Grenzen von NATO und Warschauer Pakt von 1949 (Gründung der NATO) bis 1990 (Ende der DDR mit dem Ausscheiden aus dem Warschauer Pakt), erstellt am 26.2.2023.
(Karte: Discombobulates, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-4.0)

Die nordischen Länder und die Ukraine

Das militärische Denken Russlands

Von Ola Tunander , veröffentlicht am: 9. August 2024, Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 03.06.2024 auf www.olatunander.substack.com unter der URL <https://olatunander.substack.com/p/russian-military-thinking> veröffentlicht. Lizenz: © Ola Tunander

Für Russland ging es bei der Invasion der Ukraine nicht um Landeroberungen oder die Unterwerfung eines Volkes, nicht um die Wiederherstellung der Sowjetunion oder des Russischen Reiches, sondern um die Schaffung einer „neutralen Pufferzone“, um Russlands Existenz als Staat zu garantieren. Für Russland ist eine Pufferzone überlebenswichtig. Das gleiche Problem gilt für Nordeuropa. Während des Kalten Krieges dienten die nordischen Länder als Zone der Entspannung – als Pufferzone – da Schweden und Finnland mehr oder weniger neutral waren und Norwegen als NATO-Mitglied auf dem eigenen Territorium keine US-Stützpunkte erlaubte. Nun riskieren wir, mit dem NATO-Beitritt und den neuen Verteidigungs-Kooperations-Abkommen (Defense Cooperation Agreements – DCA, Anm. d. Red.) zwischen den Vereinigten Staaten und den nordischen Ländern [1], eine militärische Konfrontation.

Die Vereinigten Staaten denken traditionell in Begriffen der „Eindämmung“, um jede Form der Expansion durch die Sowjetunion und später durch Russland „einzudämmen“. Die USA verlegten Streitkräfte in die Nähe der gegnerischen Grenze, um im Falle eines Angriffs die Mobilisierung größerer Streitkräfte auszulösen. Aber wie der RAND-Bericht über Norwegen – „Enhancing Deterrence and Defense on NATO’s Northern Flank“ (2020) [2] – zeigt, wollten die Vereinigten Staaten Raketen und Flugzeuge ziemlich nah an Russlands Grenze stationieren, um lebenswichtige Einrichtungen tief auf russischem Hoheitsgebiet angreifen zu können und Norwegen und der NATO eine „glaubwürdige Abschreckung“ zu verleihen. RAND argumentiert, dass dies Russland davon abschrecken würde, einen Angriff auf Norwegen zu riskieren. Dieses Argument setzt jedoch voraus, dass Russland sein Territorium ausweiten will.

Dieses angeblich defensive „Eindämmungs“-Argument wurde jedoch stets durch eine „Roll-Back“-Strategie der USA ergänzt, die darauf abzielte, die Sowjets oder Russland Schritt für Schritt zurückzudrängen. Dies war die Politik von CIA-Direktor Allan Dulles in den 1950er Jahren. Aber dasselbe offensive „Roll-Back-Denken“ wurde in den 1980er Jahren von der US-amerikanischen „Victory School“ [3], von William Casey, dem damaligen CIA-Direktor und ehemaligen OSS-Kollegen von Dulles favorisiert (Anm. d. Red.: Das OSS, Office of Strategic Services, ist der Vorgänger der CIA). Auch in den 1990er Jahren von den neokonservativen Vereinigten Staaten unter Verteidigungsminister Dick Cheney, aber auch von Präsident George H.W. Bushs nationalem Sicherheitsberater Brent Scowcroft. Sie wollten die Vereinigten Staaten „zwischen Deutschland und Russland in Mitteleuropa“ platzieren und sogar in die Sowjetunion selbst gehen. Cheney wollte „nicht nur die Sowjetunion und das Russische Reich, sondern Russland selbst zerschlagen“, um den CIA-Direktor und späteren Verteidigungsminister Robert Gates zu zitieren [4]. Cheney wollte Russland nach Moskau zurückdrängen.

Während amerikanische Sicherheitsanalysten in Begriffen wie „Abschreckung“, „Eindämmung“ und „Roll-Back“ denken, ist das Denken russischer Analysten von „Pufferzonen“ geprägt und davon, notfalls hart zuzuschlagen. Man denkt an eine notwendige Verteidigungstiefe zum Schutz der vitalen Interessen Russlands. Dieses russische Denken wurde durch jahrhundertelange westliche Angriffe auf Russland geprägt, von Karl XII. im 18. Jahrhundert über Napoleon im 19. bis hin zu Nazi-Deutschland im 20. Jahrhundert, die alle tief auf russisches Territorium vorstießen. All diese Angriffe wurden zurückgeschlagen, aber mehr als 25 Millionen Russen starben im Zweiten Weltkrieg. Das Mitteleuropa des Kalten Krieges mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn war nicht Teil eines Imperiums, wie wir es kennen. Vielmehr sollten sie als eine kontrollierte Pufferzone verstanden werden, um zu verhindern, dass der Krieg erneut auf russischem Boden ausgetragen wird und mehrere Millionen Russen ihr Leben verlieren. Dies war sicherlich nicht die Wahl der Polen, Tschechen und Ungarn. Und ab Ende 1988 versuchte Präsident Michail Gorbatschow, die Staaten des Warschauer Pakts durch eine neutrale Pufferzone unabhängiger Staaten zu ersetzen, was 1990/91 von allen westlichen Staats- und Regierungschefs befürwortet wurde [5]. Wenn Moskau seine 350.000 Mann aus Ostdeutschland abzöge, würde es keine Ausweitung der NATO nach Osteuropa und nicht einmal nach Ostdeutschland geben, versprachen sie alle.

Berlin: Tagung Zum Abschluß stellten sich die Leiter der Delegationen zur turnusmäßigen Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages den Fotografen. v.l.n.r.: Gustáv Husak (CSSR), Todor Shiwkow (VRB), Erich Honecker (DDR), Michail Gorbatschow (UdSSR), Nicolae Ceausescu (SRR), Wojciech Jaruzelski (VRP) und János Kádár (UVR), 29.5.1987.
(Foto: Rainer Mittelstädt, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0-DE)

Im Sommer 1992 reisten mein Kollege Robert Bathurst und ich zusammen mit amerikanischen Militärhistorikern nach Russland [6]. Fast alle Teilnehmer kamen aus amerikanischen Geheimdiensten. Robert Bathurst war Dolmetscher zwischen Präsident Eisenhower und Chruschtschow und verantwortlich für die Washington-Moskau-Hotline. Er war stellvertretender US-Attaché in Moskau und Leiter des U.S. Marinegeheimdienstes für Europa. In Leningrad/St. Petersburg (die Stadt war gerade dabei, ihren Namen zu ändern) sprachen wir mit Wladimir Cheremnikh [7], der in den späten 1970er und 1980er Jahren erster Stellvertretender Stabschef des Leningrader Militärbezirks war und damit verantwortlich für die Planung eines militärischen Angriffs auf Nordeuropa, der durchgeführt worden wäre, falls es zu einem großen amerikanisch-sowjetischen Krieg gekommen wäre.

Wir luden ihn nach Oslo ein, damit er seine Erfahrungen als sowjetischer Oberbefehlshaber in Afghanistan für ein Jahr (1981-82) und seine Erfahrungen als Leiter der militärischen Planung für Nordeuropa in den späten 1970er Jahren, sowie Anfang und Mitte der 1980er Jahre vorstellen konnte. General Fredrik Bull-Hansen, ehemaliger norwegischer Verteidigungsminister, und sein Geheimdienstchef Jan Ingebrigtsen nahmen ebenfalls an den Seminaren teil. Generalleutnant Cheremnikh erklärte, im Falle eines westlichen Angriffs auf die Sowjetunion hätten die sowjetischen Streitkräfte in Leningrad, Petrosawodsk und Kandalakscha Finnland und möglicherweise auch die nördliche Spitze Schwedens besetzt, während die Streitkräfte in Murmansk die Provinz Finnmark im Nordosten Norwegens eingenommen hätte. Bodø und andere Luftwaffenstützpunkte in Nordnorwegen wären ausgeschaltet worden.

Als ich Cheremnikh fragte, was passiert wäre, wenn die Vereinigten Staaten schwedische Luftwaffenstützpunkte genutzt hätten, antwortete er, dass sie in diesem Fall ebenfalls zerstört worden wären, aber die Russen Schweden nicht besetzt hätten. „Die Einnahme Schwedens war nicht notwendig“, sagte er. Allerdings ist bekannt, dass die Sowjets zu dieser Zeit nicht in der Lage gewesen sind, diese Luftwaffenstützpunkte mit konventionellen Luftangriffen zu zerstören. Solche Angriffe hätten ein kontinuierliches Bombardement erfordert, und die russischen Verluste an Flugzeugen wären in diesem Fall inakzeptabel gewesen. Höchstwahrscheinlich hätten sie eher Atomwaffen eingesetzt. (2008 veröffentlichte General Bengt Gustafsson, der ehemalige schwedische Oberbefehlshaber, ein Dokument des schwedischen Geheimdienstes MUST über die sowjetischen Pläne für einen Angriff auf Nordeuropa auf der Website des in Washington und Zürich ansässigen „Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact“. Das Dokument enthielt ein Gespräch mit General Cheremnikh und wie sich herausstellte, war ich derjenige, der das Dokument verfasst hatte. Ich hatte es dem schwedischen Verteidigungsattaché in Oslo übergeben, und dann wurde es als MUST-Dokument präsentiert. Die Informationen aus diesem Dokument hatte ich bereits 1995 in einem Buch veröffentlicht.

Eine sowjetische Hommage an Olof Palme, hochgeladen am 15.2.2005.
(Bild:Patrick Strang, Flickr, CC BY-NC 2.0)

Schwedens Verteidigungsminister Sven Andersson (1957-1973) hatte eine geheime Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten, die vorsah, dass, bevor Schweden von den Sowjets angegriffen würde, amerikanische Flugzeuge – vom ersten Tag eines Krieges an – auf schwedischen Luftwaffenstützpunkten landen sollten. Im Falle eines Krieges an der zentralen Front hätten die in Westdeutschland stationierten US-Flugzeuge irgendwo untergebracht werden müssen, und Schweden war die beste Option für die US-Luftwaffe [8]. Die US-Flugzeuge wären bereits vor einem möglichen sowjetischen Angriff auf Schweden auf schwedischen Luftwaffenstützpunkten gelandet. Dies wurde mir von Anderssons engem Berater Ingemar Engman mitgeteilt [9] und wurde ebenfalls vom ehemaligen US-Verteidigungsminister James Schlesinger 1993 auf einer Konferenz bestätigt. Auf meine Frage, wie er Schweden einschätze, sprach er von „zwei Schweden“, von Schweden als dualem Staat, in dem „das militärische Schweden plante, dass wir so schnell wie möglich kommen“, also vor einem sowjetischen Angriff auf Schweden. Das „Politische Schweden“ mit Ministerpräsident Olof Palme (1969-76; 1982-86) hat diese Politik nicht akzeptiert. Er übergab 1976 die schwedische Vereinbarung über die Stationierung von US-Flugzeugen von „Tag eins“ an, nicht dem neuen Ministerpräsidenten Thorbjorn Fälldin. Palme muss verstanden haben, dass die Nutzung schwedischer Luftwaffenstützpunkte durch die USA in einer frühen Phase eines Krieges Schweden zu einem Ziel für sowjetische Atomraketen machen würde.

Die russische Denkweise basierte auf zwei Arten von Pufferzonen, einer „inneren Zone“ der Kontrolle und einer „äußeren Zone“ der Verweigerung, in der die Russen den US-amerikanischen oder westlichen Streitkräften den Zutritt verweigern würden. (Vgl. die Kubakrise von 1962, als die amerikanisch-russischen Beziehungen umgedreht wurden. Die USA verweigerten den Sowjets das Recht, Raketen auf Kuba zu stationieren). Dies ist in der Tat eine Parallele zu den Überlegungen der USA, wie man mit US-Flugzeugträgern operiert. Die Flugzeugträger mussten immer eine innere Zone der „Seekontrolle“ mit ihren eigenen Luftabwehrsystemen einrichten, in der die US-Marine ihre eigenen Schiffe einsetzen konnte: zum Beispiel zwei Kreuzer, zwei Zerstörer und eine Fregatte. Außerhalb dieser Zone würde man eine „See-Verweigerungs“-Zone einrichten, in der man das Recht und die Fähigkeit der gegnerischen Flugzeugträger-Battle-Groups, Operationen mit U-Booten und Flugzeugen durchzuführen, verweigern würde. Ich habe meine Doktorarbeit über das Denken der USA zur Seestrategie in den 1980er Jahren geschrieben, einschließlich des Einsatzes von Flugzeugträger-Battle-Groups in den nordischen Gewässern [10].

Das russische militärische Denken basiert auf der gleichen Idee: einer „inneren Zone der Kontrolle“ und einer „äußeren Zone der Verweigerung“. Gemäß dem finnisch-sowjetischen „Abkommen der Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung von 1948“ würde Finnland den Streitkräften der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Länder nicht gestatten, finnisches Hoheitsgebiet oder den finnischen Luftraum zu nutzen, da dies eine Bedrohung für die Sowjetunion darstellen würde. Cheremnikh sagte: „Wir hatten ein Abkommen mit den Finnen, aber wir haben ihnen nicht vertraut“. Finnland und Finnmark gehörten zur „inneren Zone“, die die Russen kontrollieren mussten, um zu überleben, während sie den Amerikanern die Möglichkeit verweigern würden, von der „äußeren Zone“ aus (im wesentlichen Schweden und Norwegen) zu operieren. Sie würden die US-Basen zerstören. Es gibt Grund zu der Annahme, dass die russische Planung heute die gleiche ist. Die Geographie hat sich nicht geändert.

Die russische Elite hat kein Interesse an der Eroberung fremder Gebiete oder der Herrschaft über andere Völker. Die Erfahrungen in Polen und Afghanistan in den 1980er Jahren oder früher in der Tschechoslowakei sprechen eine deutliche Sprache. Die heutige Generation der politischen Führung in Moskau ist sich sehr wohl bewusst, dass die Kontrolle des Territoriums anderer in Friedenszeiten nicht ohne unannehmbare Kosten möglich ist. Natürlich gibt es russische Offiziere, die von einem Großrussland träumen, so wie einige schwedische Offiziere, die von der Größe Schwedens des 17. Jahrhunderts träumen. Aber das hat nichts mit praktischer Politik zu tun. Für Russland geht es beim Einmarsch in die Ukraine nicht darum, ein Land zu erobern oder ein anderes Volk zu unterwerfen, sondern darum, eine Pufferzone zu haben, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht ist.

Aber was ist mit den russischen Minderheiten in den postsowjetischen Staaten? Zusammen mit Russland wurden sie bekannt als „Russische Welt“ oder „Russkiy Mir“. Fühlt Russland nicht eine besondere Verantwortung für diese russischsprachigen Gebiete außerhalb Russlands? Ja, in gewisser Weise schon, aber, obwohl Kiew die russischsprachigen Gebiete Donezk und Lugansk in der Ostukraine ab 2014 beschoss – mit Tausenden toten Zivilisten – und obwohl die „neuen Republiken“ Donezk und Lugansk um die Anerkennung als Teil Russlands gebeten haben, hat Wladimir Putin sie ihnen verweigert. Für Putin war die Idee der „russischen Welt“ dem Anspruch der UN-Charta auf die Souveränität der Staaten untergeordnet. Vielleicht wollte Putin auch sicherstellen, dass die russischsprachigen Menschen in der Ostukraine nicht zu einer Minderheit werden, die von den radikalen Nationalisten aus der Westukraine dominiert werden. Die Krim ist ein ganz anderer Fall. Bereits 1991, vor der Auflösung der Sowjetunion, sprachen sich 93 % der Krim-Bevölkerung dafür aus, zu Russland und nicht zur Ukraine zu gehören. Außerdem würde Russland den Marinestützpunkt Sewastopol niemals den Vereinigten Staaten überlassen. Das Problem für die Krim war, dass Boris Jelzin 1991 mehr damit beschäftigt war, die Macht in Moskau zu ergreifen und Michail Gorbatschow auszumanövrieren, als die Risiken eines künftigen Krieges zu begrenzen.

Screenshot: Berliner Zeitung, erstellt am 22.7.2024 – 13:24:13, https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ukraine-haetten-die-istanbul-verhandlungen-den-krieg-beenden-koennen-li.2206712

Ein weiteres Indiz dafür, dass Wladimir Putin das bestehende postsowjetische Russland akzeptiert, ist die Tatsache, dass er mit den Minsker Vereinbarungen von 2015 zufrieden war. Sie boten eine Garantie für eine „neutrale Ukraine“ und die Garantie, dass der russischsprachigen Bevölkerung im Osten erlaubt werden würde, Russisch zu sprechen. Als jedoch das ukrainische Parlament 2019 erklärte, der NATO beitreten zu wollen (was im Widerspruch zum Minsker Abkommen stand) und gleichzeitig mit der Aufstockung der Streitkräfte entlang der Grenze zu Donezk und Lugansk begann, sowie danach ab Mitte Februar 2022 die Städte Donezk und Lugansk in Vorbereitung einer Offensive massiv beschoss [11], nahm Moskau dies als Kriegserklärung wahr. Bei den Verhandlungen in Istanbul im März 2022 forderte Russland eine „neutrale Ukraine“, sagte Davyd Arachamija, Leiter der ukrainischen Delegation, und fuhr fort [12]: „In der Tat war dies der wichtigste Punkt [für die Russen]. Alles andere war nur Kosmetik.“ Die Verhandlungen waren ein „Erfolg“, sagte Oleksij Arestowytsch, militärischer Berater von Präsident Selenskyj in der Delegation. [13] „Wir haben die Champagnerflasche geöffnet. Es waren rundum erfolgreiche Verhandlungen“, sagte er. Der britische Premierminister Boris Johnson reiste jedoch nach Kiew und sagte laut Arachamija [14]: „Wir sollten überhaupt nichts mit ihnen unterzeichnen und einfach kämpfen.“ Johnson forderte Kiew auf, nichts aus Russland zu akzeptieren. Hätten die Briten nicht interveniert, könnten wir heute eine neutrale Ukraine haben und eine Fortsetzung des Krieges mit einer halben Million toter Ukrainer wäre vermieden worden.

Seit dem ersten Tag der Invasion gingen die Massenmedien davon aus, dass Russland die Ukraine erobern wollte, dann aber scheiterte. Nach einer westlichen Faustregel hätte eine Besetzung jedoch mindestens eine fünfmal so große Truppe erfordert [15]: ein Soldat pro 40-50 Einwohner. Wenn man sich die russischen Erfahrungen anschaut, kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie eine zehnmal so große Truppe eingesetzt hätten (vgl. Tschechoslowakei 1968). Kurz gesagt: durch den Einsatz einer relativ kleinen Truppe im Februar 2022 signalisierte Russland dem Westen, dass es nicht die Absicht hatte, die Ukraine zu besetzen. Dies geht auch aus den Äußerungen von Arachamija und Arestowytsch über die Verhandlungen im März/April 2022 hervor. Russland wollte „eine neutrale Ukraine“. Man hatte nicht die Absicht, das Land zu erobern, aber man würde mit allen Mitteln die westliche Militärpräsenz in der Ukraine verhindern. Bei der russischen Militärintervention ging es nicht um die Eroberung von Territorium, sondern darum zu verhindern, dass die Ukraine zu einer 500 km von Moskau entfernten US-Bastion wird. Russland wollte eine neutrale Zone, eine Pufferzone, die das Risiko eines westlichen Überraschungsangriffs verringern würde. Denn ein solcher Angriff wäre für Russland unmöglich abzuwehren.

„Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Gehirn“, sagte Wladimir Putin im Jahr 2000 [16]. Am Tag der Invasion am 24. Februar 2022 sagte er [17]: „Wir haben alle neuen postsowjetischen Staaten mit Respekt behandelt […]. Russland respektiert die Souveränität aller postsowjetischen Staaten, und wir respektieren und werden ihre Souveränität respektieren. […] Es ist nicht unser Plan, ukrainisches Territorium zu besetzen“. Aber Russland kann eine „[westliche] Bedrohung vom Territorium der heutigen Ukraine“ nicht akzeptieren. Große Teile der Ukraine werden in einem großen Krieg zur „inneren Zone der Kontrolle“ werden, während der Rest in die „äußere Zone der Verweigerung“ fällt, in der dem Gegner der Aufbau seiner Streitkräfte verwehrt werden soll. Für Russland geht es nicht um die Wiederherstellung des Russischen Reiches oder der Sowjetunion, sondern darum, eine Pufferzone zu garantieren, um den Vereinigten Staaten eine militärische Präsenz zu verweigern. Und wenn dies nicht durch Verhandlungen erreicht werden kann, dann ist Russland bereit, eine solche Pufferzone durch den Einsatz militärischer Gewalt zu garantieren.

In einem großen europäischen Krieg stellt sich für die russischen Nachbarn die Frage, ob sie zur „inneren Zone der Kontrolle“ oder zur „äußeren Zone der Verweigerung“ gehören? Erstere laufen Gefahr, besetzt zu werden, während letztere Gefahr laufen, dass ihre Luftwaffenstützpunkte durch Raketen ausgeschaltet werden, wenn dort US-amerikanische oder britische Luftstreitkräfte stationiert sind. Die russische Seite wird so weit wie möglich konventionelle Waffen einsetzen, aber wenn ein Krieg bereits die nukleare Schwelle überschritten hat, werden wahrscheinlich auch Atomwaffen eingesetzt.

Nach den russischen Plänen für einen großen Krieg wird Russland keine Bodentruppen einsetzen, um in Schweden oder Norwegen westlich der Finnmark einzumarschieren, aber US-Luftwaffenstützpunkte und andere wichtige US-Einrichtungen werden durch russische Hyperschallraketen ausgeschaltet. Die russische Raketentechnologie hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Heute kann unser Luftverteidigungssystem viele dieser Raketen nicht ausschalten. Während das US-Denken darauf ausgelegt ist, Flugzeuge und Raketen in der Nähe des russischen Territoriums zu stationieren, um die Russen abzuschrecken und sie von „Abenteuern“ abzuhalten [18], denken die Russen an die Planungen der USA für einen Angriff auf Russland und an die Notwendigkeit, einem solchen Angriff durch einen Erstschlag zuvorzukommen. Jede Stationierung von US-Flugzeugen oder -Raketen ist daher extrem destabilisierend.

Karte der historischen Erweiterung der NATO in Europa, 7.3.2024.
(Karte: Patrickneil und Spesh531, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0-migrated)

Für die Länder in der „inneren Zone“ ist es – um einen Krieg zu verhindern – am wichtigsten, für Entspannung zu sorgen. Nachdem Finnland im April 2023 Mitglied der NATO wurde, sagte Russland, dies werde „Konsequenzen“ für Finnland haben. Ein halbes Jahr später, im Dezember 2023, erklärte Wladimir Putin, dass Russland den „Leningrader Militärbezirk“ wiederbeleben werde. Dieser Militärbezirk, der die Aufgabe hatte, die Kontrolle über Finnland zu übernehmen, wurde nach dem Kalten Krieg abgeschafft, soll nun aber aufgrund der NATO-Mitgliedschaft Finnlands wieder aufgebaut werden, um im Falle eines großen Krieges einen Angriff auf Finnland zu organisieren. Russland will die militärische Infrastruktur der USA ausschalten und Finnland und die Finnmark besetzen, und es nennt diesen neuen Militärbezirk „Leningrader Militärbezirk“ [19], um den Finnen klar zu machen, worum es geht.

Für die Sicherheit der Länder in der „äußeren Zone“ ist es für die eigene Sicherheit auch wichtig, Entspannung zu gewährleisten und zu verhindern, dass die Vereinigten Staaten Stützpunkte für Raketen und Flugzeuge errichten, die gegen Russland eingesetzt werden könnten. Das bedeutet, dass das DCA-Abkommen mit amerikanischen Stützpunkten zwangsläufig die Möglichkeit russischer Präventivschläge eröffnet. Nachdem alle NATO-Länder grünes Licht für den schwedischen NATO-Beitritt gegeben hatten, erklärte Russland, dass dies Konsequenzen für Schweden haben würde. Höchstwahrscheinlich wird Russland nun zumindest die fünf Luftwaffenstützpunkte angreifen, zu denen die Vereinigten Staaten in Schweden Zugang erhalten haben. Schweden, das bisher außerhalb der Reichweite eines russischen Angriffs in einem größeren Krieg lag, hat sich nun dafür entschieden, die Vereinigten Staaten auf seine Militärbasen einzuladen, was mit Sicherheit einen russischen Angriff auf Schweden in einer frühen Phase eines Krieges garantiert. Russland hat kein Interesse an schwedischem Territorium – abgesehen von den US-Militärbasen. Die Ignoranz der Regierung übersteigt meine Vorstellungskraft.

Bereits in den 1940er Jahren war das Risiko, dass Moskau es in einer Krisensituation für notwendig erachten könnte, einem Angriff der Vereinigten Staaten auf Russland – von Stützpunkten in Norwegen – zuvorzukommen. Dies war der Grund für die norwegische Stützpunktpolitik im Kalten Krieg ab 1949, die den Vereinigten Staaten und anderen Verbündeten das Recht auf Stützpunkte in Norwegen verweigerte. Oslo wollte russische Befürchtungen vermeiden und so die Neigung Russlands verringern, norwegisches Territorium in einem frühen Stadium eines Konflikts anzugreifen. Wir haben Grund, aus dieser Geschichte zu lernen und zu versuchen zu verstehen, was für das russische Militärdenken von zentraler Bedeutung ist. Die nordische Politik während des Kalten Krieges zielte darauf ab, die nordischen Länder in eine Region geringer Spannung zu verwandeln. Das kam uns damals zugute, und es würde uns auch heute zugute kommen. Es ist mir völlig unverständlich, warum die Regierungen in Nordeuropa in den letzten Jahren eine gegenteilige Politik betrieben haben.

[Eine kürzere Version dieses Artikels wurde am 1. Juni 2024 in der schwedischen Internet-Zeitschrift „Parabol“ veröffentlicht. Ein früherer Artikel, der ähnliche Fragen aufwirft, wurde am 4. März 2024 in der norwegischen Zeitschrift „Nordnorsk debatt“ (die zur Zeitung „Nordlys“ gehört) veröffentlicht. In den nordischen Ländern ist das Verständnis für das russische militärische Denken aufgrund des neuen DCA-Abkommens, das den Vereinigten Staaten eine bedeutende Präsenz auf Militärstützpunkten in den nordischen Ländern erlaubt, von besonderer Bedeutung].

Quellen:

[1] Regeringskansliet Schwedische Kanzlei der Ministerien „Avtal om försvarssamarbete (DCA) mellan Konungariket Sveriges regering och Amerikas förenta staters regering“, am 7,12,2023: <https://www.regeringen.se/rattsliga-dokument/sveriges-internationella-overenskommelser/2023/12/avtal-om-forsvarssamarbete-dca-mellan-konungariket-sveriges-regering-och-amerikas-forenta-staters-regering/>
[2] Regjeringen.no Norwegische Regierung, RAND Europe, James Black, Stephen Flanagan u. A. „Enhancing deterrence and defence on NATO’s northern flank“, in 2020: <https://www.regjeringen.no/contentassets/b6f5ea0d2d6248b4ae4131c554365e93/rand-rr-4381-enhancing-deterrence-and-defence-on-natos-northern-flank.pdf>
[3] Amazon, Peter Schweizer „Victory: The Reagan Administration’s Secret Strategy That Hastened the Collapse of the Soviet Union“, veröffentlicht am 1.4.1996: <https://www.amazon.com/Victory-Administrations-Strategy-Hastened-Collapse/dp/0871136333>
[4] Amazon, Rober M. Gates „Duty: Memoirs of a Secretary at War“, veröffenticht am 12.5.2015: <https://www.amazon.com/Duty-Memoirs-Secretary-at-War/dp/030794963X>
[5] Ola’s Substack, Ola Tunander „Did Russia violate International Law? Part I“, am 5.10.2023: <https://olatunander.substack.com/p/did-russia-violate-international>
[6] Medströms bokförlag (Verlag), Tomasz Awlasewicz und Mats Staffansson „De osynliga – öststaternas bästa spioner“, veröffenticht im Januar 2024: <https://www.medstromsbokforlag.com/portfolio-c17to>
[7] siehe [6]: <https://www.medstromsbokforlag.com/portfolio-c17to>
[8] Boktugg Buchinforamtionen, Ola Tunander „
Det svenska ubåtskriget“, veröffentlicht am 21.11.2019: <https://www.boktugg.se/bok/9789173291408/det-svenska-ubatskriget/>
[9] PRIO Institut für Friedensforschung (Oslo), Ola Tunander „The Informal NATO or NATO als Gemeinschaft – The Case of Sweden“, veröffentlicht in 2000: <https://www.prio.org/publications/3874>
[10] Google Books, Ola Tunander „Cold Water Politics: The Maritime Strategy and Geopolitics of the Northern Front“, veröffentlicht am 1.9.1989: <https://books.google.no/books/about/Cold_Water_Politics.html?id=njUgAAAAMAAJ&redir_esc=y>
[11] Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) „Daily Report 40/2022“, am 21.2.2022: <https://www.osce.org/files/2022-02-20-21%20Daily%20Report_ENG.pdf?itok=82567>
[12] YouTube, Stefano Orsi „Intervista a David Arakhamia: Mosca e Kiev nel marzo 2022 arrivarono ad un accordo di pace“, am 26.11.2023: <https://www.youtube.com/watch?v=TGXa89zjpDI>
[13] YouTube, UnHerd „Oleksiy Arestovych: Zelenskyy’s challenger“, am 14.1.2024: <https://www.youtube.com/watch?v=sehuAOw0-NI>
[14] siehe [12]: <https://www.youtube.com/watch?v=TGXa89zjpDI>
[15] Washingtonpost, Stephen Budiansky „A Proven Formula for How Many Troops We Need“, am 8.5.2004: <https://www.washingtonpost.com/archive/opinions/2004/05/09/a-proven-formula-for-how-many-troops-we-need/5c6dbfc9-33f8-4648-bd07-40d244a1daa4/>
[16] New York Times, Michael Wines „PATH TO POWER: A political profile.; Putin Steering to Reform, But With Soviet Discipline“, am 20.2.2000: <https://www.nytimes.com/2000/02/20/world/path-power-political-profile-putin-steering-reform-but-with-soviet-discipline.html>
[17] Consortium News, Wladimir Putin „Text von Putins Ankündigung einer Militäraktion“, am 1.3.2022: <https://consortiumnews.com/2022/03/01/text-of-putins-announcement-of-military-action/>
[18] RAND Corporation (Denkfabrik), James Black und Stephen J. Flanagan u. A. „Enhancing deterrence and defence on NATO’s northern flank“, am 25.3.2020: <https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR4381.html>
[19] TASS Nachrichtenagentur „Finland’s accession to NATO leads to creation of Leningrad Military District — Putin“, am 17.12.2023: <https://tass.com/politics/1722431>

Die nordischen Länder und die Ukraine

Das militärische Denken Russlands

Von Ola Tunander , veröffentlicht am: 9. August 2024, Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 03.06.2024 auf www.olatunander.substack.com unter der URL <https://olatunander.substack.com/p/russian-military-thinking> veröffentlicht. Lizenz: © Ola Tunander

Grenzen von NATO und Warschauer Pakt von 1949 (Gründung der NATO) bis 1990 (Ende der DDR mit dem Ausscheiden aus dem Warschauer Pakt), erstellt am 26.2.2023.
(Karte: Discombobulates, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-4.0)

Für Russland ging es bei der Invasion der Ukraine nicht um Landeroberungen oder die Unterwerfung eines Volkes, nicht um die Wiederherstellung der Sowjetunion oder des Russischen Reiches, sondern um die Schaffung einer „neutralen Pufferzone“, um Russlands Existenz als Staat zu garantieren. Für Russland ist eine Pufferzone überlebenswichtig. Das gleiche Problem gilt für Nordeuropa. Während des Kalten Krieges dienten die nordischen Länder als Zone der Entspannung – als Pufferzone – da Schweden und Finnland mehr oder weniger neutral waren und Norwegen als NATO-Mitglied auf dem eigenen Territorium keine US-Stützpunkte erlaubte. Nun riskieren wir, mit dem NATO-Beitritt und den neuen Verteidigungs-Kooperations-Abkommen (Defense Cooperation Agreements – DCA, Anm. d. Red.) zwischen den Vereinigten Staaten und den nordischen Ländern [1], eine militärische Konfrontation.

Die Vereinigten Staaten denken traditionell in Begriffen der „Eindämmung“, um jede Form der Expansion durch die Sowjetunion und später durch Russland „einzudämmen“. Die USA verlegten Streitkräfte in die Nähe der gegnerischen Grenze, um im Falle eines Angriffs die Mobilisierung größerer Streitkräfte auszulösen. Aber wie der RAND-Bericht über Norwegen – „Enhancing Deterrence and Defense on NATO’s Northern Flank“ (2020) [2] – zeigt, wollten die Vereinigten Staaten Raketen und Flugzeuge ziemlich nah an Russlands Grenze stationieren, um lebenswichtige Einrichtungen tief auf russischem Hoheitsgebiet angreifen zu können und Norwegen und der NATO eine „glaubwürdige Abschreckung“ zu verleihen. RAND argumentiert, dass dies Russland davon abschrecken würde, einen Angriff auf Norwegen zu riskieren. Dieses Argument setzt jedoch voraus, dass Russland sein Territorium ausweiten will.

Dieses angeblich defensive „Eindämmungs“-Argument wurde jedoch stets durch eine „Roll-Back“-Strategie der USA ergänzt, die darauf abzielte, die Sowjets oder Russland Schritt für Schritt zurückzudrängen. Dies war die Politik von CIA-Direktor Allan Dulles in den 1950er Jahren. Aber dasselbe offensive „Roll-Back-Denken“ wurde in den 1980er Jahren von der US-amerikanischen „Victory School“ [3], von William Casey, dem damaligen CIA-Direktor und ehemaligen OSS-Kollegen von Dulles favorisiert (Anm. d. Red.: Das OSS, Office of Strategic Services, ist der Vorgänger der CIA). Auch in den 1990er Jahren von den neokonservativen Vereinigten Staaten unter Verteidigungsminister Dick Cheney, aber auch von Präsident George H.W. Bushs nationalem Sicherheitsberater Brent Scowcroft. Sie wollten die Vereinigten Staaten „zwischen Deutschland und Russland in Mitteleuropa“ platzieren und sogar in die Sowjetunion selbst gehen. Cheney wollte „nicht nur die Sowjetunion und das Russische Reich, sondern Russland selbst zerschlagen“, um den CIA-Direktor und späteren Verteidigungsminister Robert Gates zu zitieren [4]. Cheney wollte Russland nach Moskau zurückdrängen.

Während amerikanische Sicherheitsanalysten in Begriffen wie „Abschreckung“, „Eindämmung“ und „Roll-Back“ denken, ist das Denken russischer Analysten von „Pufferzonen“ geprägt und davon, notfalls hart zuzuschlagen. Man denkt an eine notwendige Verteidigungstiefe zum Schutz der vitalen Interessen Russlands. Dieses russische Denken wurde durch jahrhundertelange westliche Angriffe auf Russland geprägt, von Karl XII. im 18. Jahrhundert über Napoleon im 19. bis hin zu Nazi-Deutschland im 20. Jahrhundert, die alle tief auf russisches Territorium vorstießen. All diese Angriffe wurden zurückgeschlagen, aber mehr als 25 Millionen Russen starben im Zweiten Weltkrieg. Das Mitteleuropa des Kalten Krieges mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn war nicht Teil eines Imperiums, wie wir es kennen. Vielmehr sollten sie als eine kontrollierte Pufferzone verstanden werden, um zu verhindern, dass der Krieg erneut auf russischem Boden ausgetragen wird und mehrere Millionen Russen ihr Leben verlieren. Dies war sicherlich nicht die Wahl der Polen, Tschechen und Ungarn. Und ab Ende 1988 versuchte Präsident Michail Gorbatschow, die Staaten des Warschauer Pakts durch eine neutrale Pufferzone unabhängiger Staaten zu ersetzen, was 1990/91 von allen westlichen Staats- und Regierungschefs befürwortet wurde [5]. Wenn Moskau seine 350.000 Mann aus Ostdeutschland abzöge, würde es keine Ausweitung der NATO nach Osteuropa und nicht einmal nach Ostdeutschland geben, versprachen sie alle.

Berlin: Tagung Zum Abschluß stellten sich die Leiter der Delegationen zur turnusmäßigen Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages den Fotografen. v.l.n.r.: Gustáv Husak (CSSR), Todor Shiwkow (VRB), Erich Honecker (DDR), Michail Gorbatschow (UdSSR), Nicolae Ceausescu (SRR), Wojciech Jaruzelski (VRP) und János Kádár (UVR), 29.5.1987.
(Foto: Rainer Mittelstädt, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0-DE)

Im Sommer 1992 reisten mein Kollege Robert Bathurst und ich zusammen mit amerikanischen Militärhistorikern nach Russland [6]. Fast alle Teilnehmer kamen aus amerikanischen Geheimdiensten. Robert Bathurst war Dolmetscher zwischen Präsident Eisenhower und Chruschtschow und verantwortlich für die Washington-Moskau-Hotline. Er war stellvertretender US-Attaché in Moskau und Leiter des U.S. Marinegeheimdienstes für Europa. In Leningrad/St. Petersburg (die Stadt war gerade dabei, ihren Namen zu ändern) sprachen wir mit Wladimir Cheremnikh [7], der in den späten 1970er und 1980er Jahren erster Stellvertretender Stabschef des Leningrader Militärbezirks war und damit verantwortlich für die Planung eines militärischen Angriffs auf Nordeuropa, der durchgeführt worden wäre, falls es zu einem großen amerikanisch-sowjetischen Krieg gekommen wäre.

Wir luden ihn nach Oslo ein, damit er seine Erfahrungen als sowjetischer Oberbefehlshaber in Afghanistan für ein Jahr (1981-82) und seine Erfahrungen als Leiter der militärischen Planung für Nordeuropa in den späten 1970er Jahren, sowie Anfang und Mitte der 1980er Jahre vorstellen konnte. General Fredrik Bull-Hansen, ehemaliger norwegischer Verteidigungsminister, und sein Geheimdienstchef Jan Ingebrigtsen nahmen ebenfalls an den Seminaren teil. Generalleutnant Cheremnikh erklärte, im Falle eines westlichen Angriffs auf die Sowjetunion hätten die sowjetischen Streitkräfte in Leningrad, Petrosawodsk und Kandalakscha Finnland und möglicherweise auch die nördliche Spitze Schwedens besetzt, während die Streitkräfte in Murmansk die Provinz Finnmark im Nordosten Norwegens eingenommen hätte. Bodø und andere Luftwaffenstützpunkte in Nordnorwegen wären ausgeschaltet worden.

Als ich Cheremnikh fragte, was passiert wäre, wenn die Vereinigten Staaten schwedische Luftwaffenstützpunkte genutzt hätten, antwortete er, dass sie in diesem Fall ebenfalls zerstört worden wären, aber die Russen Schweden nicht besetzt hätten. „Die Einnahme Schwedens war nicht notwendig“, sagte er. Allerdings ist bekannt, dass die Sowjets zu dieser Zeit nicht in der Lage gewesen sind, diese Luftwaffenstützpunkte mit konventionellen Luftangriffen zu zerstören. Solche Angriffe hätten ein kontinuierliches Bombardement erfordert, und die russischen Verluste an Flugzeugen wären in diesem Fall inakzeptabel gewesen. Höchstwahrscheinlich hätten sie eher Atomwaffen eingesetzt. (2008 veröffentlichte General Bengt Gustafsson, der ehemalige schwedische Oberbefehlshaber, ein Dokument des schwedischen Geheimdienstes MUST über die sowjetischen Pläne für einen Angriff auf Nordeuropa auf der Website des in Washington und Zürich ansässigen „Parallel History Project on NATO and the Warsaw Pact“. Das Dokument enthielt ein Gespräch mit General Cheremnikh und wie sich herausstellte, war ich derjenige, der das Dokument verfasst hatte. Ich hatte es dem schwedischen Verteidigungsattaché in Oslo übergeben, und dann wurde es als MUST-Dokument präsentiert. Die Informationen aus diesem Dokument hatte ich bereits 1995 in einem Buch veröffentlicht.

Eine sowjetische Hommage an Olof Palme, hochgeladen am 15.2.2005.
(Bild:Patrick Strang, Flickr, CC BY-NC 2.0)

Schwedens Verteidigungsminister Sven Andersson (1957-1973) hatte eine geheime Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten, die vorsah, dass, bevor Schweden von den Sowjets angegriffen würde, amerikanische Flugzeuge – vom ersten Tag eines Krieges an – auf schwedischen Luftwaffenstützpunkten landen sollten. Im Falle eines Krieges an der zentralen Front hätten die in Westdeutschland stationierten US-Flugzeuge irgendwo untergebracht werden müssen, und Schweden war die beste Option für die US-Luftwaffe [8]. Die US-Flugzeuge wären bereits vor einem möglichen sowjetischen Angriff auf Schweden auf schwedischen Luftwaffenstützpunkten gelandet. Dies wurde mir von Anderssons engem Berater Ingemar Engman mitgeteilt [9] und wurde ebenfalls vom ehemaligen US-Verteidigungsminister James Schlesinger 1993 auf einer Konferenz bestätigt. Auf meine Frage, wie er Schweden einschätze, sprach er von „zwei Schweden“, von Schweden als dualem Staat, in dem „das militärische Schweden plante, dass wir so schnell wie möglich kommen“, also vor einem sowjetischen Angriff auf Schweden. Das „Politische Schweden“ mit Ministerpräsident Olof Palme (1969-76; 1982-86) hat diese Politik nicht akzeptiert. Er übergab 1976 die schwedische Vereinbarung über die Stationierung von US-Flugzeugen von „Tag eins“ an, nicht dem neuen Ministerpräsidenten Thorbjorn Fälldin. Palme muss verstanden haben, dass die Nutzung schwedischer Luftwaffenstützpunkte durch die USA in einer frühen Phase eines Krieges Schweden zu einem Ziel für sowjetische Atomraketen machen würde.

Die russische Denkweise basierte auf zwei Arten von Pufferzonen, einer „inneren Zone“ der Kontrolle und einer „äußeren Zone“ der Verweigerung, in der die Russen den US-amerikanischen oder westlichen Streitkräften den Zutritt verweigern würden. (Vgl. die Kubakrise von 1962, als die amerikanisch-russischen Beziehungen umgedreht wurden. Die USA verweigerten den Sowjets das Recht, Raketen auf Kuba zu stationieren). Dies ist in der Tat eine Parallele zu den Überlegungen der USA, wie man mit US-Flugzeugträgern operiert. Die Flugzeugträger mussten immer eine innere Zone der „Seekontrolle“ mit ihren eigenen Luftabwehrsystemen einrichten, in der die US-Marine ihre eigenen Schiffe einsetzen konnte: zum Beispiel zwei Kreuzer, zwei Zerstörer und eine Fregatte. Außerhalb dieser Zone würde man eine „See-Verweigerungs“-Zone einrichten, in der man das Recht und die Fähigkeit der gegnerischen Flugzeugträger-Battle-Groups, Operationen mit U-Booten und Flugzeugen durchzuführen, verweigern würde. Ich habe meine Doktorarbeit über das Denken der USA zur Seestrategie in den 1980er Jahren geschrieben, einschließlich des Einsatzes von Flugzeugträger-Battle-Groups in den nordischen Gewässern [10].

Das russische militärische Denken basiert auf der gleichen Idee: einer „inneren Zone der Kontrolle“ und einer „äußeren Zone der Verweigerung“. Gemäß dem finnisch-sowjetischen „Abkommen der Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung von 1948“ würde Finnland den Streitkräften der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Länder nicht gestatten, finnisches Hoheitsgebiet oder den finnischen Luftraum zu nutzen, da dies eine Bedrohung für die Sowjetunion darstellen würde. Cheremnikh sagte: „Wir hatten ein Abkommen mit den Finnen, aber wir haben ihnen nicht vertraut“. Finnland und Finnmark gehörten zur „inneren Zone“, die die Russen kontrollieren mussten, um zu überleben, während sie den Amerikanern die Möglichkeit verweigern würden, von der „äußeren Zone“ aus (im wesentlichen Schweden und Norwegen) zu operieren. Sie würden die US-Basen zerstören. Es gibt Grund zu der Annahme, dass die russische Planung heute die gleiche ist. Die Geographie hat sich nicht geändert.

Die russische Elite hat kein Interesse an der Eroberung fremder Gebiete oder der Herrschaft über andere Völker. Die Erfahrungen in Polen und Afghanistan in den 1980er Jahren oder früher in der Tschechoslowakei sprechen eine deutliche Sprache. Die heutige Generation der politischen Führung in Moskau ist sich sehr wohl bewusst, dass die Kontrolle des Territoriums anderer in Friedenszeiten nicht ohne unannehmbare Kosten möglich ist. Natürlich gibt es russische Offiziere, die von einem Großrussland träumen, so wie einige schwedische Offiziere, die von der Größe Schwedens des 17. Jahrhunderts träumen. Aber das hat nichts mit praktischer Politik zu tun. Für Russland geht es beim Einmarsch in die Ukraine nicht darum, ein Land zu erobern oder ein anderes Volk zu unterwerfen, sondern darum, eine Pufferzone zu haben, wenn die Existenz des russischen Staates bedroht ist.

Aber was ist mit den russischen Minderheiten in den postsowjetischen Staaten? Zusammen mit Russland wurden sie bekannt als „Russische Welt“ oder „Russkiy Mir“. Fühlt Russland nicht eine besondere Verantwortung für diese russischsprachigen Gebiete außerhalb Russlands? Ja, in gewisser Weise schon, aber, obwohl Kiew die russischsprachigen Gebiete Donezk und Lugansk in der Ostukraine ab 2014 beschoss – mit Tausenden toten Zivilisten – und obwohl die „neuen Republiken“ Donezk und Lugansk um die Anerkennung als Teil Russlands gebeten haben, hat Wladimir Putin sie ihnen verweigert. Für Putin war die Idee der „russischen Welt“ dem Anspruch der UN-Charta auf die Souveränität der Staaten untergeordnet. Vielleicht wollte Putin auch sicherstellen, dass die russischsprachigen Menschen in der Ostukraine nicht zu einer Minderheit werden, die von den radikalen Nationalisten aus der Westukraine dominiert werden. Die Krim ist ein ganz anderer Fall. Bereits 1991, vor der Auflösung der Sowjetunion, sprachen sich 93 % der Krim-Bevölkerung dafür aus, zu Russland und nicht zur Ukraine zu gehören. Außerdem würde Russland den Marinestützpunkt Sewastopol niemals den Vereinigten Staaten überlassen. Das Problem für die Krim war, dass Boris Jelzin 1991 mehr damit beschäftigt war, die Macht in Moskau zu ergreifen und Michail Gorbatschow auszumanövrieren, als die Risiken eines künftigen Krieges zu begrenzen.

Screenshot: Berliner Zeitung, erstellt am 22.7.2024 – 13:24:13, https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ukraine-haetten-die-istanbul-verhandlungen-den-krieg-beenden-koennen-li.2206712

Ein weiteres Indiz dafür, dass Wladimir Putin das bestehende postsowjetische Russland akzeptiert, ist die Tatsache, dass er mit den Minsker Vereinbarungen von 2015 zufrieden war. Sie boten eine Garantie für eine „neutrale Ukraine“ und die Garantie, dass der russischsprachigen Bevölkerung im Osten erlaubt werden würde, Russisch zu sprechen. Als jedoch das ukrainische Parlament 2019 erklärte, der NATO beitreten zu wollen (was im Widerspruch zum Minsker Abkommen stand) und gleichzeitig mit der Aufstockung der Streitkräfte entlang der Grenze zu Donezk und Lugansk begann, sowie danach ab Mitte Februar 2022 die Städte Donezk und Lugansk in Vorbereitung einer Offensive massiv beschoss [11], nahm Moskau dies als Kriegserklärung wahr. Bei den Verhandlungen in Istanbul im März 2022 forderte Russland eine „neutrale Ukraine“, sagte Davyd Arachamija, Leiter der ukrainischen Delegation, und fuhr fort [12]: „In der Tat war dies der wichtigste Punkt [für die Russen]. Alles andere war nur Kosmetik.“ Die Verhandlungen waren ein „Erfolg“, sagte Oleksij Arestowytsch, militärischer Berater von Präsident Selenskyj in der Delegation. [13] „Wir haben die Champagnerflasche geöffnet. Es waren rundum erfolgreiche Verhandlungen“, sagte er. Der britische Premierminister Boris Johnson reiste jedoch nach Kiew und sagte laut Arachamija [14]: „Wir sollten überhaupt nichts mit ihnen unterzeichnen und einfach kämpfen.“ Johnson forderte Kiew auf, nichts aus Russland zu akzeptieren. Hätten die Briten nicht interveniert, könnten wir heute eine neutrale Ukraine haben und eine Fortsetzung des Krieges mit einer halben Million toter Ukrainer wäre vermieden worden.

Seit dem ersten Tag der Invasion gingen die Massenmedien davon aus, dass Russland die Ukraine erobern wollte, dann aber scheiterte. Nach einer westlichen Faustregel hätte eine Besetzung jedoch mindestens eine fünfmal so große Truppe erfordert [15]: ein Soldat pro 40-50 Einwohner. Wenn man sich die russischen Erfahrungen anschaut, kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass sie eine zehnmal so große Truppe eingesetzt hätten (vgl. Tschechoslowakei 1968). Kurz gesagt: durch den Einsatz einer relativ kleinen Truppe im Februar 2022 signalisierte Russland dem Westen, dass es nicht die Absicht hatte, die Ukraine zu besetzen. Dies geht auch aus den Äußerungen von Arachamija und Arestowytsch über die Verhandlungen im März/April 2022 hervor. Russland wollte „eine neutrale Ukraine“. Man hatte nicht die Absicht, das Land zu erobern, aber man würde mit allen Mitteln die westliche Militärpräsenz in der Ukraine verhindern. Bei der russischen Militärintervention ging es nicht um die Eroberung von Territorium, sondern darum zu verhindern, dass die Ukraine zu einer 500 km von Moskau entfernten US-Bastion wird. Russland wollte eine neutrale Zone, eine Pufferzone, die das Risiko eines westlichen Überraschungsangriffs verringern würde. Denn ein solcher Angriff wäre für Russland unmöglich abzuwehren.

„Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Gehirn“, sagte Wladimir Putin im Jahr 2000 [16]. Am Tag der Invasion am 24. Februar 2022 sagte er [17]: „Wir haben alle neuen postsowjetischen Staaten mit Respekt behandelt […]. Russland respektiert die Souveränität aller postsowjetischen Staaten, und wir respektieren und werden ihre Souveränität respektieren. […] Es ist nicht unser Plan, ukrainisches Territorium zu besetzen“. Aber Russland kann eine „[westliche] Bedrohung vom Territorium der heutigen Ukraine“ nicht akzeptieren. Große Teile der Ukraine werden in einem großen Krieg zur „inneren Zone der Kontrolle“ werden, während der Rest in die „äußere Zone der Verweigerung“ fällt, in der dem Gegner der Aufbau seiner Streitkräfte verwehrt werden soll. Für Russland geht es nicht um die Wiederherstellung des Russischen Reiches oder der Sowjetunion, sondern darum, eine Pufferzone zu garantieren, um den Vereinigten Staaten eine militärische Präsenz zu verweigern. Und wenn dies nicht durch Verhandlungen erreicht werden kann, dann ist Russland bereit, eine solche Pufferzone durch den Einsatz militärischer Gewalt zu garantieren.

In einem großen europäischen Krieg stellt sich für die russischen Nachbarn die Frage, ob sie zur „inneren Zone der Kontrolle“ oder zur „äußeren Zone der Verweigerung“ gehören? Erstere laufen Gefahr, besetzt zu werden, während letztere Gefahr laufen, dass ihre Luftwaffenstützpunkte durch Raketen ausgeschaltet werden, wenn dort US-amerikanische oder britische Luftstreitkräfte stationiert sind. Die russische Seite wird so weit wie möglich konventionelle Waffen einsetzen, aber wenn ein Krieg bereits die nukleare Schwelle überschritten hat, werden wahrscheinlich auch Atomwaffen eingesetzt.

Nach den russischen Plänen für einen großen Krieg wird Russland keine Bodentruppen einsetzen, um in Schweden oder Norwegen westlich der Finnmark einzumarschieren, aber US-Luftwaffenstützpunkte und andere wichtige US-Einrichtungen werden durch russische Hyperschallraketen ausgeschaltet. Die russische Raketentechnologie hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Heute kann unser Luftverteidigungssystem viele dieser Raketen nicht ausschalten. Während das US-Denken darauf ausgelegt ist, Flugzeuge und Raketen in der Nähe des russischen Territoriums zu stationieren, um die Russen abzuschrecken und sie von „Abenteuern“ abzuhalten [18], denken die Russen an die Planungen der USA für einen Angriff auf Russland und an die Notwendigkeit, einem solchen Angriff durch einen Erstschlag zuvorzukommen. Jede Stationierung von US-Flugzeugen oder -Raketen ist daher extrem destabilisierend.

Karte der historischen Erweiterung der NATO in Europa, 7.3.2024.
(Karte: Patrickneil und Spesh531, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0-migrated)

Für die Länder in der „inneren Zone“ ist es – um einen Krieg zu verhindern – am wichtigsten, für Entspannung zu sorgen. Nachdem Finnland im April 2023 Mitglied der NATO wurde, sagte Russland, dies werde „Konsequenzen“ für Finnland haben. Ein halbes Jahr später, im Dezember 2023, erklärte Wladimir Putin, dass Russland den „Leningrader Militärbezirk“ wiederbeleben werde. Dieser Militärbezirk, der die Aufgabe hatte, die Kontrolle über Finnland zu übernehmen, wurde nach dem Kalten Krieg abgeschafft, soll nun aber aufgrund der NATO-Mitgliedschaft Finnlands wieder aufgebaut werden, um im Falle eines großen Krieges einen Angriff auf Finnland zu organisieren. Russland will die militärische Infrastruktur der USA ausschalten und Finnland und die Finnmark besetzen, und es nennt diesen neuen Militärbezirk „Leningrader Militärbezirk“ [19], um den Finnen klar zu machen, worum es geht.

Für die Sicherheit der Länder in der „äußeren Zone“ ist es für die eigene Sicherheit auch wichtig, Entspannung zu gewährleisten und zu verhindern, dass die Vereinigten Staaten Stützpunkte für Raketen und Flugzeuge errichten, die gegen Russland eingesetzt werden könnten. Das bedeutet, dass das DCA-Abkommen mit amerikanischen Stützpunkten zwangsläufig die Möglichkeit russischer Präventivschläge eröffnet. Nachdem alle NATO-Länder grünes Licht für den schwedischen NATO-Beitritt gegeben hatten, erklärte Russland, dass dies Konsequenzen für Schweden haben würde. Höchstwahrscheinlich wird Russland nun zumindest die fünf Luftwaffenstützpunkte angreifen, zu denen die Vereinigten Staaten in Schweden Zugang erhalten haben. Schweden, das bisher außerhalb der Reichweite eines russischen Angriffs in einem größeren Krieg lag, hat sich nun dafür entschieden, die Vereinigten Staaten auf seine Militärbasen einzuladen, was mit Sicherheit einen russischen Angriff auf Schweden in einer frühen Phase eines Krieges garantiert. Russland hat kein Interesse an schwedischem Territorium – abgesehen von den US-Militärbasen. Die Ignoranz der Regierung übersteigt meine Vorstellungskraft.

Bereits in den 1940er Jahren war das Risiko, dass Moskau es in einer Krisensituation für notwendig erachten könnte, einem Angriff der Vereinigten Staaten auf Russland – von Stützpunkten in Norwegen – zuvorzukommen. Dies war der Grund für die norwegische Stützpunktpolitik im Kalten Krieg ab 1949, die den Vereinigten Staaten und anderen Verbündeten das Recht auf Stützpunkte in Norwegen verweigerte. Oslo wollte russische Befürchtungen vermeiden und so die Neigung Russlands verringern, norwegisches Territorium in einem frühen Stadium eines Konflikts anzugreifen. Wir haben Grund, aus dieser Geschichte zu lernen und zu versuchen zu verstehen, was für das russische Militärdenken von zentraler Bedeutung ist. Die nordische Politik während des Kalten Krieges zielte darauf ab, die nordischen Länder in eine Region geringer Spannung zu verwandeln. Das kam uns damals zugute, und es würde uns auch heute zugute kommen. Es ist mir völlig unverständlich, warum die Regierungen in Nordeuropa in den letzten Jahren eine gegenteilige Politik betrieben haben.

[Eine kürzere Version dieses Artikels wurde am 1. Juni 2024 in der schwedischen Internet-Zeitschrift „Parabol“ veröffentlicht. Ein früherer Artikel, der ähnliche Fragen aufwirft, wurde am 4. März 2024 in der norwegischen Zeitschrift „Nordnorsk debatt“ (die zur Zeitung „Nordlys“ gehört) veröffentlicht. In den nordischen Ländern ist das Verständnis für das russische militärische Denken aufgrund des neuen DCA-Abkommens, das den Vereinigten Staaten eine bedeutende Präsenz auf Militärstützpunkten in den nordischen Ländern erlaubt, von besonderer Bedeutung].

Quellen:

[1] Regeringskansliet Schwedische Kanzlei der Ministerien „Avtal om försvarssamarbete (DCA) mellan Konungariket Sveriges regering och Amerikas förenta staters regering“, am 7,12,2023: <https://www.regeringen.se/rattsliga-dokument/sveriges-internationella-overenskommelser/2023/12/avtal-om-forsvarssamarbete-dca-mellan-konungariket-sveriges-regering-och-amerikas-forenta-staters-regering/>
[2] Regjeringen.no Norwegische Regierung, RAND Europe, James Black, Stephen Flanagan u. A. „Enhancing deterrence and defence on NATO’s northern flank“, in 2020: <https://www.regjeringen.no/contentassets/b6f5ea0d2d6248b4ae4131c554365e93/rand-rr-4381-enhancing-deterrence-and-defence-on-natos-northern-flank.pdf>
[3] Amazon, Peter Schweizer „Victory: The Reagan Administration’s Secret Strategy That Hastened the Collapse of the Soviet Union“, veröffentlicht am 1.4.1996: <https://www.amazon.com/Victory-Administrations-Strategy-Hastened-Collapse/dp/0871136333>
[4] Amazon, Rober M. Gates „Duty: Memoirs of a Secretary at War“, veröffenticht am 12.5.2015: <https://www.amazon.com/Duty-Memoirs-Secretary-at-War/dp/030794963X>
[5] Ola’s Substack, Ola Tunander „Did Russia violate International Law? Part I“, am 5.10.2023: <https://olatunander.substack.com/p/did-russia-violate-international>
[6] Medströms bokförlag (Verlag), Tomasz Awlasewicz und Mats Staffansson „De osynliga – öststaternas bästa spioner“, veröffenticht im Januar 2024: <https://www.medstromsbokforlag.com/portfolio-c17to>
[7] siehe [6]: <https://www.medstromsbokforlag.com/portfolio-c17to>
[8] Boktugg Buchinforamtionen, Ola Tunander „
Det svenska ubåtskriget“, veröffentlicht am 21.11.2019: <https://www.boktugg.se/bok/9789173291408/det-svenska-ubatskriget/>
[9] PRIO Institut für Friedensforschung (Oslo), Ola Tunander „The Informal NATO or NATO als Gemeinschaft – The Case of Sweden“, veröffentlicht in 2000: <https://www.prio.org/publications/3874>
[10] Google Books, Ola Tunander „Cold Water Politics: The Maritime Strategy and Geopolitics of the Northern Front“, veröffentlicht am 1.9.1989: <https://books.google.no/books/about/Cold_Water_Politics.html?id=njUgAAAAMAAJ&redir_esc=y>
[11] Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) „Daily Report 40/2022“, am 21.2.2022: <https://www.osce.org/files/2022-02-20-21%20Daily%20Report_ENG.pdf?itok=82567>
[12] YouTube, Stefano Orsi „Intervista a David Arakhamia: Mosca e Kiev nel marzo 2022 arrivarono ad un accordo di pace“, am 26.11.2023: <https://www.youtube.com/watch?v=TGXa89zjpDI>
[13] YouTube, UnHerd „Oleksiy Arestovych: Zelenskyy’s challenger“, am 14.1.2024: <https://www.youtube.com/watch?v=sehuAOw0-NI>
[14] siehe [12]: <https://www.youtube.com/watch?v=TGXa89zjpDI>
[15] Washingtonpost, Stephen Budiansky „A Proven Formula for How Many Troops We Need“, am 8.5.2004: <https://www.washingtonpost.com/archive/opinions/2004/05/09/a-proven-formula-for-how-many-troops-we-need/5c6dbfc9-33f8-4648-bd07-40d244a1daa4/>
[16] New York Times, Michael Wines „PATH TO POWER: A political profile.; Putin Steering to Reform, But With Soviet Discipline“, am 20.2.2000: <https://www.nytimes.com/2000/02/20/world/path-power-political-profile-putin-steering-reform-but-with-soviet-discipline.html>
[17] Consortium News, Wladimir Putin „Text von Putins Ankündigung einer Militäraktion“, am 1.3.2022: <https://consortiumnews.com/2022/03/01/text-of-putins-announcement-of-military-action/>
[18] RAND Corporation (Denkfabrik), James Black und Stephen J. Flanagan u. A. „Enhancing deterrence and defence on NATO’s northern flank“, am 25.3.2020: <https://www.rand.org/pubs/research_reports/RR4381.html>
[19] TASS Nachrichtenagentur „Finland’s accession to NATO leads to creation of Leningrad Military District — Putin“, am 17.12.2023: <https://tass.com/politics/1722431>