vorgeschoben.

„Wir sollten das Volk mehr in die Gesamtentscheidung einschalten“

Deutlich wird das schon an den Verfassungen der Bundesländer in der Westzone, die 1946/47 diskutiert und verabschiedet wurden – also noch vor dem Grundgesetz – und in denen direkte Demokratie ganz natürlich vorkam. Volksabstimmungen wurden darin nicht nur beibehalten, sondern sogar weiterentwickelt, so etwa durch den Wegfall der hemmenden Regel, dass ein Volksentscheid nur gültig sei, wenn 50 Prozent der Bevölkerung teilnehmen. Insgesamt wurden Elemente direkter Demokratie in den Ländern 1946/47 überwiegend positiv eingeschätzt.

Bei einer Debatte über die künftige Verfassung von Nordrhein-Westfalen meinte der FDP-Landesvorsitzende und spätere NRW-Wirtschaftsminister Friedrich Middelhauve 1947:

„Wir sollten das Volk mehr in die Gesamtentscheidung einschalten. Hätten wir das vor 1933 getan, es wäre durchaus anders gekommen; es wäre nicht möglich gewesen, dass Hitler mit seinen etwas mehr als 40 Prozent die Mehrheit des Volks überrennen und sich durch ein Ermächtigungsgesetz dann nachher völlig in den Sattel setzen konnte.“

Selbst ein Konservativer, wie der bayerische Journalist und Politiker Erwein von Aretin, argumentierte 1946 energisch, dass für Verfassungsänderungen ein Volksbegehren möglich sein müsse:

„Man kann doch logischerweise unmöglich dem „Souverän“, dem Volk, weniger Rechte einräumen als seiner Vertretung.“

Und gegenüber dem Einwand der CDU, Volksabstimmungen könnten von Radikalen missbraucht werden, meinte der aus armen Verhältnissen stammende und in der Weimarer Republik bis zum Innenminister aufgestiegene SPD-Mann Carl Severing 1949:

 „Die Freiheit, die nicht auch einmal missbraucht werden kann, ist eigentlich  keine Freiheit. Wenn Sie dem Volk selbst nicht eine Mitwirkung bei seiner  Gesetzgebung  einräumen wollen und wenn Sie die Streichung des  Volksbegehrens in der Vorlage mit  dem Missbrauch der Freiheit begründen,  der früher einmal betrieben worden ist (…), leisten Sie damit dem  demokratischen Gesicht und dem Inhalt dieses Entwurfs einen  schlechten Dienst.“
Severing, zum Zeitpunkt dieser Rede 74 Jahre alt, war ein kenntnisreicher Zeuge der direkten Demokratie in der Weimarer Republik. In seiner Zeit als Innenminister einer großen Koalition von 1928 bis 1930 hatte er die Anträge für die Volksbegehren zum Panzerkreuzerverbot und zum „Freiheitsgesetz“ persönlich genehmigt, wenngleich er mit beiden Anliegen in keiner Weise politisch übereinstimmte.

Die geschilderten Zitate von so unterschiedlichen Politikern wie dem Liberalen Middelhauve, dem bayerischen Monarchisten Aretin oder dem konservativen Sozialdemokraten Severing zeigen, wie sehr der Gedanke direkter Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur bei Linken, sondern parteiübergreifend in der Politik verankert war – wenngleich es natürlich auch viele Gegner gab. Wie also genau war es geschehen, dass bei den Beratungen zum Grundgesetz 1948 solche Einschätzungen praktisch keine Rolle spielten? (1)

Direkte Demokratie als Problem bei der Durchsetzung der deutschen Teilung

Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Nachdem die westlichen Siegermächte im Sommer 1948 den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder „empfohlen“ hatten, einen eigenen westdeutschen Staat zu gründen und dazu noch im selben Jahr eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, berieten sich die Ministerpräsidenten untereinander, was nun zu tun sei. Hauptproblem: Eine deutsche Teilung war nicht im Sinne der Bevölkerung.
In der sowjetischen Zone hatte die SED mit großem Aufwand eine Volksabstimmung zur deutschen Einheit initiiert und sammelte dazu auch im Westen Unterschriften. Die Stimmung war aufgeheizt. Der spätere Bundeskanzler Willy Brandt, damals Vertreter des SPD-Parteivorstandes in Berlin, formulierte die martialische Parole: „Wer das kommunistische Volksbegehren unterzeichnet, unterschreibt seinen eigenen Haftbefehl.“ (2)

Im Grunde ging es darum, dass die Westmächte die deutsche Teilung schon beschlossen hatten, aber kein westdeutscher Politiker die Verantwortung für diese unpopuläre Entscheidung übernehmen wollte. Die von den Kommunisten lancierte Volksabstimmung für eine deutsche Einheit brachte die Politiker im Westen daher in eine missliche Lage.

Verschärfend kam hinzu, dass die westlichen Siegermächte wünschten, die neu zu entwerfende Verfassung Westdeutschlands ihrerseits per Volksabstimmung absegnen zu lassen. Das würde, so das Kalkül der Sieger, öffentlich einen guten Eindruck machen – schließlich vertrat man ja den „freien“ Westen. Die deutschen Politiker in der Westzone sahen allerdings voraus, dass damit das gesamte Projekt scheitern konnte, da sie sich kaum in der Lage fühlten, die Bevölkerung mehrheitlich von der Notwendigkeit einer deutschen Teilung zu überzeugen. Am Ende würden sie möglicherweise verlieren und noch dazu als willfährige Handlanger der Siegermächte dastehen.

Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold (CDU), sprach es bei den internen Beratungen der Länderchefs im Sommer 1948 offen aus:
 „Wenn wir die Bevölkerung zu einem solchen Referendum aufrufen, dann  geben wir nach meinem Gefühl den Kommunisten die seltene Chance,  über uns herzufallen und uns als die Westpolitiker zu bezeichnen und zu  sagen: diese Westpolitiker sind  jetzt dabei, Deutschland endgültig in  Ostdeutschland und Westdeutschland zu zerreißen. (…) Ich könnte mir  vorstellen, dass bei einer solchen Auseinandersetzung die Möglichkeit  entsteht, dass das Referendum nicht angenommen wird.“

Den Politikern war klar, dass derart offene Worte besser vertraulich bleiben mussten. So warnte der hessische Ministerpräsident Christian Stock (SPD) bei den Beratungen:

 „Wir sollten aber auf keinen Fall in der Öffentlichkeit bekannt werden lassen,  dass wir in Bezug auf die Entscheidung durch das Volk irgendwelche  Besorgnisse hegen. Das dürfen wir auf keinen Fall preisgeben.“

Das leuchtete ein. Einen Volksentscheid abzulehnen, weil man vor dem Ergebnis Angst hatte, war wenig demokratisch. Doch so standen die Dinge im Sommer 1948. Der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (CSU), ein promovierter Jurist, entwarf die passende Schutzbehauptung:

„Eine Begründung für die Öffentlichkeit kann nur so lauten, dass man sagt: ein Referendum ist eine Sache, die nach außen hin etwas Endgültiges dokumentiert.“

Bei dieser Linie blieb man dann. Die zu entwerfende Verfassung sei nur vorläufig, eben ein „Grund-Gesetz“, das später, nach der hoffentlich baldigen Vereinigung Deutschlands, von einer echten und dauerhaften Verfassung abgelöst werden würde. Und da es sich ja nur um ein Provisorium, um eine Übergangslösung handelte, sei eine Volksabstimmung dazu auch völlig übertrieben.

Diese beschwichtigende Erklärung ließ sich öffentlich vertreten. Und auch in Washington sah man nun die Sachzwänge. US-Außenminister George Marshall ließ in einem vertraulichen Telegramm an den amerikanischen Militärgouverneur in Deutschland durchblicken, man ziehe eine Volksabstimmung über die neue Verfassung zwar vor, bestehe aber nicht darauf. Eine Verabschiedung durch die Landtage reiche im Zweifel auch. (3)

Die Angst vor Kommunisten und Enteignung

Diese Entscheidung hat Folgen bis heute. Da lediglich die Landtage abstimmten und eben nicht das Volk direkt, ist im Grunde schon die Präambel des 1949 beschlossenen Grundgesetzes falsch. Dort heißt es:

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Doch genau das war eben nicht geschehen. „Das Deutsche Volk“ hatte nicht abgestimmt. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist bis heute nie direkt von der Bevölkerung bestätigt worden – ein demokratisches Unding und besonders widersinnig vor dem Hintergrund, dass die Verfassungen der Länder zwischen 1946 und 1950 sehr wohl dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wurden. (4)

Die Angst vor den Kommunisten, die beispielsweise in Sachsen 1946 das Volk über die Vergesellschaftung von Betrieben von Naziverbrechern hatten abstimmen lassen (Ergebnis: 77 Prozent Zustimmung bei 93 Prozent Abstimmungsbeteiligung) (5), überschattete die gesamten Verhandlungen des Parlamentarischen Rats, wo das Grundgesetz diskutiert und entwickelt wurde. Das Thema direkte Demokratie wurde dort weitgehend gemieden, jedenfalls ohne größere Debatten behandelt. Es gab keine tiefschürfenden Argumentationen, eher ein unwilliges Abblocken, eine stille Übereinkunft der Beteiligten, dass Volksabstimmungen im Zweifel den Kommunisten in die Hände spielen könnten und daher besser umgangen werden sollten.
In einer Besprechung von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates mit den Ministerpräsidenten der Länder betonte der SPD-Politiker Rudolf Katz Anfang 1949, er wolle es „vermieden sehen, dass man durch Anordnung eines Volksentscheides den negativen Kreisen des Volkes eine Kristallisationsmöglichkeit gebe“. (6)

Wer oder was als „negativ“ zu gelten habe, blieb dabei einer höheren Instanz, einer Autorität, zur Entscheidung vorbehalten, deren Klugheit man sich wohl hoch über dem Volk thronend vorzustellen hatte. Solange in dieser Art gedacht wurde und es „gute“ und „negative“ Teile eines Volkes gab, war die Demokratie in den Köpfen ihrer Vertreter noch nicht vollständig angekommen. Der hessische Ministerpräsident Stock trieb den Widerspruch auf die Spitze mit seiner Aussage, dass Volksabstimmungen möglicherweise „nicht das Resultat haben werden, das im Interesse der Demokratie wünschenswert wäre“. (7)

Dieser Gedankengang gleicht der aktuellen „Verteidigung der Demokratie“ gegen Populisten, die zwar Wahlen gewinnen, aber unerwünscht sind. Dahinter steht in beiden Fällen eine erstaunlich simple Begriffsverwechslung von „Demokratie“ und „Regierung“. Doch so viel sollte eigentlich klar sein: Nicht alles, was die etablierte Macht schützt, sichert auch die Demokratie – eher im Gegenteil.

(Dieser Text ist ein Auszug aus Kapitel 6 meines neuen Buches „Die Angst der Eliten“. Er erschien auch im Magazin Telepolis.)

Anmerkungen:

(1) Die folgenden Schilderungen stützen sich in großen Teilen auf die 300-seitige Studie „Grundgesetz und Volksentscheid“ von Otmar Jung, dessen penible Archivrecherchen zum Thema die historische Forschung entscheidend vorangebracht haben. Seine Studie enthält mehr als 1500 Fußnoten, die vor allem auf Primärquellen in öffentlichen Archiven verweisen.
(2) Willy Brandt in einem Bericht an den Parteivorstand vom 23. April 1948, zitiert nach: Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, Westdeutscher Verlag 1994, S. 188.
(3) Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, a. a. O., S. 213.
(4) Anmerkung am Rande: Zwar wurden damals die Landesverfassungen alle von einer Mehrheit der Abstimmenden angenommen, jedoch nie von der Mehrheit aller Wahlberechtigten. So stimmten etwa für die nordrhein-westfälische Landesverfassung 1950 62 Prozent derjenigen, die an dem Volksentscheid teilnahmen, aber insgesamt gesehen nur 41 Prozent aller Wahlberechtigten. Gleiches gilt für die übrigen Länder. Betrachtet man auch die Volksentscheide zu den Verfassungen der ostdeutschen Bundesländer in den 1990er Jahren, dann wurde – bis auf eine einzige Ausnahme (Thüringen 1994 mit 50,5 Prozent) – keine Landesverfassung von einer Mehrheit des gesamten Volkes angenommen. – Heußner, Hermann K. / Jung, Otmar: Mehr direkte Demokratie wagen, a. a. O., S. 225f.
(5) Otmar Jung führt auch Einwände gegen die Durchführung dieses Volksentscheids an, resümiert aber: „Über 77 Prozent Ja-Stimmen bei gut 93 Prozent Abstimmungsbeteiligung sind Werte, die bei formal freier und grundsätzlich geheimer Abstimmung nicht wegzudiskutieren sind. Vom Ergebnis her wird man daher jenen sächsischen Maßnahmen das Prädikat ‚demokratisch‘ nicht versagen können.“ – Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, a. a. O., S. 147.
(6) Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, a. a. O., S. 255.
(7) Ebd., S. 256.

 

Dieser Text wurde zuerst am 18.06.2018 auf www.paulschreyer.wordpress.com unter der URL <https://paulschreyer.wordpress.com/2018/06/18/weshalb-direkte-demokratie-nicht-im-grundgesetz-steht/#more-1628> veröffentlicht. Lizenz: Paul Schreyer