Das Islamische Emirat Afghanistan meldet sich mit einem Paukenschlag zurück

Der US-„Verlust“ von Afghanistan stellt gleichzeitig eine Neupositionierung dar. Die neue Mission ist kein „Krieg gegen den Terror“, sondern gegen Russland und China.

Von Published On: 26. September 2021Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 16.08.2021 auf www.asiatimes.com unter der URL <https://asiatimes.com/2021/08/the-islamic-emirate-of-afghanistan-back-with-a-bang/> veröffentlicht. Lizenz: Pepe Escobar, Asia Times, CC BY-NC-ND 4.0

Ein US-Militärhubschrauber fliegt am 15. August 2021 über der US-Botschaft in Kabul (Foto: AFP / Wakil Kohsar)

Der Saigon-Moment [1] kam schneller als jeder westliche Geheimdienst-„Experte“ erwartet hatte. Dies ist ein Ereignis für die Annalen: vier hektische Tage, die den erstaunlichsten Guerilla-Blitzkrieg der letzten Zeit beendeten. Nach afghanischer Art: viel Überzeugungsarbeit, viele Stammesabsprachen, keine Panzerkolonnen, minimale Blutverluste.

Am 12. August war es dann so weit: Ghazni, Kandahar und Herat wurden fast gleichzeitig eingenommen. Am 13. August waren die Taliban nur noch 50 Kilometer von Kabul entfernt. Der 14. August begann mit der Belagerung von Maidan Shahr, dem Eingangstor zu Kabul.

Ismail Khan, der legendäre alte Löwe von Herat, schloss einen Deal zur Selbsterhaltung ab und wurde von den Taliban als hochkarätiger Bote nach Kabul geschickt: Präsident Ashraf Ghani soll zurücktreten – sonst!

Noch am Samstag nahmen die Taliban Jalalabad ein – und isolierten Kabul vom Osten her, bis hin zur afghanisch-pakistanischen Grenze in Torkham, dem Tor zum Khyber-Pass. In der Nacht zum Samstag floh Marschall Dostum mit ein paar Militärs über die Freundschaftsbrücke in Termez nach Usbekistan; nur wenige wurden eingelassen. Die Taliban übernahmen daraufhin Dostums Palast im Tony Montana-Stil.

Am frühen Morgen des 15. August waren für die Kabuler Verwaltung nur noch das Panjshir-Tal – hoch in den Bergen, eine durch die umgebende Natur geschützte Festung – und verstreute Hazaras (persisch sprechende ethnische Gruppe, beheimatet in den Bergen zentral Afghanistans, auch Hazaristan; Anm. d. Red.) übrig. Außer Bamiyan gibt es in diesen schönen zentralen Gebieten nichts. (In Bamiyan standen, bis zu ihrer Zerstörung durch die Taliban 2001, die größten Buddha-Statuen der Welt; Anm. d. Red.) 

Ein Ausschnitt aus einem Video, das den Taliban-Führer Mullah Baradar Akhund (vorne, Mitte) mit seinen Mitstreitern am 15. August in Kabul zeigt. Der 1968 geborene Mullah Abdul Ghani Baradar, auch Mullah Baradar Akhund genannt, ist der Mitbegründer der Taliban in Afghanistan. Er war der Stellvertreter von Mullah Mohammed Omar. (Foto: AFP / Taliban / EyePress News)

Vor genau 20 Jahren war ich in Bazarak, um Kommandant Masoud zu interviewen, den Löwen des Panjshir [2], der eine Gegenoffensive gegen … die Taliban vorbereitete. Die Geschichte wiederholt sich mit einem Twist. Diesmal wurde mir ein visueller Beweis dafür geliefert, dass die Taliban – nach dem klassischen Drehbuch für Guerilla-Schläferzellen – bereits im Panjshir waren.

Am Sonntagmorgen kam es dann zu einer atemberaubenden visuellen Wiederholung des Saigon-Moments, sichtbar für die ganze Welt: ein Chinook-Hubschrauber schwebte über dem Dach der amerikanischen Botschaft in Kabul. 

„Der Krieg ist vorbei“

Noch am Sonntag verkündete Taliban-Sprecher Mohammad Naeem: „Der Krieg in Afghanistan ist vorbei“, und fügte hinzu, dass die Form der neuen Regierung bald bekannt gegeben werde.   

Die Fakten vor Ort sind weitaus verzwickter. Seit Sonntagnachmittag liefen die Verhandlungen auf Hochtouren. Die Taliban waren bereit, die offizielle Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan in seiner Version 2.0 (1.0 war von 1996 bis 2001) bekannt zu geben. Die offizielle Ankündigung sollte im Präsidentenpalast erfolgen.

Doch das, was vom Ghani-Team übrig geblieben war, weigerte sich, die Macht an einen Koordinierungsrat zu übertragen, der de facto den Übergang einleiten wird. Was die Taliban wollen, ist ein nahtloser Übergang: sie sind jetzt das Islamische Emirat von Afghanistan. Der Fall ist abgeschlossen.

Am Montag kam von Taliban-Sprecher Suhail Shaheen ein Zeichen des Kompromisses. Der neuen Regierung werden auch Nicht-Taliban-Beamte angehören. Er bezog sich dabei auf eine künftige „Übergangsverwaltung“, die höchstwahrscheinlich von Mullah Baradar, dem politischen Führer der Taliban, und Ali Ahmad Jalali, einem ehemaligen Innenminister, der in der Vergangenheit auch Mitarbeiter von Voice of America war, gemeinsam geleitet werden wird.  

Am Ende gab es keine Schlacht um Kabul. Tausende von Taliban befanden sich bereits innerhalb Kabuls – und wieder das klassische Schläferzellen-Drehbuch. Der Großteil ihrer Streitkräfte blieb in den Außenbezirken. In einer offiziellen Erklärung der Taliban wurde ihnen befohlen, nicht in die Stadt einzudringen, die kampflos eingenommen werden sollte, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.

Die Taliban rückten zwar von Westen her vor, aber „vorrücken“ bedeutete in diesem Kontext, dass sie sich mit den Schläferzellen in Kabul verbanden, die zu diesem Zeitpunkt bereits voll aktiv waren. Taktisch gesehen war Kabul in einer „Anakonda“-Bewegung eingekreist, wie ein Taliban-Kommandeur es ausdrückte: von Norden, Süden und Westen bedrängt und mit der Einnahme von Jalalabad vom Osten abgeschnitten.

Irgendwann in der vergangenen Woche muss eine hochrangige Geheimdienstquelle dem Taliban-Kommando zugeflüstert haben, dass die Amerikaner zur „Evakuierung“ kommen würden. Es könnte der pakistanische Geheimdienst oder sogar der türkische gewesen sein, wobei Erdogan sein typisches NATO-Doppelspiel getrieben hätte.

Die amerikanische Rettungskavallerie kam nicht nur zu spät, sondern befand sich auch in einer Zwickmühle, da sie ihre eigenen Helfer in Kabul unmöglich bombardieren konnte. Das schreckliche Timing wurde noch verstärkt, als der Militärstützpunkt Bagram – seit fast 20 Jahren das Walhalla der NATO in Afghanistan – schließlich von den Taliban eingenommen wurde.

Dies führte dazu, dass die USA und die NATO die Taliban buchstäblich anflehten, alles was sich in Sichtweite befand, aus Kabul evakuieren zu dürfen – auf dem Luftweg und in aller Eile, der Gnade der Taliban ausgeliefert. Eine geopolitische Entwicklung, bei der man nur fassungslos schweigen kann.

Ghani gegen Baradar

Ghanis überstürzte Flucht ist wie „ein Märchen, erzählt von einem Blöden, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“ – ohne das Shakespeare‘sche Pathos. [Escobar bezieht sich hier auf eine Stelle aus William Shakespeares „Macbeth“, 5. Akt, 5. Szene: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht. Sein Stündchen auf der Bühn‘ und dann nicht mehr vernommen wird; ein Märchen ist‘s, erzählt von einem Blöden, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“; Anm. d. Red.]. Der Kern der ganzen Angelegenheit war ein Treffen in letzter Minute am Sonntagmorgen zwischen dem ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai und Ghanis ewigem Rivalen Abdullah Abdullah.

Ghani erkannte schließlich die Zeichen an der Wand und verschwand aus dem Präsidentenpalast, ohne den potenziellen Verhandlungspartnern auch nur Bescheid zu sagen. Mit seiner Frau, seinem Stabschef und seinem nationalen Sicherheitsberater flüchtete er nach Taschkent, der usbekischen Hauptstadt. Wenige Stunden später drangen die Taliban in den Präsidentenpalast ein – und die atemberaubenden Bilder wurden gebührend festgehalten [3].

Abdullah Abdullah nahm kein Blatt vor den Mund, als er die Flucht Ghanis kommentierte: „Gott wird ihn zur Rechenschaft ziehen.“ Ghani, ein Anthropologe mit einem Doktortitel von der Columbia University, ist einer dieser klassischen Fälle von Exilanten aus dem Globalen Süden, die im Westen alles „vergessen“ haben, was für ihre ursprüngliche Heimat wichtig ist.

Ghani ist ein Paschtune, der sich wie ein arroganter New Yorker benahm. Oder schlimmer noch, ein hochnäsiger Paschtune, denn er verteufelte oft die Taliban, denen überwiegend Paschtunen angehören, ganz zu schweigen von Tadschiken, Usbeken und Hazaras, einschließlich ihrer Stammesältesten. 

Es ist als hätten Ghani und sein verwestlichtes Team nie etwas vom großen norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth gelernt, der besten Quelle in dieser Hinsicht (hier [4] finden Sie eine Auswahl seiner Studien über die Paschtunen).

Geopolitisch ist jetzt wichtig, dass die Taliban ein ganz neues Drehbuch geschrieben haben, das den Ländern des Islam und auch des globalen Südens zeigt, wie man das selbstbezogene, scheinbar unbesiegbare US/NATO-Imperium besiegen kann.

Die Taliban haben es mit islamischem Glauben sowie unendlicher Geduld und Willenskraft geschafft, rund 78.000 Kämpfer – 60.000 davon aktiv – anzuspornen. Viele mit minimaler militärischer Ausbildung und ohne staatliche Unterstützung, ganz im Gegensatz zu Vietnam, das China und die UdSSR hatte. Auch ohne Hunderte von Milliarden Dollar von der NATO, ohne ausgebildete Armee, ohne Luftwaffe und ohne modernste Technologie.

Sie verließen sich nur auf Kalaschnikows, Panzerfäuste und Toyota-Pick-ups – bevor sie in den letzten Tagen amerikanische Ausrüstung erbeuteten, darunter Drohnen und Hubschrauber.  

Taliban-Führer Mullah Baradar war äußerst vorsichtig. Am Montag sagte er: „Es ist zu früh, um zu sagen, wie wir die Regierungsgeschäfte übernehmen werden.“ Zunächst einmal wollen die Taliban „die ausländischen Truppen abziehen sehen, bevor die Umstrukturierung beginnt“.

Abdul Ghani Baradar ist eine sehr interessante Persönlichkeit. Er wurde in Kandahar geboren und wuchs dort auf. Dort begannen die Taliban 1994 mit der fast kampflosen Eroberung der Stadt und nahmen dann – ausgerüstet mit Panzern, schweren Waffen und viel Geld zur Bestechung lokaler Kommandeure – vor fast 25 Jahren, am 27. September 1996, Kabul ein.

Zuvor kämpfte Mullah Baradar in den 1980er Jahren im Dschihad gegen die UdSSR und möglicherweise – was nicht bestätigt ist – Seite an Seite mit Mullah Omar, mit dem er die Taliban mitbegründete.

Nach den amerikanischen Bombenangriffen und der Besetzung des Landes nach 9/11 unterbreiteten Mullah Baradar und eine kleine Gruppe von Taliban dem damaligen Präsidenten Hamid Karzai einen Vorschlag für ein mögliches Abkommen, das den Taliban die Anerkennung des neuen Regimes ermöglichen würde. Unter dem Druck Washingtons lehnte Karsai diesen Vorschlag ab.

Baradar wurde 2010 in Pakistan verhaftet – und in Haft gehalten. Ob Sie es glauben oder nicht: auf amerikanische Intervention hin kam er 2018 wieder frei. Danach zog er nach Katar um. Dort wurde er zum Leiter des politischen Büros der Taliban ernannt und beaufsichtigte die Unterzeichnung des amerikanischen Rückzugsabkommens im vergangenen Jahr.

Baradar wird der neue Herrscher in Kabul sein. Aber es ist wichtig anzumerken, dass er seit 2016 der Autorität des obersten Führers der Taliban, Haibatullah Akhundzada, untersteht. Es ist der Oberste Führer – eigentlich ein spiritueller Führer – der über die neue Inkarnation des Islamischen Emirats von Afghanistan herrschen wird.

Mullah Haibatullah Akhundzada posiert 2016 für ein Foto an einem ungenannten Ort (Foto: AFP / Afghanische Taliban)

Vorsicht vor einer bäuerlichen Guerilla-Armee

Der Zusammenbruch der Afghanischen Nationalen Armee (ANA) war unvermeidlich. Sie wurde nach Art des amerikanischen Militärs „ausgebildet“: massive Technologie, massive Luftstreitkräfte, so gut wie keine Informationen vor Ort.

Bei den Taliban geht es vor allem um Absprachen mit Stammesältesten und ausgedehnte familiäre Verbindungen – und um einen bäuerlichen Guerilla-Ansatz, ähnlich wie bei den Kommunisten in Vietnam. Sie haben jahrelang auf den richtigen Zeitpunkt gewartet und in der Zeit einfach nur Verbindungen aufgebaut – und diese Schläferzellen.

Die afghanischen Truppen, die seit Monaten keinen Sold mehr erhalten hatten, wurden [von den Taliban] dafür bezahlt, nicht gegen sie zu kämpfen. Und die Tatsache, dass sie die amerikanischen Truppen seit Februar 2020 nicht mehr angegriffen haben, hat ihnen zusätzlichen Respekt eingebracht: eine Frage der Ehre, die im paschtunischen Kodex eine essenzielle Rolle spielt.

Es ist unmöglich, die Taliban – und vor allem das paschtunische Universum – zu verstehen, ohne Paschtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen, zählt zu den sog. Stammesgesetzen; Anm. d. Red.) zu kennen. Neben den Konzepten der Ehre, der Gastfreundschaft und der unvermeidlichen Rache für jegliches Fehlverhalten impliziert das Konzept der Freiheit, dass kein Paschtune geneigt ist, sich von einer zentralen staatlichen Autorität – in diesem Fall Kabul – etwas befehlen zu lassen. Und auf keinen Fall werden sie jemals ihre Waffen abgeben.

Das ist im Wesentlichen das „Geheimnis“ des rasanten Blitzkriegs mit minimalem Blutverlust, der in das übergreifende geopolitische Erdbeben eingebaut ist. 

Nach Vietnam ist dies der zweite Protagonist des Globalen Südens, der der ganzen Welt zeigt, wie ein Imperium durch eine bäuerliche Guerillaarmee besiegt werden kann.

Und das alles mit einem Budget, das 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr nicht überschreiten darf – und das aus lokalen Steuern, Gewinnen aus Opiumexporten (kein interner Vertrieb erlaubt) und Immobilienspekulationen stammt. In weiten Teilen Afghanistans waren die Taliban bereits de facto für die lokale Sicherheit, die lokalen Gerichte und sogar die Lebensmittelverteilung zuständig.  

Die Taliban von 2021 sind etwas ganz Anderes als die Taliban von 2001. Sie sind nicht nur kampfgestählt, sondern hatten auch reichlich Zeit, ihr diplomatisches Geschick zu perfektionieren, was kürzlich in Doha und bei hochrangigen Besuchen in Teheran, Moskau und Tianjin mehr als deutlich wurde.

Sie wissen ganz genau, dass jede Verbindung zu Al-Qaida-Überbleibseln, ISIS/Daesh, ISIS-Khorasan und ETIM kontraproduktiv ist – wie ihre Gesprächspartner bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit sehr deutlich gemacht haben.

Interne Einigkeit wird ohnehin nur sehr schwer zu erreichen sein. Das afghanische Stammesgeflecht ist ein Puzzle, das kaum zu knacken ist. Die Taliban können realistischerweise eine lose Konföderation von Stämmen und ethnischen Gruppen unter einem Taliban-Emir, verbunden mit einer sehr sorgfältigen Verwaltung der sozialen Beziehungen, erreichen.

Die ersten Eindrücke deuten auf eine größere Reife hin. Die Taliban gewähren den Mitarbeitern der NATO-Besatzung Amnestie und werden sich nicht in die Geschäftstätigkeit einmischen. Es wird keinen Rachefeldzug geben. Kabul ist wieder im Geschäft. Angeblich gibt es in der Hauptstadt keine Massenhysterie: das war die ausschließliche Domäne der anglo-amerikanischen Mainstream-Medien. Die russische und die chinesische Botschaft sind weiterhin für Geschäfte geöffnet.

Zamir Kabulov, der Sonderbeauftragte des Kremls für Afghanistan, bestätigte, dass die Lage in Kabul überraschenderweise „absolut ruhig“ ist – auch wenn er wiederholte: „Wir haben keine Eile, was die Anerkennung [der Taliban] angeht. Wir werden abwarten und beobachten, wie sich das Regime verhalten wird.“

Die neue Achse des Bösen

Tony Blinken mag plappern, dass „wir nur aus einem Grund in Afghanistan waren – um mit den Leuten fertig zu werden, die uns am 11.9. angegriffen haben“.

US-Außenminister Antony Blinken (Foto: AFP / Patrick Semansky)

Jeder ernsthafte Analytiker weiß, dass der „vorrangige“ geopolitische Zweck der Bombardierung und Besetzung Afghanistans vor fast 20 Jahren darin bestand, ein wesentliches Stützpunktimperium im strategischen Schnittpunkt von Zentral- und Südasien zu errichten, das später mit der Besetzung des Irak in Südwestasien gekoppelt wurde.

Nun sollte der „Verlust“ Afghanistans als eine Neupositionierung interpretiert werden. Er passt in die neue geopolitische Konfiguration, in der die oberste Aufgabe des Pentagons nicht mehr der „Krieg gegen den Terror“ ist, sondern der Versuch, Russland zu isolieren und China mit allen Mitteln bei der Ausweitung der Neuen Seidenstraßen zu schikanieren.

Die Besetzung kleinerer Länder hat keine Priorität mehr. Das Imperium des Chaos kann von seinem CENTCOM-Stützpunkt in Katar aus jederzeit Chaos schüren – und verschiedene Bombenangriffe beaufsichtigen.

Der Iran steht kurz davor, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit als Vollmitglied beizutreten – ein weiterer „Game Changer“. Schon vor der Neuordnung des Islamischen Emirats haben die Taliban sorgfältig gute Beziehungen zu den wichtigsten Akteuren in Eurasien gepflegt – Russland, China, Pakistan, Iran und den zentralasiatischen Staaten. Die zentralasiatischen Staaten stehen unter dem vollen Schutz Russlands. Peking plant bereits ein umfangreiches Geschäft mit seltenen Erden mit den Taliban.

An der atlantischen Front wird das Spektakel der ununterbrochenen Selbstbeschuldigung den Beltway noch sehr lange beschäftigen. Zwei Jahrzehnte, zwei Billionen Dollar, ein ewiges Kriegsdebakel mit Chaos, Tod und Zerstörung, ein immer noch zerrüttetes Afghanistan, ein Abzug buchstäblich mitten in der Nacht – wofür? Die einzigen „Gewinner“ waren die Herren des Waffenhandels.  

Doch jede amerikanische Handlung braucht einen Sündenbock. Die NATO wurde soeben auf dem Friedhof der Imperien von einem Haufen Ziegenhirten kosmisch gedemütigt – und nicht etwa durch Begegnungen mit Herrn Khinzal [5]. Was bleibt übrig? Propaganda.

Bitte sehr, der neue Sündenbock: die neue Achse des Bösen. Die Achse ist Taliban-Pakistan-China. Das neue große Spiel in Eurasien wurde gerade neu gestartet.

Quellen:

[1] Asia Times, Pepe Escobar „A Saigon moment looms in Kabul“, am 13.08.2021, <https://asiatimes.com/2021/08/a-saigon-moment-looms-in-kabul/>

[2] Asia Times, Pepe Escobar „Masoud: From warrior to statesman“, am 12.09.2001, <https://asiatimes.com/2001/09/masoud-from-warrior-to-statesman/>

[3]  Al Jazeera, In Pictures, Gallery, Photos: Taliban takes control of Afghan presidential palace, am 15.08.2021, <https://www.aljazeera.com/gallery/2021/8/15/in-pictures-taliban-fighters-enter-afghan-presidential-palace>

[4] Fredric Barth, „Pathan Identity and its Maintenance“ In: Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Bergen: Universitets Forlaget, 1969, 117-134. (Part 2) <http://newdoc.nccu.edu.tw/teasyllabus/113721265905/Barth%20Pathan%20Identity.pdf>

[5] Wikipedia, „Kh-47M2 Kinzhal“, am 26.08.2021, <https://en.wikipedia.org/wiki/Kh-47M2_Kinzhal>

Das Islamische Emirat Afghanistan meldet sich mit einem Paukenschlag zurück

Der US-„Verlust“ von Afghanistan stellt gleichzeitig eine Neupositionierung dar. Die neue Mission ist kein „Krieg gegen den Terror“, sondern gegen Russland und China.

Von Published On: 26. September 2021Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 16.08.2021 auf www.asiatimes.com unter der URL <https://asiatimes.com/2021/08/the-islamic-emirate-of-afghanistan-back-with-a-bang/> veröffentlicht. Lizenz: Pepe Escobar, Asia Times, CC BY-NC-ND 4.0

Ein US-Militärhubschrauber fliegt am 15. August 2021 über der US-Botschaft in Kabul (Foto: AFP / Wakil Kohsar)

Der Saigon-Moment [1] kam schneller als jeder westliche Geheimdienst-„Experte“ erwartet hatte. Dies ist ein Ereignis für die Annalen: vier hektische Tage, die den erstaunlichsten Guerilla-Blitzkrieg der letzten Zeit beendeten. Nach afghanischer Art: viel Überzeugungsarbeit, viele Stammesabsprachen, keine Panzerkolonnen, minimale Blutverluste.

Am 12. August war es dann so weit: Ghazni, Kandahar und Herat wurden fast gleichzeitig eingenommen. Am 13. August waren die Taliban nur noch 50 Kilometer von Kabul entfernt. Der 14. August begann mit der Belagerung von Maidan Shahr, dem Eingangstor zu Kabul.

Ismail Khan, der legendäre alte Löwe von Herat, schloss einen Deal zur Selbsterhaltung ab und wurde von den Taliban als hochkarätiger Bote nach Kabul geschickt: Präsident Ashraf Ghani soll zurücktreten – sonst!

Noch am Samstag nahmen die Taliban Jalalabad ein – und isolierten Kabul vom Osten her, bis hin zur afghanisch-pakistanischen Grenze in Torkham, dem Tor zum Khyber-Pass. In der Nacht zum Samstag floh Marschall Dostum mit ein paar Militärs über die Freundschaftsbrücke in Termez nach Usbekistan; nur wenige wurden eingelassen. Die Taliban übernahmen daraufhin Dostums Palast im Tony Montana-Stil.

Am frühen Morgen des 15. August waren für die Kabuler Verwaltung nur noch das Panjshir-Tal – hoch in den Bergen, eine durch die umgebende Natur geschützte Festung – und verstreute Hazaras (persisch sprechende ethnische Gruppe, beheimatet in den Bergen zentral Afghanistans, auch Hazaristan; Anm. d. Red.) übrig. Außer Bamiyan gibt es in diesen schönen zentralen Gebieten nichts. (In Bamiyan standen, bis zu ihrer Zerstörung durch die Taliban 2001, die größten Buddha-Statuen der Welt; Anm. d. Red.) 

Ein Ausschnitt aus einem Video, das den Taliban-Führer Mullah Baradar Akhund (vorne, Mitte) mit seinen Mitstreitern am 15. August in Kabul zeigt. Der 1968 geborene Mullah Abdul Ghani Baradar, auch Mullah Baradar Akhund genannt, ist der Mitbegründer der Taliban in Afghanistan. Er war der Stellvertreter von Mullah Mohammed Omar. (Foto: AFP / Taliban / EyePress News)

Vor genau 20 Jahren war ich in Bazarak, um Kommandant Masoud zu interviewen, den Löwen des Panjshir [2], der eine Gegenoffensive gegen … die Taliban vorbereitete. Die Geschichte wiederholt sich mit einem Twist. Diesmal wurde mir ein visueller Beweis dafür geliefert, dass die Taliban – nach dem klassischen Drehbuch für Guerilla-Schläferzellen – bereits im Panjshir waren.

Am Sonntagmorgen kam es dann zu einer atemberaubenden visuellen Wiederholung des Saigon-Moments, sichtbar für die ganze Welt: ein Chinook-Hubschrauber schwebte über dem Dach der amerikanischen Botschaft in Kabul. 

„Der Krieg ist vorbei“

Noch am Sonntag verkündete Taliban-Sprecher Mohammad Naeem: „Der Krieg in Afghanistan ist vorbei“, und fügte hinzu, dass die Form der neuen Regierung bald bekannt gegeben werde.   

Die Fakten vor Ort sind weitaus verzwickter. Seit Sonntagnachmittag liefen die Verhandlungen auf Hochtouren. Die Taliban waren bereit, die offizielle Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan in seiner Version 2.0 (1.0 war von 1996 bis 2001) bekannt zu geben. Die offizielle Ankündigung sollte im Präsidentenpalast erfolgen.

Doch das, was vom Ghani-Team übrig geblieben war, weigerte sich, die Macht an einen Koordinierungsrat zu übertragen, der de facto den Übergang einleiten wird. Was die Taliban wollen, ist ein nahtloser Übergang: sie sind jetzt das Islamische Emirat von Afghanistan. Der Fall ist abgeschlossen.

Am Montag kam von Taliban-Sprecher Suhail Shaheen ein Zeichen des Kompromisses. Der neuen Regierung werden auch Nicht-Taliban-Beamte angehören. Er bezog sich dabei auf eine künftige „Übergangsverwaltung“, die höchstwahrscheinlich von Mullah Baradar, dem politischen Führer der Taliban, und Ali Ahmad Jalali, einem ehemaligen Innenminister, der in der Vergangenheit auch Mitarbeiter von Voice of America war, gemeinsam geleitet werden wird.  

Am Ende gab es keine Schlacht um Kabul. Tausende von Taliban befanden sich bereits innerhalb Kabuls – und wieder das klassische Schläferzellen-Drehbuch. Der Großteil ihrer Streitkräfte blieb in den Außenbezirken. In einer offiziellen Erklärung der Taliban wurde ihnen befohlen, nicht in die Stadt einzudringen, die kampflos eingenommen werden sollte, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden.

Die Taliban rückten zwar von Westen her vor, aber „vorrücken“ bedeutete in diesem Kontext, dass sie sich mit den Schläferzellen in Kabul verbanden, die zu diesem Zeitpunkt bereits voll aktiv waren. Taktisch gesehen war Kabul in einer „Anakonda“-Bewegung eingekreist, wie ein Taliban-Kommandeur es ausdrückte: von Norden, Süden und Westen bedrängt und mit der Einnahme von Jalalabad vom Osten abgeschnitten.

Irgendwann in der vergangenen Woche muss eine hochrangige Geheimdienstquelle dem Taliban-Kommando zugeflüstert haben, dass die Amerikaner zur „Evakuierung“ kommen würden. Es könnte der pakistanische Geheimdienst oder sogar der türkische gewesen sein, wobei Erdogan sein typisches NATO-Doppelspiel getrieben hätte.

Die amerikanische Rettungskavallerie kam nicht nur zu spät, sondern befand sich auch in einer Zwickmühle, da sie ihre eigenen Helfer in Kabul unmöglich bombardieren konnte. Das schreckliche Timing wurde noch verstärkt, als der Militärstützpunkt Bagram – seit fast 20 Jahren das Walhalla der NATO in Afghanistan – schließlich von den Taliban eingenommen wurde.

Dies führte dazu, dass die USA und die NATO die Taliban buchstäblich anflehten, alles was sich in Sichtweite befand, aus Kabul evakuieren zu dürfen – auf dem Luftweg und in aller Eile, der Gnade der Taliban ausgeliefert. Eine geopolitische Entwicklung, bei der man nur fassungslos schweigen kann.

Ghani gegen Baradar

Ghanis überstürzte Flucht ist wie „ein Märchen, erzählt von einem Blöden, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“ – ohne das Shakespeare‘sche Pathos. [Escobar bezieht sich hier auf eine Stelle aus William Shakespeares „Macbeth“, 5. Akt, 5. Szene: „Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild, ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht. Sein Stündchen auf der Bühn‘ und dann nicht mehr vernommen wird; ein Märchen ist‘s, erzählt von einem Blöden, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet“; Anm. d. Red.]. Der Kern der ganzen Angelegenheit war ein Treffen in letzter Minute am Sonntagmorgen zwischen dem ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai und Ghanis ewigem Rivalen Abdullah Abdullah.

Ghani erkannte schließlich die Zeichen an der Wand und verschwand aus dem Präsidentenpalast, ohne den potenziellen Verhandlungspartnern auch nur Bescheid zu sagen. Mit seiner Frau, seinem Stabschef und seinem nationalen Sicherheitsberater flüchtete er nach Taschkent, der usbekischen Hauptstadt. Wenige Stunden später drangen die Taliban in den Präsidentenpalast ein – und die atemberaubenden Bilder wurden gebührend festgehalten [3].

Abdullah Abdullah nahm kein Blatt vor den Mund, als er die Flucht Ghanis kommentierte: „Gott wird ihn zur Rechenschaft ziehen.“ Ghani, ein Anthropologe mit einem Doktortitel von der Columbia University, ist einer dieser klassischen Fälle von Exilanten aus dem Globalen Süden, die im Westen alles „vergessen“ haben, was für ihre ursprüngliche Heimat wichtig ist.

Ghani ist ein Paschtune, der sich wie ein arroganter New Yorker benahm. Oder schlimmer noch, ein hochnäsiger Paschtune, denn er verteufelte oft die Taliban, denen überwiegend Paschtunen angehören, ganz zu schweigen von Tadschiken, Usbeken und Hazaras, einschließlich ihrer Stammesältesten. 

Es ist als hätten Ghani und sein verwestlichtes Team nie etwas vom großen norwegischen Sozialanthropologen Fredrik Barth gelernt, der besten Quelle in dieser Hinsicht (hier [4] finden Sie eine Auswahl seiner Studien über die Paschtunen).

Geopolitisch ist jetzt wichtig, dass die Taliban ein ganz neues Drehbuch geschrieben haben, das den Ländern des Islam und auch des globalen Südens zeigt, wie man das selbstbezogene, scheinbar unbesiegbare US/NATO-Imperium besiegen kann.

Die Taliban haben es mit islamischem Glauben sowie unendlicher Geduld und Willenskraft geschafft, rund 78.000 Kämpfer – 60.000 davon aktiv – anzuspornen. Viele mit minimaler militärischer Ausbildung und ohne staatliche Unterstützung, ganz im Gegensatz zu Vietnam, das China und die UdSSR hatte. Auch ohne Hunderte von Milliarden Dollar von der NATO, ohne ausgebildete Armee, ohne Luftwaffe und ohne modernste Technologie.

Sie verließen sich nur auf Kalaschnikows, Panzerfäuste und Toyota-Pick-ups – bevor sie in den letzten Tagen amerikanische Ausrüstung erbeuteten, darunter Drohnen und Hubschrauber.  

Taliban-Führer Mullah Baradar war äußerst vorsichtig. Am Montag sagte er: „Es ist zu früh, um zu sagen, wie wir die Regierungsgeschäfte übernehmen werden.“ Zunächst einmal wollen die Taliban „die ausländischen Truppen abziehen sehen, bevor die Umstrukturierung beginnt“.

Abdul Ghani Baradar ist eine sehr interessante Persönlichkeit. Er wurde in Kandahar geboren und wuchs dort auf. Dort begannen die Taliban 1994 mit der fast kampflosen Eroberung der Stadt und nahmen dann – ausgerüstet mit Panzern, schweren Waffen und viel Geld zur Bestechung lokaler Kommandeure – vor fast 25 Jahren, am 27. September 1996, Kabul ein.

Zuvor kämpfte Mullah Baradar in den 1980er Jahren im Dschihad gegen die UdSSR und möglicherweise – was nicht bestätigt ist – Seite an Seite mit Mullah Omar, mit dem er die Taliban mitbegründete.

Nach den amerikanischen Bombenangriffen und der Besetzung des Landes nach 9/11 unterbreiteten Mullah Baradar und eine kleine Gruppe von Taliban dem damaligen Präsidenten Hamid Karzai einen Vorschlag für ein mögliches Abkommen, das den Taliban die Anerkennung des neuen Regimes ermöglichen würde. Unter dem Druck Washingtons lehnte Karsai diesen Vorschlag ab.

Baradar wurde 2010 in Pakistan verhaftet – und in Haft gehalten. Ob Sie es glauben oder nicht: auf amerikanische Intervention hin kam er 2018 wieder frei. Danach zog er nach Katar um. Dort wurde er zum Leiter des politischen Büros der Taliban ernannt und beaufsichtigte die Unterzeichnung des amerikanischen Rückzugsabkommens im vergangenen Jahr.

Baradar wird der neue Herrscher in Kabul sein. Aber es ist wichtig anzumerken, dass er seit 2016 der Autorität des obersten Führers der Taliban, Haibatullah Akhundzada, untersteht. Es ist der Oberste Führer – eigentlich ein spiritueller Führer – der über die neue Inkarnation des Islamischen Emirats von Afghanistan herrschen wird.

Mullah Haibatullah Akhundzada posiert 2016 für ein Foto an einem ungenannten Ort (Foto: AFP / Afghanische Taliban)

Vorsicht vor einer bäuerlichen Guerilla-Armee

Der Zusammenbruch der Afghanischen Nationalen Armee (ANA) war unvermeidlich. Sie wurde nach Art des amerikanischen Militärs „ausgebildet“: massive Technologie, massive Luftstreitkräfte, so gut wie keine Informationen vor Ort.

Bei den Taliban geht es vor allem um Absprachen mit Stammesältesten und ausgedehnte familiäre Verbindungen – und um einen bäuerlichen Guerilla-Ansatz, ähnlich wie bei den Kommunisten in Vietnam. Sie haben jahrelang auf den richtigen Zeitpunkt gewartet und in der Zeit einfach nur Verbindungen aufgebaut – und diese Schläferzellen.

Die afghanischen Truppen, die seit Monaten keinen Sold mehr erhalten hatten, wurden [von den Taliban] dafür bezahlt, nicht gegen sie zu kämpfen. Und die Tatsache, dass sie die amerikanischen Truppen seit Februar 2020 nicht mehr angegriffen haben, hat ihnen zusätzlichen Respekt eingebracht: eine Frage der Ehre, die im paschtunischen Kodex eine essenzielle Rolle spielt.

Es ist unmöglich, die Taliban – und vor allem das paschtunische Universum – zu verstehen, ohne Paschtunwali (Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen, zählt zu den sog. Stammesgesetzen; Anm. d. Red.) zu kennen. Neben den Konzepten der Ehre, der Gastfreundschaft und der unvermeidlichen Rache für jegliches Fehlverhalten impliziert das Konzept der Freiheit, dass kein Paschtune geneigt ist, sich von einer zentralen staatlichen Autorität – in diesem Fall Kabul – etwas befehlen zu lassen. Und auf keinen Fall werden sie jemals ihre Waffen abgeben.

Das ist im Wesentlichen das „Geheimnis“ des rasanten Blitzkriegs mit minimalem Blutverlust, der in das übergreifende geopolitische Erdbeben eingebaut ist. 

Nach Vietnam ist dies der zweite Protagonist des Globalen Südens, der der ganzen Welt zeigt, wie ein Imperium durch eine bäuerliche Guerillaarmee besiegt werden kann.

Und das alles mit einem Budget, das 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr nicht überschreiten darf – und das aus lokalen Steuern, Gewinnen aus Opiumexporten (kein interner Vertrieb erlaubt) und Immobilienspekulationen stammt. In weiten Teilen Afghanistans waren die Taliban bereits de facto für die lokale Sicherheit, die lokalen Gerichte und sogar die Lebensmittelverteilung zuständig.  

Die Taliban von 2021 sind etwas ganz Anderes als die Taliban von 2001. Sie sind nicht nur kampfgestählt, sondern hatten auch reichlich Zeit, ihr diplomatisches Geschick zu perfektionieren, was kürzlich in Doha und bei hochrangigen Besuchen in Teheran, Moskau und Tianjin mehr als deutlich wurde.

Sie wissen ganz genau, dass jede Verbindung zu Al-Qaida-Überbleibseln, ISIS/Daesh, ISIS-Khorasan und ETIM kontraproduktiv ist – wie ihre Gesprächspartner bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit sehr deutlich gemacht haben.

Interne Einigkeit wird ohnehin nur sehr schwer zu erreichen sein. Das afghanische Stammesgeflecht ist ein Puzzle, das kaum zu knacken ist. Die Taliban können realistischerweise eine lose Konföderation von Stämmen und ethnischen Gruppen unter einem Taliban-Emir, verbunden mit einer sehr sorgfältigen Verwaltung der sozialen Beziehungen, erreichen.

Die ersten Eindrücke deuten auf eine größere Reife hin. Die Taliban gewähren den Mitarbeitern der NATO-Besatzung Amnestie und werden sich nicht in die Geschäftstätigkeit einmischen. Es wird keinen Rachefeldzug geben. Kabul ist wieder im Geschäft. Angeblich gibt es in der Hauptstadt keine Massenhysterie: das war die ausschließliche Domäne der anglo-amerikanischen Mainstream-Medien. Die russische und die chinesische Botschaft sind weiterhin für Geschäfte geöffnet.

Zamir Kabulov, der Sonderbeauftragte des Kremls für Afghanistan, bestätigte, dass die Lage in Kabul überraschenderweise „absolut ruhig“ ist – auch wenn er wiederholte: „Wir haben keine Eile, was die Anerkennung [der Taliban] angeht. Wir werden abwarten und beobachten, wie sich das Regime verhalten wird.“

Die neue Achse des Bösen

Tony Blinken mag plappern, dass „wir nur aus einem Grund in Afghanistan waren – um mit den Leuten fertig zu werden, die uns am 11.9. angegriffen haben“.

US-Außenminister Antony Blinken (Foto: AFP / Patrick Semansky)

Jeder ernsthafte Analytiker weiß, dass der „vorrangige“ geopolitische Zweck der Bombardierung und Besetzung Afghanistans vor fast 20 Jahren darin bestand, ein wesentliches Stützpunktimperium im strategischen Schnittpunkt von Zentral- und Südasien zu errichten, das später mit der Besetzung des Irak in Südwestasien gekoppelt wurde.

Nun sollte der „Verlust“ Afghanistans als eine Neupositionierung interpretiert werden. Er passt in die neue geopolitische Konfiguration, in der die oberste Aufgabe des Pentagons nicht mehr der „Krieg gegen den Terror“ ist, sondern der Versuch, Russland zu isolieren und China mit allen Mitteln bei der Ausweitung der Neuen Seidenstraßen zu schikanieren.

Die Besetzung kleinerer Länder hat keine Priorität mehr. Das Imperium des Chaos kann von seinem CENTCOM-Stützpunkt in Katar aus jederzeit Chaos schüren – und verschiedene Bombenangriffe beaufsichtigen.

Der Iran steht kurz davor, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit als Vollmitglied beizutreten – ein weiterer „Game Changer“. Schon vor der Neuordnung des Islamischen Emirats haben die Taliban sorgfältig gute Beziehungen zu den wichtigsten Akteuren in Eurasien gepflegt – Russland, China, Pakistan, Iran und den zentralasiatischen Staaten. Die zentralasiatischen Staaten stehen unter dem vollen Schutz Russlands. Peking plant bereits ein umfangreiches Geschäft mit seltenen Erden mit den Taliban.

An der atlantischen Front wird das Spektakel der ununterbrochenen Selbstbeschuldigung den Beltway noch sehr lange beschäftigen. Zwei Jahrzehnte, zwei Billionen Dollar, ein ewiges Kriegsdebakel mit Chaos, Tod und Zerstörung, ein immer noch zerrüttetes Afghanistan, ein Abzug buchstäblich mitten in der Nacht – wofür? Die einzigen „Gewinner“ waren die Herren des Waffenhandels.  

Doch jede amerikanische Handlung braucht einen Sündenbock. Die NATO wurde soeben auf dem Friedhof der Imperien von einem Haufen Ziegenhirten kosmisch gedemütigt – und nicht etwa durch Begegnungen mit Herrn Khinzal [5]. Was bleibt übrig? Propaganda.

Bitte sehr, der neue Sündenbock: die neue Achse des Bösen. Die Achse ist Taliban-Pakistan-China. Das neue große Spiel in Eurasien wurde gerade neu gestartet.

Quellen:

[1] Asia Times, Pepe Escobar „A Saigon moment looms in Kabul“, am 13.08.2021, <https://asiatimes.com/2021/08/a-saigon-moment-looms-in-kabul/>

[2] Asia Times, Pepe Escobar „Masoud: From warrior to statesman“, am 12.09.2001, <https://asiatimes.com/2001/09/masoud-from-warrior-to-statesman/>

[3]  Al Jazeera, In Pictures, Gallery, Photos: Taliban takes control of Afghan presidential palace, am 15.08.2021, <https://www.aljazeera.com/gallery/2021/8/15/in-pictures-taliban-fighters-enter-afghan-presidential-palace>

[4] Fredric Barth, „Pathan Identity and its Maintenance“ In: Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Bergen: Universitets Forlaget, 1969, 117-134. (Part 2) <http://newdoc.nccu.edu.tw/teasyllabus/113721265905/Barth%20Pathan%20Identity.pdf>

[5] Wikipedia, „Kh-47M2 Kinzhal“, am 26.08.2021, <https://en.wikipedia.org/wiki/Kh-47M2_Kinzhal>