Gewagtes Spiel auf dem westasiatischen Schachbrett

Im Wettbewerb der Großmächte ist alles miteinander verbunden: Die unsicheren Verhandlungen zwischen Russland und der NATO über die Ukraine könnten durch ein Umschwenken der Türkei nach den Wahlen und die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga beeinträchtigt werden.

Von Published On: 3. Juni 2023Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 09.05.2023 auf www.thecradle.co unter der URL <https://thecradle.co/article-view/24623> veröffentlicht. Lizenz: Pepe Escobar, The Cradle, CC BY-NC-ND 4.0

Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Sotschi. Die Gespräche sind den Problemen der syrischen Siedlung gewidmet, 22.11.2017. (Foto: Pressedienst des Präsidenten Russlands, Wikimedia Commons, CC-BY-4.0)

Westasien ist eine Region, in der sich gegenwärtig viele geopolitische Aktivitäten abspielen. Die jüngsten diplomatischen Bemühungen, die von Russland initiiert und von China unterstützt wurden, haben zu einer für lange Zeit schwer erreichbaren Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien geführt, während die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga [1] mit großem Tamtam begrüßt wurde. Das diplomatische Treiben signalisiert eine Abkehr von der imperialen „Teile und herrsche“-Taktik, mit der seit Jahrzehnten nationale, stammesbezogene und sektiererische Gräben in dieser strategischen Region aufgerissen werden.

Der vom Imperium und seinen Terrororganisationen unterstützte Stellvertreterkrieg in Syrien – einschließlich der Besetzung ressourcenreicher Gebiete und des massenhaften Diebstahls syrischen Öls – wütet weiter, obwohl Damaskus die Oberhand gewonnen hat. Dieser Vorteil, der in den letzten Jahren durch eine Flut tödlicher Wirtschaftssanktionen des Westens geschwächt wurde, wächst nun exponentiell: Der syrische Staat wurde durch den jüngsten offiziellen Besuch des iranischen Präsidenten Ebrahim Rais [2] – der eine Ausweitung der bilateralen Beziehungen versprach – am Vorabend der Rückkehr Syriens in die Arabische Liga weiter gestärkt.

„Assad muss weg” – ein Mantra [3], das direkt aus der kollektiven westlichen Hybris stammt – hat sich letztendlich nicht erfüllt. Ungeachtet der imperialen Drohungen kamen die arabischen Staaten, die versucht hatten, den syrischen Präsidenten zu isolieren, zurück und lobten ihn erneut, angeführt von Moskau und Teheran.

In informierten Moskauer Kreisen wird ausgiebig über Syrien diskutiert. Übereinstimmung besteht mehr oder weniger darin, dass Russland, das sich jetzt auf den „Alles-oder-Nichts“-Stellvertreterkrieg konzentriert, nicht in der Lage sein wird, eine Friedenslösung für Syrien durchzusetzen. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Saudis, Iraner und Türken für ein Abkommen unter russischer Führung eintreten.

Ohne das aggressive Verhalten der Strauss’schen Neokonservativen (Leo Strauss ist der Vordenker der Neokonservativen, Anm. d. Red.) im Washingtoner Beltway hätte ein umfassender multiterritorialer Frieden erreicht werden können, der von der Souveränität Syriens über eine entmilitarisierte Zone im Westen des russischen Grenzgebiets bis hin zu Stabilität im Kaukasus alles umfasst, einschließlich einer gewissen Achtung des Völkerrechts.

Dass ein solches Abkommen zustande kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Stattdessen wird sich die Lage in Westasien wahrscheinlich weiter verschlechtern. Zum Teil ist das darauf zurückzuführen, dass der Nordatlantik (gemeint ist die NATO, Anm. d. Red.) seinen Schwerpunkt bereits auf das Südchinesische Meer verlagert hat.

Trotz der Dringlichkeit der Situation scheint Moskau nicht in Eile zu sein. Seine wichtigste militärische Strategie ist – wie man in Bakhmut/Artemjowsk sehen kann – eine Kombination aus Schneckentempo und Fleischwolf. Das ultimative Ziel ist die Entmilitarisierung der gesamten NATO – nicht nur der Ukraine – und bisher scheint das auch hervorragend zu funktionieren.

Russland setzt auf Langfristigkeit und rechnet damit, dass der kollektive Westen eines Tages einen „Heureka!”-Moment erleben wird und erkennen muss, dass es an der Zeit ist, das Rennen aufzugeben.

Angenommen, durch eine göttliche Fügung begännen in wenigen Monaten Verhandlungen unter Beteiligung Chinas. Moskau und Peking wissen beide, dass sie nichts von dem, was der Hegemon sagt oder unterschreibt, glauben können.

Darüber hinaus ist der entscheidende taktische Sieg der USA bereits unter Dach und Fach: Russland wird sanktioniert, dämonisiert und von Europa getrennt, und die EU wird als de-industrialisierter, unbedeutender, niederer Vasall zementiert.

Porträt Banderas am Rathaus Kiew während des Euromaidan am 14. Januar 2014 (Foto: spoilt.exile, Flickr, CC BY-SA 2.0)

Ein unmöglicher „Frieden“

Dem kollektiven Westen scheint es an einer entschlossenen Führungspersönlichkeit zu mangeln, während der Hegemon derzeit von einem senilen Präsidenten „geführt” wird, den ein Rudel lupenreiner Kriegstreiber fernsteuert. Die Situation hat sich so weit zugespitzt, dass die viel gepriesene „ukrainische Gegenoffensive” in Wirklichkeit der Auftakt zu einer NATO-Demütigung sein könnte, die Afghanistan wie ein Disneyland am Hindukusch aussehen lassen wird.

Möglicherweise gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen Russland und der NATO von heute und der Türkei und Russland vor dem März 2020: Beide Seiten setzen auf einen entscheidenden militärischen Durchbruch auf dem Schlachtfeld, bevor sie sich an den Verhandlungstisch setzen. Die USA sind verzweifelt: Selbst das „Orakel” des 20. Jahrhunderts, Henry Kissinger, sagt jetzt, dass es unter Einbeziehung Chinas noch vor Ende 2023 Verhandlungen geben wird [4].

Vorausgesetzt, es kommt zu einem Verhandlungsfrieden, wird das Land wohl eher einem Syrien 2.0 ähneln, mit einem massiven „Idlib”-Äquivalent direkt vor Russlands Haustür – was für Moskau gänzlich inakzeptabel wäre.

In der Praxis werden wir Bandera-Terrorgruppen – die slawische Version von ISIS – haben, die mit Autobomben und Kamikaze-Drohnen durch die Russische Föderation ziehen können. Der Hegemon wird in der Lage sein, den Stellvertreterkrieg nach Belieben ein- und auszuschalten, so wie er es auch in Syrien, Irak und Afghanistan mit seinen Terrorzellen tut.

Der Sicherheitsrat in Moskau weiß aufgrund der Minsker Farce, die sogar die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zugegeben hat, sehr genau, dass es sich um Minsk auf Steroiden handeln wird: Das Kiewer Regime bzw. das Post-Selenskyj-Regime wird weiterhin mit brandneuen NATO-Gimmicks zu Tode bewaffnet werden.

Aber die andere Option – bei der es nichts zu verhandeln gibt – ist ebenso bedrohlich: ein ewiger Krieg.

Unteilbarkeit der Sicherheit

Das eigentliche Abkommen, über das es zu verhandeln gilt, ist nicht der „Bauer in ihrem Spiel”, die Ukraine: Es ist die Unteilbarkeit der Sicherheit. Das ist genau das, wovon Moskau mit den Briefen vom Dezember 2021 Washington zu überzeugen versucht hat [5].

In der Praxis ist das, was Moskau derzeit tut, Realpolitik: Es schlägt die NATO auf dem Schlachtfeld, bis sie genug geschwächt ist, um eine strategische Militäroperation (SMO) zu akzeptieren. Die SMO würde notwendigerweise eine entmilitarisierte Zone zwischen der NATO und Russland, eine neutrale Ukraine sowie keine in Polen, dem Baltikum oder Finnland stationierten Atomwaffen beinhalten.

Da der Hegemon jedoch eine im Niedergang begriffene Supermacht und „nicht abkommensfähig” ist, ist es ungewiss, ob irgendetwas davon Bestand haben würde. Insbesondere angesichts der Besessenheit des Hegemons von der unendlichen NATO-Erweiterung. „Nicht abkommensfähig” (недоговороспособны) ist übrigens ein Begriff, den russische Diplomaten geprägt haben, um die Unfähigkeit ihrer amerikanischen Kollegen zu beschreiben, sich an irgendeine von ihnen unterzeichnete Vereinbarung zu halten – von Minsk bis hin zum Atomabkommen mit dem Iran.

Diese brenzlige Mischung wird durch die Einführung des türkischen Faktors noch komplexer.

Der türkische Außenminister Çavuşoğlu hat bereits deutlich gemacht, dass Ankara, sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai an der Macht bleiben, weder Sanktionen gegen Russland verhängen noch das Montreux-Übereinkommen verletzen wird, das die Durchfahrt von Kriegsschiffen zum und vom Schwarzen Meer in Kriegszeiten verbietet.

Risiken der geopolitischen Wende Ankaras

Ibrahim Kalyn, Erdoğans oberster sicherheits- und außenpolitischer Berater, hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es keinen Krieg zwischen Russland und der Ukraine gibt, sondern einen Krieg zwischen Russland und dem Westen, wobei die Ukraine als Stellvertreter dient.

Aus diesem Grund investiert der kollektive Westen viel Geld in eine „ Erdoğan muss weg”-Kampagne, die aufwendig finanziert wird, um eine seltsam zusammengewürfelte Koalition ins Präsidentenamt zu bringen. Sollte die türkische Opposition gewinnen – und ihre Zahlungen an den Hegemon beginnen – könnte es wieder zu Sanktionen und Verstößen gegen Montreux kommen.

Allerdings könnte Washington hier eine Überraschung erleben. Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat angedeutet, dass die außenpolitische Ausrichtung Ankaras mehr oder weniger ausgewogen bleiben wird [7], während einige Beobachter glauben, dass selbst bei einem Sturz Erdoğans die Westorientierung der Türkei Grenzen haben wird [8].

Erdoğan, der vom Staatsapparat und seinem immensen Patronagenetz profitiert, setzt alles daran, seine Wiederwahl zu sichern. Nur dann könnte er sich von der ständigen Absicherung seiner Einsätze zu einem echten Akteur der eurasischen Integration entwickeln.

Ankara unter Erdoğan ist in seiner jetzigen Form nicht pro-russisch, sondern versucht, von beiden Seiten zu profitieren. Die Türken verkaufen Bayraktar-Drohnen an Kiew, haben militärische Deals abgeschlossen und investieren gleichzeitig unter dem Deckmantel der „Türkischen Staaten” in separatistische Tendenzen auf der Krim und in Cherson.

Gleichzeitig ist Erdogan dringend auf die militärische und energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland angewiesen. In Moskau macht man sich keine Illusionen über „den Sultan” oder darüber, wohin die Türkei steuert. Wenn Ankaras geopolitische Wende feindselig ist, werden die Türken am Ende die besten Plätze im eurasischen Hochgeschwindigkeitszug verlieren – von BRICS+ [9] bis zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ [10]) und allen Räumen dazwischen.

Quellen:

[1] The Cradle, NewsDesk „Syria officially welcomed back into Arab League”, am 7.5.2023: <https://thecradle.co/article-view/24524/syria-officially-welcomed-back-into-arab-league>
[2] The Cradle, NewsDesk „Iran, Syria vow continued strengthening of ties”, am 5.5.2023: <https://thecradle.co/article-view/24464/iran-syria-vow-continued-strengthening-of-ties>
[3] The Cradle, NewsDesk „Syria officially welcomed back into Arab League”, am 7.5.2023: „<https://thecradle.co/article-view/24524/syria-officially-welcomed-back-into-arab-league>
[4] Newsweek, Maura Zurick „Kissinger Predicts China Involvement Will Lead to Ukraine Peace Talks”, am 8.5.2023: <https://www.newsweek.com/kissinger-predicts-china-involvement-will-lead-ukraine-peace-talks-1798917>
[5] The Guardian, Andrew Roth „Russia issues list of demands it says must be met to lower tensions in Europe”, am 17.12.2021: <https://www.theguardian.com/world/2021/dec/17/russia-issues-list-demands-tensions-europe-ukraine-nato>
[6] The Cradle, Mohamad Hasan Sweidan „Turkish elections: What if Putin loses Erdogan?”, am 8.5.2023:  <https://thecradle.co/article-view/24437/analysis>
[7] Twitter, Kemal Kılıçdaroğlu „Ne Batı ne Doğu, bu Türk’ün Yolu.”, am 6.5.2023: <https://twitter.com/kilicdarogluk/status/1654939104495255552?cxt=HHwWgIC-hZ2Ww_ctAAAA>
[8] CNN, Nadeen Ebrahim „A change in Turkish might not spell the end of ties with Russia”, am 8.5.2023: <https://edition.cnn.com/2023/05/08/middleeast/turkey-foreign-policy-elections-russia-mime-intl/index.html>
[9] The Cradle, Pepe Escobar „Everybody wants to hop on the BRICS Express”, am 27.10.2022: <https://thecradle.co/article-view/17447/everybody-wants-to-hop-on-the-brics-express>
[10] The Cradle, NewsDesk „German chancellor ‘very irritated’ by Turkey’s plan to join SCO”, am 21.9.2022: <https://thecradle.co/article-view/15961>

Gewagtes Spiel auf dem westasiatischen Schachbrett

Im Wettbewerb der Großmächte ist alles miteinander verbunden: Die unsicheren Verhandlungen zwischen Russland und der NATO über die Ukraine könnten durch ein Umschwenken der Türkei nach den Wahlen und die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga beeinträchtigt werden.

Von Published On: 3. Juni 2023Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 09.05.2023 auf www.thecradle.co unter der URL <https://thecradle.co/article-view/24623> veröffentlicht. Lizenz: Pepe Escobar, The Cradle, CC BY-NC-ND 4.0

Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Sotschi. Die Gespräche sind den Problemen der syrischen Siedlung gewidmet, 22.11.2017. (Foto: Pressedienst des Präsidenten Russlands, Wikimedia Commons, CC-BY-4.0)

Westasien ist eine Region, in der sich gegenwärtig viele geopolitische Aktivitäten abspielen. Die jüngsten diplomatischen Bemühungen, die von Russland initiiert und von China unterstützt wurden, haben zu einer für lange Zeit schwer erreichbaren Annäherung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien geführt, während die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga [1] mit großem Tamtam begrüßt wurde. Das diplomatische Treiben signalisiert eine Abkehr von der imperialen „Teile und herrsche“-Taktik, mit der seit Jahrzehnten nationale, stammesbezogene und sektiererische Gräben in dieser strategischen Region aufgerissen werden.

Der vom Imperium und seinen Terrororganisationen unterstützte Stellvertreterkrieg in Syrien – einschließlich der Besetzung ressourcenreicher Gebiete und des massenhaften Diebstahls syrischen Öls – wütet weiter, obwohl Damaskus die Oberhand gewonnen hat. Dieser Vorteil, der in den letzten Jahren durch eine Flut tödlicher Wirtschaftssanktionen des Westens geschwächt wurde, wächst nun exponentiell: Der syrische Staat wurde durch den jüngsten offiziellen Besuch des iranischen Präsidenten Ebrahim Rais [2] – der eine Ausweitung der bilateralen Beziehungen versprach – am Vorabend der Rückkehr Syriens in die Arabische Liga weiter gestärkt.

„Assad muss weg” – ein Mantra [3], das direkt aus der kollektiven westlichen Hybris stammt – hat sich letztendlich nicht erfüllt. Ungeachtet der imperialen Drohungen kamen die arabischen Staaten, die versucht hatten, den syrischen Präsidenten zu isolieren, zurück und lobten ihn erneut, angeführt von Moskau und Teheran.

In informierten Moskauer Kreisen wird ausgiebig über Syrien diskutiert. Übereinstimmung besteht mehr oder weniger darin, dass Russland, das sich jetzt auf den „Alles-oder-Nichts“-Stellvertreterkrieg konzentriert, nicht in der Lage sein wird, eine Friedenslösung für Syrien durchzusetzen. Das schließt jedoch nicht aus, dass die Saudis, Iraner und Türken für ein Abkommen unter russischer Führung eintreten.

Ohne das aggressive Verhalten der Strauss’schen Neokonservativen (Leo Strauss ist der Vordenker der Neokonservativen, Anm. d. Red.) im Washingtoner Beltway hätte ein umfassender multiterritorialer Frieden erreicht werden können, der von der Souveränität Syriens über eine entmilitarisierte Zone im Westen des russischen Grenzgebiets bis hin zu Stabilität im Kaukasus alles umfasst, einschließlich einer gewissen Achtung des Völkerrechts.

Dass ein solches Abkommen zustande kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Stattdessen wird sich die Lage in Westasien wahrscheinlich weiter verschlechtern. Zum Teil ist das darauf zurückzuführen, dass der Nordatlantik (gemeint ist die NATO, Anm. d. Red.) seinen Schwerpunkt bereits auf das Südchinesische Meer verlagert hat.

Trotz der Dringlichkeit der Situation scheint Moskau nicht in Eile zu sein. Seine wichtigste militärische Strategie ist – wie man in Bakhmut/Artemjowsk sehen kann – eine Kombination aus Schneckentempo und Fleischwolf. Das ultimative Ziel ist die Entmilitarisierung der gesamten NATO – nicht nur der Ukraine – und bisher scheint das auch hervorragend zu funktionieren.

Russland setzt auf Langfristigkeit und rechnet damit, dass der kollektive Westen eines Tages einen „Heureka!”-Moment erleben wird und erkennen muss, dass es an der Zeit ist, das Rennen aufzugeben.

Angenommen, durch eine göttliche Fügung begännen in wenigen Monaten Verhandlungen unter Beteiligung Chinas. Moskau und Peking wissen beide, dass sie nichts von dem, was der Hegemon sagt oder unterschreibt, glauben können.

Darüber hinaus ist der entscheidende taktische Sieg der USA bereits unter Dach und Fach: Russland wird sanktioniert, dämonisiert und von Europa getrennt, und die EU wird als de-industrialisierter, unbedeutender, niederer Vasall zementiert.

Porträt Banderas am Rathaus Kiew während des Euromaidan am 14. Januar 2014 (Foto: spoilt.exile, Flickr, CC BY-SA 2.0)

Ein unmöglicher „Frieden“

Dem kollektiven Westen scheint es an einer entschlossenen Führungspersönlichkeit zu mangeln, während der Hegemon derzeit von einem senilen Präsidenten „geführt” wird, den ein Rudel lupenreiner Kriegstreiber fernsteuert. Die Situation hat sich so weit zugespitzt, dass die viel gepriesene „ukrainische Gegenoffensive” in Wirklichkeit der Auftakt zu einer NATO-Demütigung sein könnte, die Afghanistan wie ein Disneyland am Hindukusch aussehen lassen wird.

Möglicherweise gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen Russland und der NATO von heute und der Türkei und Russland vor dem März 2020: Beide Seiten setzen auf einen entscheidenden militärischen Durchbruch auf dem Schlachtfeld, bevor sie sich an den Verhandlungstisch setzen. Die USA sind verzweifelt: Selbst das „Orakel” des 20. Jahrhunderts, Henry Kissinger, sagt jetzt, dass es unter Einbeziehung Chinas noch vor Ende 2023 Verhandlungen geben wird [4].

Vorausgesetzt, es kommt zu einem Verhandlungsfrieden, wird das Land wohl eher einem Syrien 2.0 ähneln, mit einem massiven „Idlib”-Äquivalent direkt vor Russlands Haustür – was für Moskau gänzlich inakzeptabel wäre.

In der Praxis werden wir Bandera-Terrorgruppen – die slawische Version von ISIS – haben, die mit Autobomben und Kamikaze-Drohnen durch die Russische Föderation ziehen können. Der Hegemon wird in der Lage sein, den Stellvertreterkrieg nach Belieben ein- und auszuschalten, so wie er es auch in Syrien, Irak und Afghanistan mit seinen Terrorzellen tut.

Der Sicherheitsrat in Moskau weiß aufgrund der Minsker Farce, die sogar die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zugegeben hat, sehr genau, dass es sich um Minsk auf Steroiden handeln wird: Das Kiewer Regime bzw. das Post-Selenskyj-Regime wird weiterhin mit brandneuen NATO-Gimmicks zu Tode bewaffnet werden.

Aber die andere Option – bei der es nichts zu verhandeln gibt – ist ebenso bedrohlich: ein ewiger Krieg.

Unteilbarkeit der Sicherheit

Das eigentliche Abkommen, über das es zu verhandeln gilt, ist nicht der „Bauer in ihrem Spiel”, die Ukraine: Es ist die Unteilbarkeit der Sicherheit. Das ist genau das, wovon Moskau mit den Briefen vom Dezember 2021 Washington zu überzeugen versucht hat [5].

In der Praxis ist das, was Moskau derzeit tut, Realpolitik: Es schlägt die NATO auf dem Schlachtfeld, bis sie genug geschwächt ist, um eine strategische Militäroperation (SMO) zu akzeptieren. Die SMO würde notwendigerweise eine entmilitarisierte Zone zwischen der NATO und Russland, eine neutrale Ukraine sowie keine in Polen, dem Baltikum oder Finnland stationierten Atomwaffen beinhalten.

Da der Hegemon jedoch eine im Niedergang begriffene Supermacht und „nicht abkommensfähig” ist, ist es ungewiss, ob irgendetwas davon Bestand haben würde. Insbesondere angesichts der Besessenheit des Hegemons von der unendlichen NATO-Erweiterung. „Nicht abkommensfähig” (недоговороспособны) ist übrigens ein Begriff, den russische Diplomaten geprägt haben, um die Unfähigkeit ihrer amerikanischen Kollegen zu beschreiben, sich an irgendeine von ihnen unterzeichnete Vereinbarung zu halten – von Minsk bis hin zum Atomabkommen mit dem Iran.

Diese brenzlige Mischung wird durch die Einführung des türkischen Faktors noch komplexer.

Der türkische Außenminister Çavuşoğlu hat bereits deutlich gemacht, dass Ankara, sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai an der Macht bleiben, weder Sanktionen gegen Russland verhängen noch das Montreux-Übereinkommen verletzen wird, das die Durchfahrt von Kriegsschiffen zum und vom Schwarzen Meer in Kriegszeiten verbietet.

Risiken der geopolitischen Wende Ankaras

Ibrahim Kalyn, Erdoğans oberster sicherheits- und außenpolitischer Berater, hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es keinen Krieg zwischen Russland und der Ukraine gibt, sondern einen Krieg zwischen Russland und dem Westen, wobei die Ukraine als Stellvertreter dient.

Aus diesem Grund investiert der kollektive Westen viel Geld in eine „ Erdoğan muss weg”-Kampagne, die aufwendig finanziert wird, um eine seltsam zusammengewürfelte Koalition ins Präsidentenamt zu bringen. Sollte die türkische Opposition gewinnen – und ihre Zahlungen an den Hegemon beginnen – könnte es wieder zu Sanktionen und Verstößen gegen Montreux kommen.

Allerdings könnte Washington hier eine Überraschung erleben. Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat angedeutet, dass die außenpolitische Ausrichtung Ankaras mehr oder weniger ausgewogen bleiben wird [7], während einige Beobachter glauben, dass selbst bei einem Sturz Erdoğans die Westorientierung der Türkei Grenzen haben wird [8].

Erdoğan, der vom Staatsapparat und seinem immensen Patronagenetz profitiert, setzt alles daran, seine Wiederwahl zu sichern. Nur dann könnte er sich von der ständigen Absicherung seiner Einsätze zu einem echten Akteur der eurasischen Integration entwickeln.

Ankara unter Erdoğan ist in seiner jetzigen Form nicht pro-russisch, sondern versucht, von beiden Seiten zu profitieren. Die Türken verkaufen Bayraktar-Drohnen an Kiew, haben militärische Deals abgeschlossen und investieren gleichzeitig unter dem Deckmantel der „Türkischen Staaten” in separatistische Tendenzen auf der Krim und in Cherson.

Gleichzeitig ist Erdogan dringend auf die militärische und energiepolitische Zusammenarbeit mit Russland angewiesen. In Moskau macht man sich keine Illusionen über „den Sultan” oder darüber, wohin die Türkei steuert. Wenn Ankaras geopolitische Wende feindselig ist, werden die Türken am Ende die besten Plätze im eurasischen Hochgeschwindigkeitszug verlieren – von BRICS+ [9] bis zur Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ [10]) und allen Räumen dazwischen.

Quellen:

[1] The Cradle, NewsDesk „Syria officially welcomed back into Arab League”, am 7.5.2023: <https://thecradle.co/article-view/24524/syria-officially-welcomed-back-into-arab-league>
[2] The Cradle, NewsDesk „Iran, Syria vow continued strengthening of ties”, am 5.5.2023: <https://thecradle.co/article-view/24464/iran-syria-vow-continued-strengthening-of-ties>
[3] The Cradle, NewsDesk „Syria officially welcomed back into Arab League”, am 7.5.2023: „<https://thecradle.co/article-view/24524/syria-officially-welcomed-back-into-arab-league>
[4] Newsweek, Maura Zurick „Kissinger Predicts China Involvement Will Lead to Ukraine Peace Talks”, am 8.5.2023: <https://www.newsweek.com/kissinger-predicts-china-involvement-will-lead-ukraine-peace-talks-1798917>
[5] The Guardian, Andrew Roth „Russia issues list of demands it says must be met to lower tensions in Europe”, am 17.12.2021: <https://www.theguardian.com/world/2021/dec/17/russia-issues-list-demands-tensions-europe-ukraine-nato>
[6] The Cradle, Mohamad Hasan Sweidan „Turkish elections: What if Putin loses Erdogan?”, am 8.5.2023:  <https://thecradle.co/article-view/24437/analysis>
[7] Twitter, Kemal Kılıçdaroğlu „Ne Batı ne Doğu, bu Türk’ün Yolu.”, am 6.5.2023: <https://twitter.com/kilicdarogluk/status/1654939104495255552?cxt=HHwWgIC-hZ2Ww_ctAAAA>
[8] CNN, Nadeen Ebrahim „A change in Turkish might not spell the end of ties with Russia”, am 8.5.2023: <https://edition.cnn.com/2023/05/08/middleeast/turkey-foreign-policy-elections-russia-mime-intl/index.html>
[9] The Cradle, Pepe Escobar „Everybody wants to hop on the BRICS Express”, am 27.10.2022: <https://thecradle.co/article-view/17447/everybody-wants-to-hop-on-the-brics-express>
[10] The Cradle, NewsDesk „German chancellor ‘very irritated’ by Turkey’s plan to join SCO”, am 21.9.2022: <https://thecradle.co/article-view/15961>