Wladimir Putin bei seiner Grundsatzrede beim 19. Treffen des Valdai-Club. (Screenshot: http://en.kremlin.ru; Lizenz: CC BY-SA 4.0)
Putin über die neue Weltordnung:
Russland reicht allen Staaten die Hand
Wie jedes Jahr hat Putin auch jetzt wieder eine Grundsatzrede beim Valdai-Club gehalten. Dabei hat er mit dem Westen und seiner Politik abgerechnet und gleichzeitig allen Staaten der Welt die Hand gereicht.
Dieser Text wurde zuerst am 28.10.2022 auf www.anti-spiegel.ru unter der URL <https://www.anti-spiegel.ru/2022/putin-ueber-die-neue-weltordnung-russland-reicht-allen-staaten-die-hand/> veröffentlicht.
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Die Valdai-Reden des russischen Präsidenten sind für Freund und Feind jedes Jahr ein geopolitisches Highlight, weil Putin sich dabei ausführlich über seine Sicht zur aktuellen Lage der internationalen Politik äußert und sich anschließend stundenlang den Fragen der Experten im Saal stellt. Auch dieses Jahr hat die Diskussion wieder über vier Stunden gedauert.
Hier übersetze ich die Eröffnungsrede von Präsident Putin, in der er mit den „Werten“ des Westens abgerechnet und aufgezeigt hat, wohin sie führen. Für Putin, das ist offensichtlich, ist die Dominanz des Westens bereits Geschichte; in Putins Augen kämpft der Westen um sein Überleben. In den nächsten Tagen werde ich aus der Podiumsdiskussion, die auf Putins Rede folgte, ausgewählte Fragen und Putins Antworten darauf übersetzen und veröffentlichen.
Heute beginnen wir mit seiner Rede [1], in der er zur weltweiten Zusammenarbeit und zu gegenseitigem Respekt aufruft und der Welt eine Alternative zur westlich geprägten Weltordnung anbietet. Besonders beeindruckt hat mich an Putins Rede, wie er sich an die Menschen im Westen wendet und ihnen die Hand in dem Wissen ausstreckt, dass auch dort viele Menschen nicht mit dem einverstanden sind, was ihre Regierungen tun.
Beginn der Übersetzung:
Sehr geehrte Teilnehmer der Plenarsitzung! Meine Damen und Herren! Freunde!
Ich habe einen kleinen Einblick in die Diskussionen bekommen, die hier in den vergangenen Tagen stattgefunden haben, sie waren sehr interessant und informativ. Ich hoffe, dass Sie es nicht bereut haben, nach Russland gekommen zu sein, und miteinander reden. Es ist schön, Sie alle zu sehen.
Beim Valdai-Club haben wir mehr als einmal über die Veränderungen gesprochen – die gravierenden, großen Veränderungen – die in der Welt stattgefunden haben und weiterhin stattfinden, über die Risiken, die mit dem Abbau der globalen Institutionen, der Aushöhlung der Grundsätze der kollektiven Sicherheit, der Ersetzung des Völkerrechts durch sogenannte Regeln verbunden sind – ich wollte sagen, Regeln, die von irgendwem ausgearbeitet wurden, aber das ist wahrscheinlich ungenau ausdrückt. Es ist überhaupt nicht klar, wer sie ausgearbeitet hat, worauf diese Regeln beruhen, was in ihnen steckt. (Anm. d. Übers.: Damit meint Putin die vom Westen ausgerufene „regelbasierte Weltordnung“ – hier finden Sie mehr Informationen darüber, was hinter dem Begriff steckt [2].)
Offensichtlich wird nur versucht, eine einzige Regel aufzustellen, damit die Mächtigen – wir sprechen jetzt von Macht, ich spreche von globaler Macht – ohne jegliche Regeln leben und tun können, was sie wollen, mit allem durchkommen, was sie wollen. Tatsächlich sind das die Regeln, von denen man uns ständig erzählt.
Der Wert der Valdai-Diskussionen besteht darin, dass hier die verschiedensten Einschätzungen und Prognosen abgegeben werden. Wie richtig sie waren, zeigt das Leben selbst. Das Leben, der strengste und objektivste Prüfer. Er zeigt, wie wahr die Inhalte unserer Diskussionen in den vergangenen Jahren waren.
Leider entwickeln sich die Ereignisse weiterhin nach dem negativen Szenario, über das wir bei unseren früheren Treffen mehr als einmal gesprochen haben. Darüber hinaus haben sich diese Ereignisse zu einer umfassenden Systemkrise entwickelt, nicht nur im militär-politischen Bereich, sondern auch im wirtschaftlichen und humanitären Bereich.
Der sogenannte Westen – das ist natürlich im übertragenen Sinn gemeint, denn es gibt dort keine Einigkeit – ist verständlicherweise ein sehr kompliziertes Konglomerat. Dennoch kann man sagen, dass dieser Westen in den letzten Jahren, und insbesondere in den letzten Monaten, eine Reihe von Schritten zur Eskalation unternommen hat. Genau genommen setzt er immer auf Eskalation, das ist nicht neu. Diese sind: die Anzettelung des Krieges in der Ukraine, die Provokationen rund um Taiwan und die Destabilisierung der globalen Lebensmittel- und Energiemärkte. Letzteres geschah natürlich nicht absichtlich, daran besteht kein Zweifel, sondern aufgrund einer Reihe von systematischen Fehlern genau jener westlichen Regierungen, die ich bereits erwähnt habe. Und, wie wir jetzt sehen, kam auch noch die Zerstörung der paneuropäischen Gaspipelines dazu. Das ist unvorstellbar, aber wir sind trotzdem Zeugen dieser traurigen Ereignisse.
Die Macht über die Welt ist genau das, worauf der sogenannte Westen gesetzt hat. Aber dieses Spiel ist mit Sicherheit ein gefährliches, blutiges und, ich würde sagen, schmutziges Spiel.
Es leugnet die Souveränität von Ländern und Völkern, ihre Identität und Einzigartigkeit und ignoriert die Interessen anderer Staaten. Zumindest dann, wenn es diese Interessen nicht ausdrücklich abstreitet, wird es in der Praxis aber genau so gehandhabt. Niemand, außer denen, die die genannten Regeln formulieren, hat das Recht, seine eigene Identität zu entwickeln: Alle anderen müssen sich diesen Regeln unterordnen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Vorschläge Russlands an die westlichen Partner zur Vertrauensbildung und zum Aufbau eines Systems kollektiver Sicherheit erinnern. Im vergangenen Dezember wurden sie wieder einmal einfach beiseitegeschoben. (Anm. d. Übers.: Die Details zu dem Vorschlag von Russland an den Westen für gegenseitige Sicherheitsgarantien können Sie hier finden [3].)
Aber in der heutigen Welt ist es kaum möglich, etwas auszusitzen. Wer Wind sät, wird, wie man sagt, Sturm ernten. Die Krise ist tatsächlich global geworden, sie betrifft jeden. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen.
Die Menschheit hat jetzt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: entweder die Probleme weiter anzuhäufen, die uns alle unweigerlich erdrücken werden, oder zu versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden, wenn auch unvollkommene, aber wirksame Lösungen, die unsere Welt stabiler und sicherer machen können.
Wissen Sie, ich habe immer an die Kraft des gesunden Menschenverstands geglaubt und tue das auch heute noch. Ich bin daher überzeugt, dass sowohl die neuen Zentren der multipolaren Weltordnung als auch der Westen früher oder später anfangen müssen, auf Augenhöhe über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen, und zwar je früher, desto besser. Und in diesem Zusammenhang möchte ich auf einige für uns alle sehr wichtige Punkte hinweisen.
Die heutigen Ereignisse haben die Umweltthemen zur Seite geschoben. Es mag merkwürdig sein, aber ich möchte damit beginnen. Der Klimawandel steht nicht mehr ganz oben auf der Tagesordnung. Aber diese grundlegenden Herausforderungen sind nicht verschwunden, sie haben sich nicht verflüchtigt, sie wachsen.
Eine der gefährlichsten Folgen des ökologischen Ungleichgewichts ist der Rückgang der Artenvielfalt. Und nun komme ich zu dem Hauptthema, wegen dem wir alle zusammengekommen sind: Ist die andere Vielfalt – die kulturelle, soziale, politische, zivilisatorische – weniger wichtig?
Die Vereinfachung, die Auslöschung aller Unterschiede ist praktisch zum Wesen des modernen Westens geworden. Was steckt hinter dieser Vereinfachung? Vor allem das Verschwinden des kreativen Potenzials des Westens selbst und der Wunsch, die freie Entwicklung anderer Zivilisationen einzuschränken, zu blockieren.
Natürlich gibt es hier auch ein direktes wirtschaftliches Interesse: Mit der Durchsetzung ihrer Werte, ihrer Konsumklischees, ihrer Vereinheitlichung versuchen unsere Gegner – ich nenne sie mal vorsichtig so – die Märkte für ihre Produkte zu erweitern. Am Ende ist das alles sehr primitiv. Es ist kein Zufall, dass der Westen den Anspruch erhebt, dass seine Kultur und Weltanschauung universell sein müssen. Auch wenn sie es nicht direkt sagen – obwohl sie es auch oft sagen -, aber auch wenn sie es nicht direkt sagen, verhalten sie sich doch so. Und sie bestehen darauf, dass eben diese Werte von allen anderen Teilnehmern des internationalen Lebens bedingungslos akzeptiert werden müssen.
Hier ein Zitat aus der berühmten Harvard-Rede von Alexander Solschenizyn. Bereits 1978 stellte er fest, dass der Westen von einer „anhaltenden Blindheit der Überlegenheit“ geprägt sei – das alles passiert heute immer noch –, die „die Vorstellung unterstützt, dass alle Gebiete unseres Planeten sich gemäß den derzeitigen westlichen Systemen entwickeln und von ihnen beherrscht werden sollten“. Das war 1978. Es hat sich nichts geändert.
Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts hat diese Verblendung, von der Solschenizyn sprach – sie ist offen rassistisch und neokolonial –, einfach nur hässliche Formen angenommen, insbesondere seit der Entstehung der sogenannten unipolaren Welt. Was möchte ich dazu sagen? Das Vertrauen auf die eigene Unfehlbarkeit ist ein sehr gefährlicher Zustand: Er ist nur einen Schritt entfernt von dem Wunsch der „Unfehlbaren“, diejenigen, die ihnen nicht gefallen, einfach zu vernichten. Wie man so schön sagt, sie zu „canceln“, sie abzuschaffen. Lassen Sie uns zumindest über die Bedeutung des Wortes nachdenken.
Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, auf dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen Systemen, Ideologien und militärischen Rivalitäten, kam es niemandem in den Sinn, die Existenz von Kultur, Kunst und Wissenschaft des Gegners zu leugnen. Auf die Idee wäre niemand gekommen! Ja, es gab gewisse Einschränkungen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Kultur und leider auch im Sport. Dennoch waren sich damals sowohl die sowjetische als auch die amerikanische Führung darüber im Klaren, dass der humanitäre Bereich mit Fingerspitzengefühl angegangen werden sollte, indem man den Gegner studiert und respektiert und sich von ihm etwas abschaut, um zumindest für die Zukunft eine Grundlage für solide, fruchtbare Beziehungen zu erhalten.
Und was geschieht jetzt? Die Nazis gingen seinerzeit so weit, dass sie Bücher verbrannten, und nun sind die westlichen „Förderer des Liberalismus und des Fortschritts“ so weit gegangen, dass sie Dostojewski und Tschaikowski verbieten. Die
sogenannte „Cancel Culture“ – die Kultur der Abschaffung – ist aber in Wirklichkeit – wir haben schon oft darüber gesprochen – die tatsächliche Abschaffung der Kultur alles Lebendigen und Schöpferischen und lässt das freie Denken in keinem Bereich zur Entfaltung kommen: nicht in der Wirtschaft, nicht in der Politik, nicht in der Kultur.
Die liberale Ideologie selbst hat sich heute bis zur Unkenntlichkeit verändert. Verstand der klassische Liberalismus die Freiheit eines jeden Menschen ursprünglich als die Freiheit, zu sagen und zu tun, was man will, so begannen Liberale bereits im 20. Jahrhundert zu sagen, dass die sogenannte offene Gesellschaft Feinde hat – die offene Gesellschaft hat also Feinde – und dass die Freiheit dieser Feinde eingeschränkt oder sogar abgeschafft werden kann und muss.
Inzwischen ist es sogar so absurd, dass jede alternative Sichtweise als subversive Propaganda und Bedrohung der Demokratie bezeichnet wird.
Alles, was aus Russland kommt, sind „Kreml-Machenschaften“. Aber schaut Euch selbst an! Sind wir wirklich so allmächtig? Jede Kritik an unseren Gegnern – jede! – wird als „Kreml-Machenschaften“, als „Hand des Kreml“ wahrgenommen. So ein Unsinn. Wie weit sind sie gegangen? Benutzt einfach Euren Verstand, denkt Euch etwas Interessanteres aus, präsentiert Euren Standpunkt auf eine konzeptionellere Weise. Man kann nicht alles auf die Intrigen des Kreml schieben.
All das hat Fjodor Dostojewski bereits im 19. Jahrhundert prophetisch vorausgesagt. Eine der Figuren in seinem Roman „Die Besessenen“, der Nihilist Schigaljow, beschrieb die strahlende Zukunft, die er sich vorstellte, folgendermaßen: „Die grenzenlose Freiheit verlassend eröffne ich den grenzenlosen Despotismus“ – dahin sind unsere westlichen Gegner übrigens gekommen. Eine andere Figur des Romans, Peter Verhovenski, schließt sich ihm an und erklärt, dass Verrat, Spitzeltum und Spionage überall gebraucht werden, dass die Gesellschaft keine Talente und höheren Fähigkeiten braucht: „Cicero wird die Zunge herausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen, Shakespeare wird gesteinigt.“ Das ist es, wohin unsere westlichen Gegner gehen. Was ist das anderes als die moderne westliche Cancel Culture?
Das waren große Denker und ich bin meinen Mitarbeitern, die diese Zitate gefunden haben, ehrlich gesagt dankbar.
Was kann man dazu sagen? Die Geschichte wird sicherlich alles an seinen Platz stellen und die größten Werke der allgemein anerkannten Genies der Weltkultur nicht canceln, sondern diejenigen, die beschlossen haben, dass sie das Recht haben, nach ihrem Gutdünken über diese Weltkultur zu verfügen. Die Eitelkeit dieser Leute sprengt, wie man sagt, den Rahmen, aber in ein paar Jahren wird sich niemand mehr an ihre Namen erinnern. Aber Dostojewski wird weiterleben, ebenso wie Tschaikowski und Puschkin – so sehr sich manche auch etwas anderes wünschen mögen.
Das westliche Modell der Globalisierung, das in seinem Kern neokolonial ist, wurde ebenfalls auf Vereinheitlichung, auf finanziellem und technologischem Monopolismus und auf der Auslöschung aller Unterschiede aufgebaut. Die Aufgabe war klar: Die bedingungslose Vorherrschaft des Westens in der Weltwirtschaft und -politik zu stärken und zu diesem Zweck die natürlichen und finanziellen Ressourcen, die intellektuellen, menschlichen und wirtschaftlichen Kapazitäten des gesamten Planeten in seinen Dienst zu stellen, und zwar unter dem Deckmantel der sogenannten neuen globalen gegenseitigen Abhängigkeit.
Hier möchte ich an einen weiteren russischen Philosophen erinnern, an Alexander Sinowjew, dessen hundertsten Geburtstag wir am 29. Oktober feiern werden. Vor mehr als 20 Jahren sagte er, dass für das Überleben der westlichen Zivilisation auf dem von ihr erreichten Niveau „der gesamte Planet als Lebensraum notwendig ist, alle Ressourcen der Menschheit sind dafür notwendig“. Das fordern sie ja auch, genau so ist es.
Dabei hat der Westen sich in diesem System von Beginn an einen gewaltigen Vorsprung geschaffen, da er die Prinzipien und Mechanismen entwickelt hat – so wie jetzt jene Prinzipien, über die ständig gesprochen wird, und die ein unverständliches „schwarzes Loch“ sind: was das ist, weiß niemand. Aber sobald nicht die westlichen Länder, sondern andere Staaten von der Globalisierung zu profitieren begannen, und wir sprechen hier natürlich in erster Linie von den großen asiatischen Staaten, hat der Westen viele Regeln sofort geändert oder ganz aufgehoben. Und die sogenannten heiligen Grundsätze des Freihandels, der wirtschaftlichen Offenheit, des fairen Wettbewerbs und sogar des Rechts auf Eigentum waren plötzlich völlig vergessen. Sobald etwas für sie profitabel wurde, haben sie während des Spiels sofort und spontan die Regeln geändert.
Oder ein weiteres Beispiel für die Änderung von Begriffen und Bedeutungen. Westliche Ideologen und Politiker erzählen der ganzen Welt seit vielen Jahren: Es gibt keine Alternative zur Demokratie. Allerdings ist die Rede vom westlichen, sogenannten liberalen Modell der Demokratie. Sie lehnen alle anderen Varianten und Formen der Demokratie mit Verachtung und – das möchte ich unterstreichen – Arroganz ab. Dieses Verhalten hat sich schon vor langer Zeit, noch in der Kolonialzeit, herausgebildet: Alle werden als Menschen zweiter Klasse angesehen, während andere exklusiv sind. Das geht schon seit Jahrhunderten so, bis heute.
Aber heute verlangt die absolute Mehrheit der Weltgemeinschaft genau das: Demokratie in internationalen Angelegenheiten und sie akzeptiert keinerlei Formen autoritärer Diktate einzelner Länder oder Gruppen von Staaten. Was ist das, wenn nicht die direkte Anwendung der Prinzipien der Macht des Volkes auf der Ebene der internationalen Beziehungen?
Und was ist die Position des „zivilisierten“ – in Anführungszeichen – Westens? Wenn Ihr Demokraten seid, dann müsstet Ihr dieses natürliche Streben von Milliarden von Menschen nach Freiheit begrüßen – aber nein! Der Westen nennt das die Untergrabung der liberalen, regelbasierten Ordnung und startet Wirtschafts- und Handelskriege, Sanktionen, Boykotte, Farbrevolutionen und führt alle Arten von Putschen durch.
Einer davon führte zu den tragischen Folgen in der Ukraine im Jahr 2014 – sie haben den Putsch unterstützt und sogar erzählt, wie viel Geld sie dafür ausgegeben haben. Eigentlich sind sie einfach wahnsinnig, ihnen ist nichts peinlich. Sie haben Suleimani, einen iranischen General, getötet. Man kann zu Suleimani stehen, wie man will, aber er ist ein offizieller Vertreter eines anderen Landes! Sie haben ihn auf dem Gebiet eines dritten Landes ermordet und gesagt: Ja, wir haben ihn ermordet. Was ist das überhaupt? Wo leben wir? (Anm. d. Übers.: Alle, die sich an den Vorfall nicht mehr erinnern, finden hier Details [4].)
Washington bezeichnet die gegenwärtige Weltordnung weiterhin gewohnheitsmäßig als amerikanisch-liberal, aber in Wirklichkeit vergrößert diese berüchtigte „Ordnung“ jeden Tag das Chaos und wird, wie ich hinzufügen möchte, sogar gegenüber den westlichen Ländern selbst, gegenüber ihren Versuchen, irgendeine Unabhängigkeit zu zeigen, immer intoleranter. Alles wird bis an die Wurzel unterdrückt und es werden Sanktionen gegen die eigenen Verbündeten verhängt – ohne jede Scham! Und die nehmen das alles mit gesenktem Kopf hin.
Beispielsweise wurden die Vorschläge der ungarischen Parlamentarier vom Juli, im EU-Vertrag ein Bekenntnis zu europäischen christlichen Werten und zur europäischen Kultur zu verankern, nicht einmal als Fronde, sondern als direkte feindliche Sabotage wahrgenommen. Was ist das? Wie soll man das verstehen? Ja, einigen mag es gefallen, anderen nicht.
In Russland haben wir im Laufe von tausend Jahren eine einzigartige Kultur der Wechselbeziehungen zwischen allen Weltreligionen entwickelt. Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu canceln: weder christliche Werte noch islamische oder jüdische Werte. Die anderen Weltreligionen sind in unserem Land präsent. Man muss sich einfach gegenseitig mit Respekt behandeln. In einigen Regionen unseres Landes, das habe ich aus erster Hand erfahren, feiern die Menschen christliche, islamische, buddhistische und jüdische Feiertage gemeinsam und tun das gerne, beglückwünschen einander und freuen sich zusammen.
Aber nicht in Europa. Warum nicht? Zumindest hätten sie darüber sprechen können. Es ist erstaunlich!
All das ist ohne Übertreibung nicht einmal eine systemische, sondern eine doktrinäre Krise des neoliberalen amerikanischen Modells der Weltordnung. Sie haben keine Ideen, etwas zu erschaffen, und von positiver Entwicklung, sie haben der Welt einfach nichts zu bieten außer dem Erhalt ihrer Vorherrschaft.
Ich bin davon überzeugt, dass echte Demokratie in einer multipolaren Welt zuallererst die Möglichkeit eines jeden Volkes – ich möchte das betonen, jeder Gesellschaft, jeder Zivilisation – voraussetzt, seinen eigenen Weg, sein eigenes soziales und politisches System zu wählen. Wenn die USA und die EU dieses Recht haben, dann haben es sicherlich auch die asiatischen Länder, die islamischen Staaten, die Monarchien des Persischen Golfs und die Staaten anderer Kontinente. Natürlich hat auch unser Land, Russland, dieses Recht, und niemand wird jemals in der Lage sein, unserem Volk vorzuschreiben, welche Art von Gesellschaft wir aufzubauen haben und auf welchen Prinzipien sie beruhen soll.
Die direkte Bedrohung des politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Monopols des Westens besteht darin, dass in der Welt alternative Gesellschaftsmodelle entstehen könnten – effektivere, das möchte ich betonen, – in der heutigen Zeit effektivere, hellere, attraktivere als die, die wir haben. Und diese Modelle werden sich entwickeln, das ist unvermeidlich. Übrigens schreiben amerikanische Politikwissenschaftler und Experten darüber auch direkt. Die Regierungen hören zwar noch nicht wirklich auf sie, aber sie können diese Ideen in den politikwissenschaftlichen Zeitschriften und in Diskussionen nicht übersehen.
Entwicklung muss im Dialog der Zivilisationen stattfinden, der auf geistigen und moralischen Werten beruht. Ja, verschiedene Zivilisationen haben unterschiedliche Verständnisse des Menschen, seines Wesens. Es sind oft nur oberflächliche Unterschiede, aber alle erkennen die höchste Würde und das geistige Wesen des Menschen an. Und dieses gemeinsame Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen können und müssen, ist von größter Bedeutung.
Was möchte ich hier hervorheben? Traditionelle Werte sind nicht irgendwelche festen Postulate, an die sich alle halten müssen. Nein, natürlich nicht. Sie unterscheiden sich von den sogenannten neoliberalen Werten dadurch, dass jedes von ihnen einzigartig ist, weil sie aus der Tradition einer bestimmten Gesellschaft, ihrer Kultur und historischen Erfahrung stammen. Traditionelle Werte können daher niemandem aufgezwungen werden – sie müssen einfach respektiert werden, indem das, was jede Nation im Laufe der Jahrhunderte gewählt hat, respektiert wird.
Das ist unser Verständnis von traditionellen Werten und dieser Ansatz wird von der Mehrheit der Menschheit geteilt und akzeptiert. Das ist logisch, denn die traditionellen Gesellschaften des Ostens, Lateinamerikas, Afrikas und Eurasiens bilden die Grundlage der Weltzivilisation.
Der Respekt vor den Besonderheiten der Völker und Zivilisationen liegt im Interesse aller. Das liegt auch im Interesse des sogenannten Westens. Indem er seine Vormachtstellung verliert, wird er schnell zu einer Minderheit auf der Weltbühne. Und natürlich sollte das Recht dieser westlichen Minderheit auf ihre eigene kulturelle Identität, das möchte ich unterstreichen, gewährleistet sein, es sollte sicherlich respektiert werden, aber, das unterstreiche ich, gleichberechtigt mit den Rechten aller anderen.
Wenn die westlichen Eliten glauben, dass sie in der Lage sein werden, in den Köpfen ihrer Menschen, ihrer Gesellschaften, neue, meiner Meinung nach seltsame Trends wie Dutzende von Geschlechtern und Schwulenparaden einzuführen, dann soll es so sein. Sollen sie tun, was sie wollen! Aber sie haben sicher nicht das Recht, von anderen zu verlangen, dass sie den gleichen Weg gehen.
Wir sehen, dass die westlichen Länder komplizierte demographische, politische und soziale Prozesse haben. Das ist natürlich ihre innere Angelegenheit. Russland mischt sich nicht in diese Angelegenheiten ein und hat auch nicht die Absicht, das zu tun – im Gegensatz zum Westen mischen wir uns nicht in fremde Hinterhöfe ein. Wir gehen jedoch davon aus, dass der Pragmatismus die Oberhand gewinnen wird und der Dialog zwischen Russland und dem echten, traditionellen Westen sowie mit anderen Zentren gleicher Entwicklung einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer multipolaren Weltordnung leisten wird.
Ich möchte hinzufügen, dass die Multipolarität die wirkliche und tatsächlich einzige Chance für Europa ist, seine politische und wirtschaftliche Subjektivität wiederherzustellen. Sicher, wir alle verstehen, und in Europa wird direkt darüber gesprochen: Europas rechtliche Subjektivität ist heute – wie soll ich es vorsichtig ausdrücken, um niemanden zu beleidigen – sehr begrenzt.
Die Welt ist von Natur aus vielfältig und die Versuche des Westens, alle in ein einziges Schema zu pressen, sind objektiv zum Scheitern verurteilt, und es wird nichts dabei herauskommen.
Das arrogante Streben nach der Weltherrschaft, nach dem Diktat oder nach dem Erhalt der Führungsrolle durch Diktat, führt zum Niedergang der internationalen Autorität der Führer der westlichen Welt, einschließlich der USA, und zum wachsenden Misstrauen in ihre Fähigkeit zu verhandeln insgesamt. An einem Tag sagen sie das eine und am nächsten Tag etwas anderes; sie unterschreiben Dokumente und am nächsten Tag weigern sie sich, sie einzuhalten; sie tun, was sie wollen. Es gibt überhaupt keine Stabilität in irgendetwas. Wie die Dokumente unterzeichnet werden, worüber gesprochen wurde, worauf man hoffen kann, ist vollkommen unklar.
Während sich früher nur einige wenige Länder erlaubt haben, mit Amerika zu streiten, und das fast wie eine Sensation aussah, ist es heute für viele Staaten üblich, die unbegründeten Forderungen Washingtons abzulehnen, auch wenn es immer noch versucht, alle herumzuschubsen. Das ist eine völlig verfehlte Politik, die einfach ins Nichts führt. Sollen sie doch, das ist auch ihre Entscheidung.
Ich bin überzeugt, dass die Völker der Welt nicht die Augen vor der Politik der Nötigung verschließen werden, die sich selbst diskreditiert hat, und der Westen wird jedes Mal, wenn er versucht, seine Hegemonie aufrechtzuerhalten, einen immer höheren Preis zahlen müssen. Wäre ich an der Stelle dieser westlichen Eliten, würde ich über diese Perspektive ernsthaft nachdenken, so wie einige Politologen und Politiker in den USA selbst es tun, wie ich bereits sagte.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen gewalttätiger Konflikte werde ich einige Dinge direkt sagen. Russland als unabhängige, eigenständige Zivilisation hat sich nie als Feind des Westens gesehen und sieht sich auch nicht als solcher. Amerikafeindlichkeit, Anglophobie, Frankophobie, Deutschfeindlichkeit sind ebenso Formen des Rassismus wie Russophobie und Antisemitismus, wie auch alle Formen der Fremdenfeindlichkeit.
Man muss klar verstehen, dass es, wie ich bereits sagte, zwei Westens gibt. Mindestens zwei, vielleicht auch mehr, aber mindestens zwei: den Westen der traditionellen, vor allem christlichen Werte, der Freiheit, des Patriotismus, der reichhaltigen Kultur und jetzt auch der islamischen Werte, denn ein bedeutender Teil der Bevölkerung vieler westlicher Länder bekennt sich zum Islam. Dieser Westen ist uns in gewisser Weise nahe, in vielerlei Hinsicht haben wir gemeinsame, ja sogar antike Wurzeln. Aber es gibt auch den anderen Westen: aggressiv, kosmopolitisch, neokolonial, ein Werkzeug der neoliberalen Eliten. Das Diktat genau dieses Westens wird Russland sicher nicht akzeptieren.
Ich werde mich immer daran erinnern, was ich im Jahr 2000, nachdem ich zum Präsidenten gewählt worden war, erleben musste. Erinnern Sie sich an den Preis, den wir für die Zerstörung des Terrornestes im Nordkaukasus gezahlt haben, das der Westen damals praktisch offen unterstützt hat? Alle Erwachsenen hier, die meisten von Ihnen in diesem Saal, verstehen, wovon ich spreche. Wir wissen, dass genau dies in der Praxis geschah: finanzielle, politische und mediale Unterstützung. Wir alle haben das erlebt.
Darüber hinaus hat der Westen Terroristen auf russischem Territorium nicht nur aktiv unterstützt, sondern dieser Bedrohung in vielerlei Hinsicht Vorschub geleistet. Wir wissen das. Aber nachdem sich die Lage stabilisiert hatte und die wichtigsten Terrorbanden besiegt waren, auch dank des Mutes des tschetschenischen Volkes, haben wir beschlossen, uns nicht abzuwenden, nicht den Beleidigten zu spielen, sondern vorwärtszugehen, Beziehungen auch zu denen aufzubauen, die eigentlich gegen uns arbeiteten, Beziehungen auf der Grundlage von gegenseitigem Nutzen und gegenseitigem Respekt zu allen aufzubauen und zu entwickeln, die das wollten.
Man dachte, dass das im gemeinsamen Interesse liegt. Russland hat Gott sei Dank alle Schwierigkeiten dieser Zeit überstanden, hat durchgehalten, ist gestärkt, ist mit dem inneren und äußeren Terrorismus klargekommen, hat seine Wirtschaft bewahrt, hat begonnen, sich zu entwickeln und seine Verteidigungsfähigkeit verbessert. Wir haben versucht, Beziehungen zu den führenden Ländern des Westens und zur NATO aufzubauen. Die Botschaft war dieselbe:
Lasst uns aufhören Feinde zu sein, lasst uns als Freunde zusammenleben, lasst uns den Dialog aufnehmen, lasst uns Vertrauen aufbauen und damit Frieden schaffen.
Wir waren absolut aufrichtig, das möchte ich betonen. Wir waren uns über die Komplexität dieser Annäherung im Klaren, aber wir sind den Weg gegangen.
Und was haben wir als Antwort erhalten? Kurz gesagt, wir haben in allen wichtigen Bereichen der möglichen Zusammenarbeit ein „Nein“ erhalten. Wir haben ständig wachsenden Druck auf uns und die Schaffung von Spannungsherden in der Nähe unserer Grenzen erhalten. Und was, wenn ich fragen darf, ist das Ziel dieses Drucks? Was ist es? Üben sie etwa einfach nur ein bisschen? Nein, natürlich nicht. Das Ziel ist es, Russland verwundbarer zu machen. Das Ziel ist es, Russland zu einem Werkzeug zur Erreichung ihrer eigenen geopolitischen Ziele zu machen.
Das ist in der Tat die universelle Regel: Sie versuchen, jeden in ein Werkzeug zu verwandeln, um dieses Werkzeug für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Und diejenigen, die diesem Druck nicht nachgeben, die kein solches Werkzeug sein wollen, gegen die werden Sanktionen verhängt, gegen die werden alle möglichen wirtschaftlichen Restriktionen verhängt, gegen die werden Putsche vorbereitet oder wenn möglich durchgeführt und so weiter. Und wenn am Ende nichts gelingt, gibt es ein Ziel – sie zu vernichten, sie von der politischen Landkarte zu tilgen. Aber so ein Szenario hat in Bezug auf Russland nie funktioniert und wird in Bezug auf Russland auch nie funktionieren.
Was würde ich noch gerne hinzufügen? Russland fordert die Eliten des Westens nicht heraus – Russland verteidigt lediglich sein Recht auf Existenz und freie Entwicklung. Dabei haben wir selbst nicht vor, zu einem neuen Hegemon zu werden. Russland schlägt nicht vor, die Unipolarität durch Bipolarität, Tripolarität etc. auszutauschen, die westliche Vorherrschaft durch die Vorherrschaft des Ostens, des Nordens oder des Südens zu ersetzen. Das würde unweigerlich in eine neue Sackgasse führen.
Hier möchte ich die Worte des großen russischen Philosophen Nikolai Danilewski zitieren, der der Meinung war, dass der Fortschritt nicht darin besteht, nur in eine Richtung zu gehen, in die einige unserer Gegner uns drängen – dann würde der Fortschritt bald aufhören, so Danilewski –, sondern darin, „das gesamte Feld, das den Bereich der geschichtlichen Tätigkeit der Menschheit ausmacht, in allen Richtungen anzugehen“. Und er fügt hinzu, dass sich keine Zivilisation rühmen kann, den höchsten Entwicklungsstand zu repräsentieren.
Ich bin davon überzeugt, dass der Diktatur nur die freie Entwicklung von Ländern und Völkern entgegenstehen kann, dass der Degradation des Individuums die Liebe zum Menschen als Schöpfer entgegenstehen kann, dass primitiver Vereinfachung und Verboten die blühende Komplexität von Kulturen und Traditionen entgegenstehen kann.
Die Bedeutung des heutigen historischen Moments besteht gerade darin, dass sich vor allen Zivilisationen, Staaten und Staatenverbänden die Möglichkeit einer eigenen, demokratischen, originellen Entwicklungsweise eröffnet. Und vor allem glauben wir, dass die neue Weltordnung auf Recht und Gesetz beruhen muss, dass sie frei, unverwechselbar und gerecht sein muss.
Daher müssen die Weltwirtschaft und der Handel gerechter und offener werden. Russland ist der Ansicht, dass der Prozess der Schaffung neuer internationaler Finanzplattformen, einschließlich solcher für den internationalen Zahlungsverkehr, unumgänglich ist. Solche Plattformen sollten außerhalb nationaler Zuständigkeiten liegen, sicher, entpolitisiert und automatisiert sein und nicht von einem einzigen Kontrollzentrum abhängen. Ist das möglich oder nicht? Natürlich. Es wird große Anstrengungen erfordern, viele Länder müssen ihre Kräfte bündeln, aber es ist machbar.
Das wird die Möglichkeit des Missbrauchs der neuen globalen Finanzinfrastruktur ausschließen und eine effiziente, profitable und sichere Abwicklung internationaler Transaktionen ohne den Dollar und andere so genannte Reservewährungen ermöglichen. Das umso mehr, als die USA und der Westen durch den Einsatz des Dollars als Waffe die Institution der internationalen Finanzreserven diskreditiert haben. Zuerst wurden sie durch die Inflation in der Dollar- und Eurozone abgewertet und dann haben sie unsere internationalen Reserven eingesackt.
Die Umstellung auf nationale Währungen wird – zwangsläufig – an Dynamik gewinnen. Das hängt natürlich von der Verfassung der Emittenten dieser Währungen und ihrer Volkswirtschaften ab, aber sie werden stärker werden und diese Zahlungen werden mit Sicherheit allmählich die Oberhand gewinnen. Das ist die Logik einer souveränen Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer multipolaren Welt.
Weiter. Die neuen Zentren der globalen Entwicklung verfügen bereits heute über einzigartige Technologien und wissenschaftliche Entwicklungen in einer Vielzahl von Bereichen und in vielen Bereichen können sie erfolgreich mit westlichen transnationalen Unternehmen konkurrieren.
Offensichtlich haben wir ein gemeinsames, ganz pragmatisches Interesse an einem fairen und offenen wissenschaftlichen und technologischen Austausch. Gemeinsam wird jeder mehr profitieren als allein. Die Vorteile sollten der Mehrheit zugutekommen, nicht einzelnen superreichen Konzernen.
Wie sieht es heute aus? Wenn der Westen Medikamente oder Saatgut für Nahrungspflanzen an andere Länder verkauft, werden die nationale Pharmaindustrie und Viehzucht vernichtet und im Grunde läuft in der Praxis alles darauf hinaus: Die Lieferung von Maschinen und Ausrüstungen zerstört die lokale Maschinenbauindustrie. Als ich Premierminister war, habe ich es verstanden: Sobald man den Markt für eine bestimmte Warengruppe öffnet, ist der lokale Produzent untergegangen und es ist fast unmöglich, dass er sein Haupt wieder erhebt. So werden Beziehungen aufgebaut. So werden Märkte und Ressourcen erobert, Länder werden ihres technologischen und wissenschaftlichen Potenzials beraubt. Das ist kein Fortschritt, sondern Versklavung, die Reduzierung der Volkswirtschaften auf ein primitives Niveau.
Die technologische Entwicklung sollte die globale Ungleichheit nicht verstärken, sondern verringern. Genau so setzt Russland traditionell seine technologische Außenpolitik um. Wenn wir zum Beispiel Kernkraftwerke in anderen Staaten bauen, schaffen wir dort gleichzeitig Kompetenzzentren, bilden nationales Personal aus. Wir schaffen eine Industrie, wir bauen nicht nur eine Anlage, wir schaffen eine ganze Industrie. Im Grunde geben wir anderen Ländern die Möglichkeit, einen echten Durchbruch in ihrer wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung zu erzielen, Ungleichheiten zu verringern und ihren Energiesektor auf ein neues Niveau von Effizienz und Umweltfreundlichkeit zu bringen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass Souveränität und eigene Entwicklung keineswegs Isolation oder Autarkie bedeuten, sondern vielmehr eine aktive, für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit auf der Grundlage fairer und gerechter Prinzipien.
Während die liberale Globalisierung eine Entpersönlichung ist, die der ganzen Welt das westliche Modell aufzwingt, geht es bei der Integration im Gegenteil darum, das Potenzial jeder Zivilisation zum Nutzen des Ganzen, zum Wohle aller zu erschließen. Während der Globalismus ein Diktat ist, worauf er letztlich hinausläuft, ist Integration die gemeinsame Erarbeitung von Strategien, die allen zugutekommen.
In dieser Hinsicht hält Russland es für wichtig, die Mechanismen zur Schaffung großer Räume zu aktivieren, die auf der Zusammenarbeit von Nachbarländern beruhen, deren Wirtschaft, Sozialsystem, Rohstoffe und Infrastruktur sich gegenseitig ergänzen. Solche großen Räume sind im Grunde die Grundlage für eine multipolare Weltordnung – die wirtschaftliche Grundlage. Aus ihrem Dialog erwächst die wahre Einheit der Menschheit, die viel komplexer, ausgeprägter und mehrdimensionaler ist als in den vereinfachenden Ansichten einiger westlicher Ideologen.
Die Einheit der Menschheit beruht nicht auf dem Befehl „mach es wie ich“ oder „werde wie wir“ – sie wird unter Berücksichtigung und auf der Grundlage der Meinung aller und mit Respekt vor der Identität jeder Gesellschaft und Nation gebildet. Das ist das Prinzip, auf dem ein langfristiges Engagement in einer multipolaren Welt aufbauen kann.
In diesem Zusammenhang könnte es sich lohnen, darüber nachzudenken, dass die Struktur der Vereinten Nationen, einschließlich des Sicherheitsrates, die Vielfalt der Weltregionen besser widerspiegeln sollte. Schließlich wird in der Welt von morgen viel mehr von Asien, Afrika und Lateinamerika abhängen, als man heute gemeinhin annimmt, und diese Zunahme ihres Einflusses ist auf jeden Fall positiv.
Ich erinnere daran, dass die westliche Zivilisation nicht die einzige ist, auch nicht in unserem gemeinsamen eurasischen Raum. Außerdem konzentriert sich die Mehrheit der Bevölkerung gerade im Osten Eurasiens, wo die ältesten Zivilisationen der Menschheit entstanden sind.
Der Wert und die Bedeutung Eurasiens liegen darin, dass dieser Kontinent ein autarker Komplex ist, der über gigantische Ressourcen jeder Art und ein enormes Potenzial verfügt. Und je härter wir daran arbeiten, die Verbindungen in Eurasien zu erhöhen, neue Wege und Formen der Zusammenarbeit zu schaffen, desto beeindruckendere Fortschritte machen wir.
Die erfolgreichen Aktivitäten der Eurasischen Wirtschaftsunion, das rasche Anwachsen der Autorität und des Einflusses der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die groß angelegten Initiativen im Rahmen von „One Belt, One Road“, die Pläne für eine multilaterale Zusammenarbeit zur Verwirklichung des Nord-Süd-Verkehrskorridors und andere, viele andere Projekte in diesem Teil der Welt sind, da bin ich mir sicher, der Beginn einer neuen Ära, einer neuen Phase in der Entwicklung Eurasiens. Integrationsprojekte stehen hier nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich, wenn sie von den Nachbarländern in ihrem eigenen Interesse durchgeführt und nicht von äußeren Kräften gewaltsam eingeführt werden, um den eurasischen Raum zu spalten und ihn in eine Zone der Blockkonfrontation zu verwandeln.
Sein westliches Ende, Europa, könnte auch ein natürlicher Teil des großen Eurasiens sein. Doch viele der führenden Vertreter sind von der Überzeugung beseelt, dass die Europäer besser sind als andere und dass es unter ihrer Würde ist, sich gleichberechtigt mit anderen an Unternehmungen zu beteiligen. Hinter dieser Arroganz bemerken sie nicht einmal, dass sie an den Rand gedrängt wurden, dass sie Vasallen sind – oft sogar ohne ein Wahlrecht.
Verehrte Kollegen!
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat auch das Gleichgewicht der geopolitischen Kräfte zerstört. Der Westen fühlte sich als Sieger und proklamierte die unipolare Weltordnung, in der nur sein Wille, seine Kultur und seine Interessen eine Existenzberechtigung hatten.
Diese historische Periode der ungeteilten Vorherrschaft des Westens im Weltgeschehen geht nun zu Ende, die unipolare Welt gehört der Vergangenheit an. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, vor dem wahrscheinlich gefährlichsten, unvorhersehbarsten und doch wichtigsten Jahrzehnt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Westen ist nicht in der Lage, die Menschheit allein zu regieren, aber er versucht es verzweifelt, und die meisten Nationen der Welt sind nicht mehr bereit, das zu dulden. Das ist der größte Gegensatz der neuen Ära. Die Situation ist in gewisser Weise revolutionär: Die Oberschicht kann nicht und die Unterschicht will nicht mehr so leben, heißt es in einem Klassiker.
Dieser Zustand birgt globale Konflikte oder eine Kette von Konflikten, die eine Bedrohung für die Menschheit, einschließlich des Westens selbst, darstellen. Diesen Widerspruch konstruktiv aufzulösen, ist heute die wichtigste geschichtliche Aufgabe.
Alles zu verändern ist ein schmerzhafter, aber natürlicher und unvermeidlicher Prozess. Die künftige Weltordnung nimmt vor unseren Augen Gestalt an. Und in dieser Weltordnung müssen wir jedem zuhören, jeden Standpunkt berücksichtigen, jede Nation, Gesellschaft, Kultur, jedes System von Weltanschauungen, Ideen und religiösen Überzeugungen, ohne jemandem eine einheitliche Wahrheit aufzuzwingen. Nur auf dieser Grundlage können wir im Verständnis für unsere Verantwortung für das Schicksal – das Schicksal der Nationen, des Planeten – eine Symphonie der menschlichen Zivilisation bauen.
Damit möchte ich schließen und Ihnen für Ihre Geduld beim Anhören meiner Botschaft danken.
Ich danke Ihnen vielmals.
Ende der Übersetzung
Putin über die neue Weltordnung:
Russland reicht allen Staaten die Hand
Dieser Text wurde zuerst am 28.10.2022 auf www.anti-spiegel.ru unter der URL <https://www.anti-spiegel.ru/2022/putin-ueber-die-neue-weltordnung-russland-reicht-allen-staaten-die-hand/> veröffentlicht.
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Wladimir Putin bei seiner Grundsatzrede beim 19. Treffen des Valdai-Club. (Screenshot: http://en.kremlin.ru; Lizenz: CC BY-SA 4.0)
Wie jedes Jahr hat Putin auch jetzt wieder eine Grundsatzrede beim Valdai-Club gehalten. Dabei hat er mit dem Westen und seiner Politik abgerechnet und gleichzeitig allen Staaten der Welt die Hand gereicht.
Die Valdai-Reden des russischen Präsidenten sind für Freund und Feind jedes Jahr ein geopolitisches Highlight, weil Putin sich dabei ausführlich über seine Sicht zur aktuellen Lage der internationalen Politik äußert und sich anschließend stundenlang den Fragen der Experten im Saal stellt. Auch dieses Jahr hat die Diskussion wieder über vier Stunden gedauert.
Hier übersetze ich die Eröffnungsrede von Präsident Putin, in der er mit den „Werten“ des Westens abgerechnet und aufgezeigt hat, wohin sie führen. Für Putin, das ist offensichtlich, ist die Dominanz des Westens bereits Geschichte; in Putins Augen kämpft der Westen um sein Überleben. In den nächsten Tagen werde ich aus der Podiumsdiskussion, die auf Putins Rede folgte, ausgewählte Fragen und Putins Antworten darauf übersetzen und veröffentlichen.
Heute beginnen wir mit seiner Rede [1], in der er zur weltweiten Zusammenarbeit und zu gegenseitigem Respekt aufruft und der Welt eine Alternative zur westlich geprägten Weltordnung anbietet. Besonders beeindruckt hat mich an Putins Rede, wie er sich an die Menschen im Westen wendet und ihnen die Hand in dem Wissen ausstreckt, dass auch dort viele Menschen nicht mit dem einverstanden sind, was ihre Regierungen tun.
Beginn der Übersetzung:
Sehr geehrte Teilnehmer der Plenarsitzung! Meine Damen und Herren! Freunde!
Ich habe einen kleinen Einblick in die Diskussionen bekommen, die hier in den vergangenen Tagen stattgefunden haben, sie waren sehr interessant und informativ. Ich hoffe, dass Sie es nicht bereut haben, nach Russland gekommen zu sein, und miteinander reden. Es ist schön, Sie alle zu sehen.
Beim Valdai-Club haben wir mehr als einmal über die Veränderungen gesprochen – die gravierenden, großen Veränderungen – die in der Welt stattgefunden haben und weiterhin stattfinden, über die Risiken, die mit dem Abbau der globalen Institutionen, der Aushöhlung der Grundsätze der kollektiven Sicherheit, der Ersetzung des Völkerrechts durch sogenannte Regeln verbunden sind – ich wollte sagen, Regeln, die von irgendwem ausgearbeitet wurden, aber das ist wahrscheinlich ungenau ausdrückt. Es ist überhaupt nicht klar, wer sie ausgearbeitet hat, worauf diese Regeln beruhen, was in ihnen steckt. (Anm. d. Übers.: Damit meint Putin die vom Westen ausgerufene „regelbasierte Weltordnung“ – hier finden Sie mehr Informationen darüber, was hinter dem Begriff steckt [2].)
Offensichtlich wird nur versucht, eine einzige Regel aufzustellen, damit die Mächtigen – wir sprechen jetzt von Macht, ich spreche von globaler Macht – ohne jegliche Regeln leben und tun können, was sie wollen, mit allem durchkommen, was sie wollen. Tatsächlich sind das die Regeln, von denen man uns ständig erzählt.
Der Wert der Valdai-Diskussionen besteht darin, dass hier die verschiedensten Einschätzungen und Prognosen abgegeben werden. Wie richtig sie waren, zeigt das Leben selbst. Das Leben, der strengste und objektivste Prüfer. Er zeigt, wie wahr die Inhalte unserer Diskussionen in den vergangenen Jahren waren.
Leider entwickeln sich die Ereignisse weiterhin nach dem negativen Szenario, über das wir bei unseren früheren Treffen mehr als einmal gesprochen haben. Darüber hinaus haben sich diese Ereignisse zu einer umfassenden Systemkrise entwickelt, nicht nur im militär-politischen Bereich, sondern auch im wirtschaftlichen und humanitären Bereich.
Der sogenannte Westen – das ist natürlich im übertragenen Sinn gemeint, denn es gibt dort keine Einigkeit – ist verständlicherweise ein sehr kompliziertes Konglomerat. Dennoch kann man sagen, dass dieser Westen in den letzten Jahren, und insbesondere in den letzten Monaten, eine Reihe von Schritten zur Eskalation unternommen hat. Genau genommen setzt er immer auf Eskalation, das ist nicht neu. Diese sind: die Anzettelung des Krieges in der Ukraine, die Provokationen rund um Taiwan und die Destabilisierung der globalen Lebensmittel- und Energiemärkte. Letzteres geschah natürlich nicht absichtlich, daran besteht kein Zweifel, sondern aufgrund einer Reihe von systematischen Fehlern genau jener westlichen Regierungen, die ich bereits erwähnt habe. Und, wie wir jetzt sehen, kam auch noch die Zerstörung der paneuropäischen Gaspipelines dazu. Das ist unvorstellbar, aber wir sind trotzdem Zeugen dieser traurigen Ereignisse.
Die Macht über die Welt ist genau das, worauf der sogenannte Westen gesetzt hat. Aber dieses Spiel ist mit Sicherheit ein gefährliches, blutiges und, ich würde sagen, schmutziges Spiel.
Es leugnet die Souveränität von Ländern und Völkern, ihre Identität und Einzigartigkeit und ignoriert die Interessen anderer Staaten. Zumindest dann, wenn es diese Interessen nicht ausdrücklich abstreitet, wird es in der Praxis aber genau so gehandhabt. Niemand, außer denen, die die genannten Regeln formulieren, hat das Recht, seine eigene Identität zu entwickeln: Alle anderen müssen sich diesen Regeln unterordnen.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Vorschläge Russlands an die westlichen Partner zur Vertrauensbildung und zum Aufbau eines Systems kollektiver Sicherheit erinnern. Im vergangenen Dezember wurden sie wieder einmal einfach beiseitegeschoben. (Anm. d. Übers.: Die Details zu dem Vorschlag von Russland an den Westen für gegenseitige Sicherheitsgarantien können Sie hier finden [3].)
Aber in der heutigen Welt ist es kaum möglich, etwas auszusitzen. Wer Wind sät, wird, wie man sagt, Sturm ernten. Die Krise ist tatsächlich global geworden, sie betrifft jeden. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen.
Die Menschheit hat jetzt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: entweder die Probleme weiter anzuhäufen, die uns alle unweigerlich erdrücken werden, oder zu versuchen, gemeinsam Lösungen zu finden, wenn auch unvollkommene, aber wirksame Lösungen, die unsere Welt stabiler und sicherer machen können.
Wissen Sie, ich habe immer an die Kraft des gesunden Menschenverstands geglaubt und tue das auch heute noch. Ich bin daher überzeugt, dass sowohl die neuen Zentren der multipolaren Weltordnung als auch der Westen früher oder später anfangen müssen, auf Augenhöhe über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen, und zwar je früher, desto besser. Und in diesem Zusammenhang möchte ich auf einige für uns alle sehr wichtige Punkte hinweisen.
Die heutigen Ereignisse haben die Umweltthemen zur Seite geschoben. Es mag merkwürdig sein, aber ich möchte damit beginnen. Der Klimawandel steht nicht mehr ganz oben auf der Tagesordnung. Aber diese grundlegenden Herausforderungen sind nicht verschwunden, sie haben sich nicht verflüchtigt, sie wachsen.
Eine der gefährlichsten Folgen des ökologischen Ungleichgewichts ist der Rückgang der Artenvielfalt. Und nun komme ich zu dem Hauptthema, wegen dem wir alle zusammengekommen sind: Ist die andere Vielfalt – die kulturelle, soziale, politische, zivilisatorische – weniger wichtig?
Die Vereinfachung, die Auslöschung aller Unterschiede ist praktisch zum Wesen des modernen Westens geworden. Was steckt hinter dieser Vereinfachung? Vor allem das Verschwinden des kreativen Potenzials des Westens selbst und der Wunsch, die freie Entwicklung anderer Zivilisationen einzuschränken, zu blockieren.
Natürlich gibt es hier auch ein direktes wirtschaftliches Interesse: Mit der Durchsetzung ihrer Werte, ihrer Konsumklischees, ihrer Vereinheitlichung versuchen unsere Gegner – ich nenne sie mal vorsichtig so – die Märkte für ihre Produkte zu erweitern. Am Ende ist das alles sehr primitiv. Es ist kein Zufall, dass der Westen den Anspruch erhebt, dass seine Kultur und Weltanschauung universell sein müssen. Auch wenn sie es nicht direkt sagen – obwohl sie es auch oft sagen -, aber auch wenn sie es nicht direkt sagen, verhalten sie sich doch so. Und sie bestehen darauf, dass eben diese Werte von allen anderen Teilnehmern des internationalen Lebens bedingungslos akzeptiert werden müssen.
Hier ein Zitat aus der berühmten Harvard-Rede von Alexander Solschenizyn. Bereits 1978 stellte er fest, dass der Westen von einer „anhaltenden Blindheit der Überlegenheit“ geprägt sei – das alles passiert heute immer noch –, die „die Vorstellung unterstützt, dass alle Gebiete unseres Planeten sich gemäß den derzeitigen westlichen Systemen entwickeln und von ihnen beherrscht werden sollten“. Das war 1978. Es hat sich nichts geändert.
Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts hat diese Verblendung, von der Solschenizyn sprach – sie ist offen rassistisch und neokolonial –, einfach nur hässliche Formen angenommen, insbesondere seit der Entstehung der sogenannten unipolaren Welt. Was möchte ich dazu sagen? Das Vertrauen auf die eigene Unfehlbarkeit ist ein sehr gefährlicher Zustand: Er ist nur einen Schritt entfernt von dem Wunsch der „Unfehlbaren“, diejenigen, die ihnen nicht gefallen, einfach zu vernichten. Wie man so schön sagt, sie zu „canceln“, sie abzuschaffen. Lassen Sie uns zumindest über die Bedeutung des Wortes nachdenken.
Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, auf dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen Systemen, Ideologien und militärischen Rivalitäten, kam es niemandem in den Sinn, die Existenz von Kultur, Kunst und Wissenschaft des Gegners zu leugnen. Auf die Idee wäre niemand gekommen! Ja, es gab gewisse Einschränkungen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Kultur und leider auch im Sport. Dennoch waren sich damals sowohl die sowjetische als auch die amerikanische Führung darüber im Klaren, dass der humanitäre Bereich mit Fingerspitzengefühl angegangen werden sollte, indem man den Gegner studiert und respektiert und sich von ihm etwas abschaut, um zumindest für die Zukunft eine Grundlage für solide, fruchtbare Beziehungen zu erhalten.
Und was geschieht jetzt? Die Nazis gingen seinerzeit so weit, dass sie Bücher verbrannten, und nun sind die westlichen „Förderer des Liberalismus und des Fortschritts“ so weit gegangen, dass sie Dostojewski und Tschaikowski verbieten. Die
sogenannte „Cancel Culture“ – die Kultur der Abschaffung – ist aber in Wirklichkeit – wir haben schon oft darüber gesprochen – die tatsächliche Abschaffung der Kultur alles Lebendigen und Schöpferischen und lässt das freie Denken in keinem Bereich zur Entfaltung kommen: nicht in der Wirtschaft, nicht in der Politik, nicht in der Kultur.
Die liberale Ideologie selbst hat sich heute bis zur Unkenntlichkeit verändert. Verstand der klassische Liberalismus die Freiheit eines jeden Menschen ursprünglich als die Freiheit, zu sagen und zu tun, was man will, so begannen Liberale bereits im 20. Jahrhundert zu sagen, dass die sogenannte offene Gesellschaft Feinde hat – die offene Gesellschaft hat also Feinde – und dass die Freiheit dieser Feinde eingeschränkt oder sogar abgeschafft werden kann und muss.
Inzwischen ist es sogar so absurd, dass jede alternative Sichtweise als subversive Propaganda und Bedrohung der Demokratie bezeichnet wird.
Alles, was aus Russland kommt, sind „Kreml-Machenschaften“. Aber schaut Euch selbst an! Sind wir wirklich so allmächtig? Jede Kritik an unseren Gegnern – jede! – wird als „Kreml-Machenschaften“, als „Hand des Kreml“ wahrgenommen. So ein Unsinn. Wie weit sind sie gegangen? Benutzt einfach Euren Verstand, denkt Euch etwas Interessanteres aus, präsentiert Euren Standpunkt auf eine konzeptionellere Weise. Man kann nicht alles auf die Intrigen des Kreml schieben.
All das hat Fjodor Dostojewski bereits im 19. Jahrhundert prophetisch vorausgesagt. Eine der Figuren in seinem Roman „Die Besessenen“, der Nihilist Schigaljow, beschrieb die strahlende Zukunft, die er sich vorstellte, folgendermaßen: „Die grenzenlose Freiheit verlassend eröffne ich den grenzenlosen Despotismus“ – dahin sind unsere westlichen Gegner übrigens gekommen. Eine andere Figur des Romans, Peter Verhovenski, schließt sich ihm an und erklärt, dass Verrat, Spitzeltum und Spionage überall gebraucht werden, dass die Gesellschaft keine Talente und höheren Fähigkeiten braucht: „Cicero wird die Zunge herausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen, Shakespeare wird gesteinigt.“ Das ist es, wohin unsere westlichen Gegner gehen. Was ist das anderes als die moderne westliche Cancel Culture?
Das waren große Denker und ich bin meinen Mitarbeitern, die diese Zitate gefunden haben, ehrlich gesagt dankbar.
Was kann man dazu sagen? Die Geschichte wird sicherlich alles an seinen Platz stellen und die größten Werke der allgemein anerkannten Genies der Weltkultur nicht canceln, sondern diejenigen, die beschlossen haben, dass sie das Recht haben, nach ihrem Gutdünken über diese Weltkultur zu verfügen. Die Eitelkeit dieser Leute sprengt, wie man sagt, den Rahmen, aber in ein paar Jahren wird sich niemand mehr an ihre Namen erinnern. Aber Dostojewski wird weiterleben, ebenso wie Tschaikowski und Puschkin – so sehr sich manche auch etwas anderes wünschen mögen.
Das westliche Modell der Globalisierung, das in seinem Kern neokolonial ist, wurde ebenfalls auf Vereinheitlichung, auf finanziellem und technologischem Monopolismus und auf der Auslöschung aller Unterschiede aufgebaut. Die Aufgabe war klar: Die bedingungslose Vorherrschaft des Westens in der Weltwirtschaft und -politik zu stärken und zu diesem Zweck die natürlichen und finanziellen Ressourcen, die intellektuellen, menschlichen und wirtschaftlichen Kapazitäten des gesamten Planeten in seinen Dienst zu stellen, und zwar unter dem Deckmantel der sogenannten neuen globalen gegenseitigen Abhängigkeit.
Hier möchte ich an einen weiteren russischen Philosophen erinnern, an Alexander Sinowjew, dessen hundertsten Geburtstag wir am 29. Oktober feiern werden. Vor mehr als 20 Jahren sagte er, dass für das Überleben der westlichen Zivilisation auf dem von ihr erreichten Niveau „der gesamte Planet als Lebensraum notwendig ist, alle Ressourcen der Menschheit sind dafür notwendig“. Das fordern sie ja auch, genau so ist es.
Dabei hat der Westen sich in diesem System von Beginn an einen gewaltigen Vorsprung geschaffen, da er die Prinzipien und Mechanismen entwickelt hat – so wie jetzt jene Prinzipien, über die ständig gesprochen wird, und die ein unverständliches „schwarzes Loch“ sind: was das ist, weiß niemand. Aber sobald nicht die westlichen Länder, sondern andere Staaten von der Globalisierung zu profitieren begannen, und wir sprechen hier natürlich in erster Linie von den großen asiatischen Staaten, hat der Westen viele Regeln sofort geändert oder ganz aufgehoben. Und die sogenannten heiligen Grundsätze des Freihandels, der wirtschaftlichen Offenheit, des fairen Wettbewerbs und sogar des Rechts auf Eigentum waren plötzlich völlig vergessen. Sobald etwas für sie profitabel wurde, haben sie während des Spiels sofort und spontan die Regeln geändert.
Oder ein weiteres Beispiel für die Änderung von Begriffen und Bedeutungen. Westliche Ideologen und Politiker erzählen der ganzen Welt seit vielen Jahren: Es gibt keine Alternative zur Demokratie. Allerdings ist die Rede vom westlichen, sogenannten liberalen Modell der Demokratie. Sie lehnen alle anderen Varianten und Formen der Demokratie mit Verachtung und – das möchte ich unterstreichen – Arroganz ab. Dieses Verhalten hat sich schon vor langer Zeit, noch in der Kolonialzeit, herausgebildet: Alle werden als Menschen zweiter Klasse angesehen, während andere exklusiv sind. Das geht schon seit Jahrhunderten so, bis heute.
Aber heute verlangt die absolute Mehrheit der Weltgemeinschaft genau das: Demokratie in internationalen Angelegenheiten und sie akzeptiert keinerlei Formen autoritärer Diktate einzelner Länder oder Gruppen von Staaten. Was ist das, wenn nicht die direkte Anwendung der Prinzipien der Macht des Volkes auf der Ebene der internationalen Beziehungen?
Und was ist die Position des „zivilisierten“ – in Anführungszeichen – Westens? Wenn Ihr Demokraten seid, dann müsstet Ihr dieses natürliche Streben von Milliarden von Menschen nach Freiheit begrüßen – aber nein! Der Westen nennt das die Untergrabung der liberalen, regelbasierten Ordnung und startet Wirtschafts- und Handelskriege, Sanktionen, Boykotte, Farbrevolutionen und führt alle Arten von Putschen durch.
Einer davon führte zu den tragischen Folgen in der Ukraine im Jahr 2014 – sie haben den Putsch unterstützt und sogar erzählt, wie viel Geld sie dafür ausgegeben haben. Eigentlich sind sie einfach wahnsinnig, ihnen ist nichts peinlich. Sie haben Suleimani, einen iranischen General, getötet. Man kann zu Suleimani stehen, wie man will, aber er ist ein offizieller Vertreter eines anderen Landes! Sie haben ihn auf dem Gebiet eines dritten Landes ermordet und gesagt: Ja, wir haben ihn ermordet. Was ist das überhaupt? Wo leben wir? (Anm. d. Übers.: Alle, die sich an den Vorfall nicht mehr erinnern, finden hier Details [4].)
Washington bezeichnet die gegenwärtige Weltordnung weiterhin gewohnheitsmäßig als amerikanisch-liberal, aber in Wirklichkeit vergrößert diese berüchtigte „Ordnung“ jeden Tag das Chaos und wird, wie ich hinzufügen möchte, sogar gegenüber den westlichen Ländern selbst, gegenüber ihren Versuchen, irgendeine Unabhängigkeit zu zeigen, immer intoleranter. Alles wird bis an die Wurzel unterdrückt und es werden Sanktionen gegen die eigenen Verbündeten verhängt – ohne jede Scham! Und die nehmen das alles mit gesenktem Kopf hin.
Beispielsweise wurden die Vorschläge der ungarischen Parlamentarier vom Juli, im EU-Vertrag ein Bekenntnis zu europäischen christlichen Werten und zur europäischen Kultur zu verankern, nicht einmal als Fronde, sondern als direkte feindliche Sabotage wahrgenommen. Was ist das? Wie soll man das verstehen? Ja, einigen mag es gefallen, anderen nicht.
In Russland haben wir im Laufe von tausend Jahren eine einzigartige Kultur der Wechselbeziehungen zwischen allen Weltreligionen entwickelt. Es gibt keinen Grund, irgendetwas zu canceln: weder christliche Werte noch islamische oder jüdische Werte. Die anderen Weltreligionen sind in unserem Land präsent. Man muss sich einfach gegenseitig mit Respekt behandeln. In einigen Regionen unseres Landes, das habe ich aus erster Hand erfahren, feiern die Menschen christliche, islamische, buddhistische und jüdische Feiertage gemeinsam und tun das gerne, beglückwünschen einander und freuen sich zusammen.
Aber nicht in Europa. Warum nicht? Zumindest hätten sie darüber sprechen können. Es ist erstaunlich!
All das ist ohne Übertreibung nicht einmal eine systemische, sondern eine doktrinäre Krise des neoliberalen amerikanischen Modells der Weltordnung. Sie haben keine Ideen, etwas zu erschaffen, und von positiver Entwicklung, sie haben der Welt einfach nichts zu bieten außer dem Erhalt ihrer Vorherrschaft.
Ich bin davon überzeugt, dass echte Demokratie in einer multipolaren Welt zuallererst die Möglichkeit eines jeden Volkes – ich möchte das betonen, jeder Gesellschaft, jeder Zivilisation – voraussetzt, seinen eigenen Weg, sein eigenes soziales und politisches System zu wählen. Wenn die USA und die EU dieses Recht haben, dann haben es sicherlich auch die asiatischen Länder, die islamischen Staaten, die Monarchien des Persischen Golfs und die Staaten anderer Kontinente. Natürlich hat auch unser Land, Russland, dieses Recht, und niemand wird jemals in der Lage sein, unserem Volk vorzuschreiben, welche Art von Gesellschaft wir aufzubauen haben und auf welchen Prinzipien sie beruhen soll.
Die direkte Bedrohung des politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Monopols des Westens besteht darin, dass in der Welt alternative Gesellschaftsmodelle entstehen könnten – effektivere, das möchte ich betonen, – in der heutigen Zeit effektivere, hellere, attraktivere als die, die wir haben. Und diese Modelle werden sich entwickeln, das ist unvermeidlich. Übrigens schreiben amerikanische Politikwissenschaftler und Experten darüber auch direkt. Die Regierungen hören zwar noch nicht wirklich auf sie, aber sie können diese Ideen in den politikwissenschaftlichen Zeitschriften und in Diskussionen nicht übersehen.
Entwicklung muss im Dialog der Zivilisationen stattfinden, der auf geistigen und moralischen Werten beruht. Ja, verschiedene Zivilisationen haben unterschiedliche Verständnisse des Menschen, seines Wesens. Es sind oft nur oberflächliche Unterschiede, aber alle erkennen die höchste Würde und das geistige Wesen des Menschen an. Und dieses gemeinsame Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen können und müssen, ist von größter Bedeutung.
Was möchte ich hier hervorheben? Traditionelle Werte sind nicht irgendwelche festen Postulate, an die sich alle halten müssen. Nein, natürlich nicht. Sie unterscheiden sich von den sogenannten neoliberalen Werten dadurch, dass jedes von ihnen einzigartig ist, weil sie aus der Tradition einer bestimmten Gesellschaft, ihrer Kultur und historischen Erfahrung stammen. Traditionelle Werte können daher niemandem aufgezwungen werden – sie müssen einfach respektiert werden, indem das, was jede Nation im Laufe der Jahrhunderte gewählt hat, respektiert wird.
Das ist unser Verständnis von traditionellen Werten und dieser Ansatz wird von der Mehrheit der Menschheit geteilt und akzeptiert. Das ist logisch, denn die traditionellen Gesellschaften des Ostens, Lateinamerikas, Afrikas und Eurasiens bilden die Grundlage der Weltzivilisation.
Der Respekt vor den Besonderheiten der Völker und Zivilisationen liegt im Interesse aller. Das liegt auch im Interesse des sogenannten Westens. Indem er seine Vormachtstellung verliert, wird er schnell zu einer Minderheit auf der Weltbühne. Und natürlich sollte das Recht dieser westlichen Minderheit auf ihre eigene kulturelle Identität, das möchte ich unterstreichen, gewährleistet sein, es sollte sicherlich respektiert werden, aber, das unterstreiche ich, gleichberechtigt mit den Rechten aller anderen.
Wenn die westlichen Eliten glauben, dass sie in der Lage sein werden, in den Köpfen ihrer Menschen, ihrer Gesellschaften, neue, meiner Meinung nach seltsame Trends wie Dutzende von Geschlechtern und Schwulenparaden einzuführen, dann soll es so sein. Sollen sie tun, was sie wollen! Aber sie haben sicher nicht das Recht, von anderen zu verlangen, dass sie den gleichen Weg gehen.
Wir sehen, dass die westlichen Länder komplizierte demographische, politische und soziale Prozesse haben. Das ist natürlich ihre innere Angelegenheit. Russland mischt sich nicht in diese Angelegenheiten ein und hat auch nicht die Absicht, das zu tun – im Gegensatz zum Westen mischen wir uns nicht in fremde Hinterhöfe ein. Wir gehen jedoch davon aus, dass der Pragmatismus die Oberhand gewinnen wird und der Dialog zwischen Russland und dem echten, traditionellen Westen sowie mit anderen Zentren gleicher Entwicklung einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer multipolaren Weltordnung leisten wird.
Ich möchte hinzufügen, dass die Multipolarität die wirkliche und tatsächlich einzige Chance für Europa ist, seine politische und wirtschaftliche Subjektivität wiederherzustellen. Sicher, wir alle verstehen, und in Europa wird direkt darüber gesprochen: Europas rechtliche Subjektivität ist heute – wie soll ich es vorsichtig ausdrücken, um niemanden zu beleidigen – sehr begrenzt.
Die Welt ist von Natur aus vielfältig und die Versuche des Westens, alle in ein einziges Schema zu pressen, sind objektiv zum Scheitern verurteilt, und es wird nichts dabei herauskommen.
Das arrogante Streben nach der Weltherrschaft, nach dem Diktat oder nach dem Erhalt der Führungsrolle durch Diktat, führt zum Niedergang der internationalen Autorität der Führer der westlichen Welt, einschließlich der USA, und zum wachsenden Misstrauen in ihre Fähigkeit zu verhandeln insgesamt. An einem Tag sagen sie das eine und am nächsten Tag etwas anderes; sie unterschreiben Dokumente und am nächsten Tag weigern sie sich, sie einzuhalten; sie tun, was sie wollen. Es gibt überhaupt keine Stabilität in irgendetwas. Wie die Dokumente unterzeichnet werden, worüber gesprochen wurde, worauf man hoffen kann, ist vollkommen unklar.
Während sich früher nur einige wenige Länder erlaubt haben, mit Amerika zu streiten, und das fast wie eine Sensation aussah, ist es heute für viele Staaten üblich, die unbegründeten Forderungen Washingtons abzulehnen, auch wenn es immer noch versucht, alle herumzuschubsen. Das ist eine völlig verfehlte Politik, die einfach ins Nichts führt. Sollen sie doch, das ist auch ihre Entscheidung.
Ich bin überzeugt, dass die Völker der Welt nicht die Augen vor der Politik der Nötigung verschließen werden, die sich selbst diskreditiert hat, und der Westen wird jedes Mal, wenn er versucht, seine Hegemonie aufrechtzuerhalten, einen immer höheren Preis zahlen müssen. Wäre ich an der Stelle dieser westlichen Eliten, würde ich über diese Perspektive ernsthaft nachdenken, so wie einige Politologen und Politiker in den USA selbst es tun, wie ich bereits sagte.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen gewalttätiger Konflikte werde ich einige Dinge direkt sagen. Russland als unabhängige, eigenständige Zivilisation hat sich nie als Feind des Westens gesehen und sieht sich auch nicht als solcher. Amerikafeindlichkeit, Anglophobie, Frankophobie, Deutschfeindlichkeit sind ebenso Formen des Rassismus wie Russophobie und Antisemitismus, wie auch alle Formen der Fremdenfeindlichkeit.
Man muss klar verstehen, dass es, wie ich bereits sagte, zwei Westens gibt. Mindestens zwei, vielleicht auch mehr, aber mindestens zwei: den Westen der traditionellen, vor allem christlichen Werte, der Freiheit, des Patriotismus, der reichhaltigen Kultur und jetzt auch der islamischen Werte, denn ein bedeutender Teil der Bevölkerung vieler westlicher Länder bekennt sich zum Islam. Dieser Westen ist uns in gewisser Weise nahe, in vielerlei Hinsicht haben wir gemeinsame, ja sogar antike Wurzeln. Aber es gibt auch den anderen Westen: aggressiv, kosmopolitisch, neokolonial, ein Werkzeug der neoliberalen Eliten. Das Diktat genau dieses Westens wird Russland sicher nicht akzeptieren.
Ich werde mich immer daran erinnern, was ich im Jahr 2000, nachdem ich zum Präsidenten gewählt worden war, erleben musste. Erinnern Sie sich an den Preis, den wir für die Zerstörung des Terrornestes im Nordkaukasus gezahlt haben, das der Westen damals praktisch offen unterstützt hat? Alle Erwachsenen hier, die meisten von Ihnen in diesem Saal, verstehen, wovon ich spreche. Wir wissen, dass genau dies in der Praxis geschah: finanzielle, politische und mediale Unterstützung. Wir alle haben das erlebt.
Darüber hinaus hat der Westen Terroristen auf russischem Territorium nicht nur aktiv unterstützt, sondern dieser Bedrohung in vielerlei Hinsicht Vorschub geleistet. Wir wissen das. Aber nachdem sich die Lage stabilisiert hatte und die wichtigsten Terrorbanden besiegt waren, auch dank des Mutes des tschetschenischen Volkes, haben wir beschlossen, uns nicht abzuwenden, nicht den Beleidigten zu spielen, sondern vorwärtszugehen, Beziehungen auch zu denen aufzubauen, die eigentlich gegen uns arbeiteten, Beziehungen auf der Grundlage von gegenseitigem Nutzen und gegenseitigem Respekt zu allen aufzubauen und zu entwickeln, die das wollten.
Man dachte, dass das im gemeinsamen Interesse liegt. Russland hat Gott sei Dank alle Schwierigkeiten dieser Zeit überstanden, hat durchgehalten, ist gestärkt, ist mit dem inneren und äußeren Terrorismus klargekommen, hat seine Wirtschaft bewahrt, hat begonnen, sich zu entwickeln und seine Verteidigungsfähigkeit verbessert. Wir haben versucht, Beziehungen zu den führenden Ländern des Westens und zur NATO aufzubauen. Die Botschaft war dieselbe:
Lasst uns aufhören Feinde zu sein, lasst uns als Freunde zusammenleben, lasst uns den Dialog aufnehmen, lasst uns Vertrauen aufbauen und damit Frieden schaffen.
Wir waren absolut aufrichtig, das möchte ich betonen. Wir waren uns über die Komplexität dieser Annäherung im Klaren, aber wir sind den Weg gegangen.
Und was haben wir als Antwort erhalten? Kurz gesagt, wir haben in allen wichtigen Bereichen der möglichen Zusammenarbeit ein „Nein“ erhalten. Wir haben ständig wachsenden Druck auf uns und die Schaffung von Spannungsherden in der Nähe unserer Grenzen erhalten. Und was, wenn ich fragen darf, ist das Ziel dieses Drucks? Was ist es? Üben sie etwa einfach nur ein bisschen? Nein, natürlich nicht. Das Ziel ist es, Russland verwundbarer zu machen. Das Ziel ist es, Russland zu einem Werkzeug zur Erreichung ihrer eigenen geopolitischen Ziele zu machen.
Das ist in der Tat die universelle Regel: Sie versuchen, jeden in ein Werkzeug zu verwandeln, um dieses Werkzeug für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Und diejenigen, die diesem Druck nicht nachgeben, die kein solches Werkzeug sein wollen, gegen die werden Sanktionen verhängt, gegen die werden alle möglichen wirtschaftlichen Restriktionen verhängt, gegen die werden Putsche vorbereitet oder wenn möglich durchgeführt und so weiter. Und wenn am Ende nichts gelingt, gibt es ein Ziel – sie zu vernichten, sie von der politischen Landkarte zu tilgen. Aber so ein Szenario hat in Bezug auf Russland nie funktioniert und wird in Bezug auf Russland auch nie funktionieren.
Was würde ich noch gerne hinzufügen? Russland fordert die Eliten des Westens nicht heraus – Russland verteidigt lediglich sein Recht auf Existenz und freie Entwicklung. Dabei haben wir selbst nicht vor, zu einem neuen Hegemon zu werden. Russland schlägt nicht vor, die Unipolarität durch Bipolarität, Tripolarität etc. auszutauschen, die westliche Vorherrschaft durch die Vorherrschaft des Ostens, des Nordens oder des Südens zu ersetzen. Das würde unweigerlich in eine neue Sackgasse führen.
Hier möchte ich die Worte des großen russischen Philosophen Nikolai Danilewski zitieren, der der Meinung war, dass der Fortschritt nicht darin besteht, nur in eine Richtung zu gehen, in die einige unserer Gegner uns drängen – dann würde der Fortschritt bald aufhören, so Danilewski –, sondern darin, „das gesamte Feld, das den Bereich der geschichtlichen Tätigkeit der Menschheit ausmacht, in allen Richtungen anzugehen“. Und er fügt hinzu, dass sich keine Zivilisation rühmen kann, den höchsten Entwicklungsstand zu repräsentieren.
Ich bin davon überzeugt, dass der Diktatur nur die freie Entwicklung von Ländern und Völkern entgegenstehen kann, dass der Degradation des Individuums die Liebe zum Menschen als Schöpfer entgegenstehen kann, dass primitiver Vereinfachung und Verboten die blühende Komplexität von Kulturen und Traditionen entgegenstehen kann.
Die Bedeutung des heutigen historischen Moments besteht gerade darin, dass sich vor allen Zivilisationen, Staaten und Staatenverbänden die Möglichkeit einer eigenen, demokratischen, originellen Entwicklungsweise eröffnet. Und vor allem glauben wir, dass die neue Weltordnung auf Recht und Gesetz beruhen muss, dass sie frei, unverwechselbar und gerecht sein muss.
Daher müssen die Weltwirtschaft und der Handel gerechter und offener werden. Russland ist der Ansicht, dass der Prozess der Schaffung neuer internationaler Finanzplattformen, einschließlich solcher für den internationalen Zahlungsverkehr, unumgänglich ist. Solche Plattformen sollten außerhalb nationaler Zuständigkeiten liegen, sicher, entpolitisiert und automatisiert sein und nicht von einem einzigen Kontrollzentrum abhängen. Ist das möglich oder nicht? Natürlich. Es wird große Anstrengungen erfordern, viele Länder müssen ihre Kräfte bündeln, aber es ist machbar.
Das wird die Möglichkeit des Missbrauchs der neuen globalen Finanzinfrastruktur ausschließen und eine effiziente, profitable und sichere Abwicklung internationaler Transaktionen ohne den Dollar und andere so genannte Reservewährungen ermöglichen. Das umso mehr, als die USA und der Westen durch den Einsatz des Dollars als Waffe die Institution der internationalen Finanzreserven diskreditiert haben. Zuerst wurden sie durch die Inflation in der Dollar- und Eurozone abgewertet und dann haben sie unsere internationalen Reserven eingesackt.
Die Umstellung auf nationale Währungen wird – zwangsläufig – an Dynamik gewinnen. Das hängt natürlich von der Verfassung der Emittenten dieser Währungen und ihrer Volkswirtschaften ab, aber sie werden stärker werden und diese Zahlungen werden mit Sicherheit allmählich die Oberhand gewinnen. Das ist die Logik einer souveränen Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer multipolaren Welt.
Weiter. Die neuen Zentren der globalen Entwicklung verfügen bereits heute über einzigartige Technologien und wissenschaftliche Entwicklungen in einer Vielzahl von Bereichen und in vielen Bereichen können sie erfolgreich mit westlichen transnationalen Unternehmen konkurrieren.
Offensichtlich haben wir ein gemeinsames, ganz pragmatisches Interesse an einem fairen und offenen wissenschaftlichen und technologischen Austausch. Gemeinsam wird jeder mehr profitieren als allein. Die Vorteile sollten der Mehrheit zugutekommen, nicht einzelnen superreichen Konzernen.
Wie sieht es heute aus? Wenn der Westen Medikamente oder Saatgut für Nahrungspflanzen an andere Länder verkauft, werden die nationale Pharmaindustrie und Viehzucht vernichtet und im Grunde läuft in der Praxis alles darauf hinaus: Die Lieferung von Maschinen und Ausrüstungen zerstört die lokale Maschinenbauindustrie. Als ich Premierminister war, habe ich es verstanden: Sobald man den Markt für eine bestimmte Warengruppe öffnet, ist der lokale Produzent untergegangen und es ist fast unmöglich, dass er sein Haupt wieder erhebt. So werden Beziehungen aufgebaut. So werden Märkte und Ressourcen erobert, Länder werden ihres technologischen und wissenschaftlichen Potenzials beraubt. Das ist kein Fortschritt, sondern Versklavung, die Reduzierung der Volkswirtschaften auf ein primitives Niveau.
Die technologische Entwicklung sollte die globale Ungleichheit nicht verstärken, sondern verringern. Genau so setzt Russland traditionell seine technologische Außenpolitik um. Wenn wir zum Beispiel Kernkraftwerke in anderen Staaten bauen, schaffen wir dort gleichzeitig Kompetenzzentren, bilden nationales Personal aus. Wir schaffen eine Industrie, wir bauen nicht nur eine Anlage, wir schaffen eine ganze Industrie. Im Grunde geben wir anderen Ländern die Möglichkeit, einen echten Durchbruch in ihrer wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung zu erzielen, Ungleichheiten zu verringern und ihren Energiesektor auf ein neues Niveau von Effizienz und Umweltfreundlichkeit zu bringen.
Ich möchte noch einmal betonen, dass Souveränität und eigene Entwicklung keineswegs Isolation oder Autarkie bedeuten, sondern vielmehr eine aktive, für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit auf der Grundlage fairer und gerechter Prinzipien.
Während die liberale Globalisierung eine Entpersönlichung ist, die der ganzen Welt das westliche Modell aufzwingt, geht es bei der Integration im Gegenteil darum, das Potenzial jeder Zivilisation zum Nutzen des Ganzen, zum Wohle aller zu erschließen. Während der Globalismus ein Diktat ist, worauf er letztlich hinausläuft, ist Integration die gemeinsame Erarbeitung von Strategien, die allen zugutekommen.
In dieser Hinsicht hält Russland es für wichtig, die Mechanismen zur Schaffung großer Räume zu aktivieren, die auf der Zusammenarbeit von Nachbarländern beruhen, deren Wirtschaft, Sozialsystem, Rohstoffe und Infrastruktur sich gegenseitig ergänzen. Solche großen Räume sind im Grunde die Grundlage für eine multipolare Weltordnung – die wirtschaftliche Grundlage. Aus ihrem Dialog erwächst die wahre Einheit der Menschheit, die viel komplexer, ausgeprägter und mehrdimensionaler ist als in den vereinfachenden Ansichten einiger westlicher Ideologen.
Die Einheit der Menschheit beruht nicht auf dem Befehl „mach es wie ich“ oder „werde wie wir“ – sie wird unter Berücksichtigung und auf der Grundlage der Meinung aller und mit Respekt vor der Identität jeder Gesellschaft und Nation gebildet. Das ist das Prinzip, auf dem ein langfristiges Engagement in einer multipolaren Welt aufbauen kann.
In diesem Zusammenhang könnte es sich lohnen, darüber nachzudenken, dass die Struktur der Vereinten Nationen, einschließlich des Sicherheitsrates, die Vielfalt der Weltregionen besser widerspiegeln sollte. Schließlich wird in der Welt von morgen viel mehr von Asien, Afrika und Lateinamerika abhängen, als man heute gemeinhin annimmt, und diese Zunahme ihres Einflusses ist auf jeden Fall positiv.
Ich erinnere daran, dass die westliche Zivilisation nicht die einzige ist, auch nicht in unserem gemeinsamen eurasischen Raum. Außerdem konzentriert sich die Mehrheit der Bevölkerung gerade im Osten Eurasiens, wo die ältesten Zivilisationen der Menschheit entstanden sind.
Der Wert und die Bedeutung Eurasiens liegen darin, dass dieser Kontinent ein autarker Komplex ist, der über gigantische Ressourcen jeder Art und ein enormes Potenzial verfügt. Und je härter wir daran arbeiten, die Verbindungen in Eurasien zu erhöhen, neue Wege und Formen der Zusammenarbeit zu schaffen, desto beeindruckendere Fortschritte machen wir.
Die erfolgreichen Aktivitäten der Eurasischen Wirtschaftsunion, das rasche Anwachsen der Autorität und des Einflusses der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die groß angelegten Initiativen im Rahmen von „One Belt, One Road“, die Pläne für eine multilaterale Zusammenarbeit zur Verwirklichung des Nord-Süd-Verkehrskorridors und andere, viele andere Projekte in diesem Teil der Welt sind, da bin ich mir sicher, der Beginn einer neuen Ära, einer neuen Phase in der Entwicklung Eurasiens. Integrationsprojekte stehen hier nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich, wenn sie von den Nachbarländern in ihrem eigenen Interesse durchgeführt und nicht von äußeren Kräften gewaltsam eingeführt werden, um den eurasischen Raum zu spalten und ihn in eine Zone der Blockkonfrontation zu verwandeln.
Sein westliches Ende, Europa, könnte auch ein natürlicher Teil des großen Eurasiens sein. Doch viele der führenden Vertreter sind von der Überzeugung beseelt, dass die Europäer besser sind als andere und dass es unter ihrer Würde ist, sich gleichberechtigt mit anderen an Unternehmungen zu beteiligen. Hinter dieser Arroganz bemerken sie nicht einmal, dass sie an den Rand gedrängt wurden, dass sie Vasallen sind – oft sogar ohne ein Wahlrecht.
Verehrte Kollegen!
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat auch das Gleichgewicht der geopolitischen Kräfte zerstört. Der Westen fühlte sich als Sieger und proklamierte die unipolare Weltordnung, in der nur sein Wille, seine Kultur und seine Interessen eine Existenzberechtigung hatten.
Diese historische Periode der ungeteilten Vorherrschaft des Westens im Weltgeschehen geht nun zu Ende, die unipolare Welt gehört der Vergangenheit an. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, vor dem wahrscheinlich gefährlichsten, unvorhersehbarsten und doch wichtigsten Jahrzehnt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Westen ist nicht in der Lage, die Menschheit allein zu regieren, aber er versucht es verzweifelt, und die meisten Nationen der Welt sind nicht mehr bereit, das zu dulden. Das ist der größte Gegensatz der neuen Ära. Die Situation ist in gewisser Weise revolutionär: Die Oberschicht kann nicht und die Unterschicht will nicht mehr so leben, heißt es in einem Klassiker.
Dieser Zustand birgt globale Konflikte oder eine Kette von Konflikten, die eine Bedrohung für die Menschheit, einschließlich des Westens selbst, darstellen. Diesen Widerspruch konstruktiv aufzulösen, ist heute die wichtigste geschichtliche Aufgabe.
Alles zu verändern ist ein schmerzhafter, aber natürlicher und unvermeidlicher Prozess. Die künftige Weltordnung nimmt vor unseren Augen Gestalt an. Und in dieser Weltordnung müssen wir jedem zuhören, jeden Standpunkt berücksichtigen, jede Nation, Gesellschaft, Kultur, jedes System von Weltanschauungen, Ideen und religiösen Überzeugungen, ohne jemandem eine einheitliche Wahrheit aufzuzwingen. Nur auf dieser Grundlage können wir im Verständnis für unsere Verantwortung für das Schicksal – das Schicksal der Nationen, des Planeten – eine Symphonie der menschlichen Zivilisation bauen.
Damit möchte ich schließen und Ihnen für Ihre Geduld beim Anhören meiner Botschaft danken.
Ich danke Ihnen vielmals.