Das große Gesetz des Friedens

Das große Gesetz des Friedens hat den Sechs Nationen über Jahrhunderte Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit gebracht. Es war ein ausgeklügeltes Modell, welches auf Konsens, Respekt, Fairness und einem Gleichgewicht zwischen Mann und Frau beruhte und der Souveränität und Freiheit des Einzelnen große Bedeutung einräumte. Diese alten, indigenen Prinzipien des nordamerikanischen Nationenbündnisses der Irokesen können uns bei der Transformation in eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung den Weg weisen.

Von Published On: 10. März 2023Kategorien: Utopie

Dieser Text wurde zuerst am 19.02.2021 auf https://blog.bastian-barucker.de/ unter der URL <https://blog.bastian-barucker.de/das-grosse-gesetz-des-friedens/> veröffentlicht. Lizenz: © Bastian Barucker

San-Gemeinschaft (andere Bezeichnung: Buschleute) aus dem südlichen Afrika. Wie alle unspezialisierten Wildbeuter leben die San in kleinen Gruppen von rund 30 bis 40 Menschen (Foto: Aino Tuominen, Pixabay.com, Pixabay License)

Mir stellt sich die Frage, wie wir das gescheiterte Demokratiemodell reparieren oder revolutionieren, um wirklich zu einem besseren gemeinsamen Leben zu gelangen. Vorwürfe oder Kritik an unserem aktuellen Gesellschaftsmodell sind legitim und aktuell besonders wichtig, genauso wichtig ist jedoch die Vision einer anderen Art des Zusammenlebens. So können wir mit der Kraft einer Vision für etwas Besseres die nächsten Schritte in die Zukunft gehen und somit diese zum Wohle aller gestalten. Dafür braucht es meiner Ansicht nach die Offenheit radikal, also an die Wurzel gehend, zu forschen – so wie es in der einzigen deutschen Doktorarbeit geschrieben steht, die sich ausschliesslich und umfangreich dem Thema der irokesischen Demokratie widmet.

„Die auch unter Intellektuellen weit verbreitete Abwehr des Gedankens, demokratische Regierungsformen könnten einen anderen historischen und geographischen Ort als die europäische Antike haben, stellt eine Barriere dar, die überwunden werden muss,… [1]”

Die Genialität der Primitiven

Ich habe mich in den letzten 18 Jahren fast ausschließlich mit dem praktischen und theoretischen Studium „primitiver“ Kulturen beschäftigt. Primitiv heißt in dem Kontext: Menschen, die erdverbunden und gemeinschaftlich zusammen leben und ihr Leben meist größtenteils als Jäger und Sammlerinnen gestalten. Diese „Primitiven“ brauchten ca. 3,5h Arbeitszeit pro Tag, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen und widmeten sich dann der Entspannung, dem Spiel, dem Gesang, den Kindern und der Gemeinschaft. Klingt nach einer erstrebenswerten Life-Work-Balance, oder? Der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlin veröffentlichte 1972 ein bemerkenswertes Buch mit den Namen „Stone Age Economics“ [2]. In diesem veröffentlichte er seine Forschungsergebnisse zur steinzeitlichen Ökonomie. In einem Zeitungsartikel dazu heißt es:

„Unser Bild vom kärglich-harten Steinzeitleben müsse vollständig revidiert werden. Ja, es sei vielmehr die heutige Gesellschaft, in der die Knappheit ein institutionalisiertes Wirtschaftsprinzip darstellt! Im Gegensatz zur zivilisierten Welt, wo ein riesiger Teil der Bevölkerung jeden Abend hungrig ins Bett geht, kennen traditionell lebende Jäger und Sammlerinnen wie die Kalahari-Buschleute oder die australischen Aborigines Hunger höchstens als eine außergewöhnliche, bald vorübergehende Erscheinung, die so gut wie niemals lebensgefährliche Ausmaße annimmt. [3]”

Diese ursprüngliche Lebensweise ist auch unser Erbe, und wir lebten eng verbunden mit der Natur und mit großer Wertschätzung für ihre Geschenke, heutzutage Ressourcen genannt, für ca. 98% unserer Geschichte als Homo Sapiens.Von großer Bedeutung für die weiteren Ausführungen ist es, zu verinnerlichen, dass diese alte Lebensweise ein intensives Gefühl der Naturverbundenheit kultivierte und diese Verbindung und die damit einhergehende Wertschätzung für die Erde gelebte Grundlage einer primitiven Gesellschaft ist. Jägern und Sammlerinnen ist nicht nur intellektuell verständlich, sondern vor allem ganzheitlich bewusst, dass sie die Natur weder beherrschen noch erobern können. Sie befinden sich nicht im Kampf gegen die Natur, sondern in bestmöglicher Balance mit ihr. Ihre Lebensweise lehrte sie, mit den Rhythmen der Natur mitzugehen, um versorgt zu sein, ohne permanente und starke Kontrolle ausüben zu können.

„Wenn ich über mein Leben nachdenke, denke ich daran, wie das Land mir mein Leben geschenkt hat. Ohne das Land der Okanagan, ohne das Volk der Sylix und all die Verwandten, die auf diesem Land leben, ohne jedes einzelne Ding, das mein Volk aufrechterhält, wie Nahrung, Medizin, Kleidung und Obdach, ohne all die Dinge, die uns umgeben, die mich umgeben, wäre ich nicht. [4]”

Der Blick zurück für ein ­Verständnis von Heute

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht in die moderne Welt schaue und im Hinterkopf dieses ursprüngliche Leben habe. Ich sehe Menschen, die acht Stunden vor dem PC sitzen, minderwertige Nahrung zu sich nehmen, isoliert und bewegungsarm leben, wenig draußen sind, und ihre eigene Mutter, die Natur, nicht mehr als wertvollen und fast heiligen Ort kennen und schätzen. Lassen Sie mich als ehemaligen Hip-Hop DJ folgenden Vers der Black Eyed Peas zitieren, der es ziemlich treffend auf den Punkt bringt:

„Whats wrong with world, Mama. People living like they have no mama! [5]”

Ich habe es mir zu Gewohnheit gemacht, neu aufkommende Trends mit dem Leben der Jäger und Sammler*innen zu vergleichen und finde es bemerkenswert, wie diese alte Lebensweise bereits wichtige Weisheiten beinhaltete, die wir jetzt neu entdecken. Angefangen bei regionaler und saisonaler, vollwertiger Ernährung, über eine natürliche Geburt, eine nicht auf Wachstum und Anhäufung fokussierte steinzeitliche Ökonomie, eine sinnvolle und erfahrungsbasierte Bildung der Kinder, bis zu dem Wunsch nach gemeinschaftlichem Leben und der wertschätzenden Integration alter Menschen in die Gemeinschaft, gibt es zu jedem gesellschaftlichen Bereich wertvolles indigenes Wissen.

Aktuell besonders dringlich scheint die Frage zu sein: Wie etablieren wir eine echte, friedliche und freiheitliche Demokratie, die ihres Namens würdig ist? Auch bei diesem Thema finde ich Antworten bei der indigenen Lebensweise. Ich lade Sie ein auf eine Zeitreise auf den nordamerikanischen Kontinent, in eine Epoche, bevor Europäer diesen Kontinent entdeckt hatten. Bekanntermaßen werden die Geschichtsbücher von den Eroberern geschrieben. Deshalb fehlt den meisten Menschen das fast verlorengegangene Wissen der Indigenen, die bereits vor Ankunft der Europäer dort lebten. Auf unserer Spurensuche werden wir hauptsächlich den Stimmen der Indigenen lauschen, um verstehen zu können, wie sie ihr Leben über Jahrhunderte organisiert haben. Ihre mündliche Geschichtsschreibung, überliefert durch wiederkehrende Zeremonien und Rituale, in denen die Prinzipien ihrer Gesellschaft erzählt werden, liefern notwendiges Wissen für ein Leben im Gleichgewicht mit der Erde und miteinander.

In diesem Artikel soll es um die demokratischen Strukturen und Abläufe des nordamerikanischen Nationenbündnisses der Sechs Nationen, auch Haudenosaunee genannt, gehen, welches viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer auf der Grundlage des großen Gesetzes des Friedens gegründet wurde. Das alte Wissen um dieses Gesetz der Haudenosaunee scheint von unschätzbarem Wert für ein ganz neues oder besser gesagt sehr altes Demokratieverständnis und für eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Kolumbus landet am 12. Oktober 1492 auf Guanahani, einer Insel im Bereich der heutigen Bahamas, und betrat damit erstmals den Boden Amerikas. Er gab der Insel aus Dankbarkeit für die gelungene Überfahrt den neuen Namen San Salvador (span. für: Heiliger Erlöser, Heiland). Er verständigte sich friedlich mit den indianischen Einwohnern und ihrem Häuptling; die Besatzung seiner drei Schiffe trieb mit ihnen etwas Tauschhandel. (Bild: Holzschnitt, nach einer angeblich zeitgenössischen spanischen Darstellung, Buch-Scan von Wolpertinger Müller-Baden, Emanuel (Hrsg.): Bibliothek des allgemeinen und praktischen Wissens, Bd. 2. – Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Deutsches Verlaghaus Bong & Co, 1904. – 1. Aufl., Wikipedia.org, Gemeinfrei)

Die „Doktrin der Entdeckung“ – das falsche Narrativ eines unbesiedelten Kontinents

Als Columbus 1492 in San Salvador landete, befanden sich auf dem nordamerikanischen Kontinent zwischen 5-15 Millionen indigene Bewohner, die er fälschlicherweise Indianer nannte. Es existierten Nationen, die regionale und ganz eigene Kulturen, Regeln und Normen entwickelt hatten und praktizierten und in diplomatischen Beziehung zueinander standen. Höchst erstaunlich für die ankommenden, hierachie- und herrschaftsgewohnten Europäer fanden sie bei ihrer Ankunft wenig bis keine Hierarchien vor. Es gab auch kein Militär und keinen aufgeplusterten Regierungsapparat, der die Menschen unterdrückte oder beherrschte. Der Versuch, jemand anderen von der eigenen Religion oder dem eigenen Weltbild zu überzeugen, galt als starker Affront. Jede Person war natürlicherweise mit freiheitlichen Rechten und Souveränität über die eigene Lebensführung ausgestattet.

„Keine Gruppe, kein Individuum hat gegenüber irgendeiner anderen Vereinigung eine herrschaftliche Weisungsbefugnis. Das gilt für das Verhältnis von höher- zu niedrigstufigeren Integrationsebenen, z.B. zwischen Bundesrat und National- oder Stammesversammlungen, aber auch für das von Clan-Versammlung zu Ohwachira usw. Der ‘Graswurzelcharakter’ der irokesischen Demokratie verbindet das Prinzip der Herrschaftslosigkeit mit der Institutionalisierung von Autoritätspositionen, ohne dass hiermit Weisungsbefugnisse gegen das Widerstreben der untergeordneten Ebenen durchgesetzt werden können. [1]”

Jedem stand frei an das zu glauben, was er oder sie für richtig hielt. So sollte vermieden werden, dass es zeitaufwendige und spaltende Diskussionen um verschiedene Weltanschauungen gab. Oren Lyons, Führer und Bewahrer des Wissens der Onondaga, Teil der Sechs Nationen, formulierte es im Jahre 1992 anlässlich des Jahres für indigene Bevölkerungen vor den Vereinten Nationen folgendermaßen:

„Wir lebten zufrieden unter dem großen Gesetz des Friedens. Uns wurde gelehrt Gesellschaften zu gründen, die auf den Prinzipien Freiheit, Fairness, Gerechtigkeit und auf der Kraft des guten Verstandes fußten. Unsere Gesellschaft basierte auf großartigen demokratischen Prinzipien, der Autorität der Menschen und gleichwertiger Verantwortlichkeit von Männern und Frauen. Es war ein großartiges Leben auf dieser Schildkröteninsel und Frieden mit Respekt war überall. [6]”

Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben es mit ihren Worten so:

„Alles läuft reibungslos ab und das sogar ohne Soldaten oder Polizei. Ohne Adelige, Könige, Gouverneure, Präfekte, Richter, Gefängnisse und Gerichtsverfahren. Jeglicher Streit wird von allen Beteiligten geklärt – kein bisschen unserer ausgedehnten und komplizierten Administrationmaschinerie ist notwendig. Es gibt keine Armen und Bedürftigen. Alle sind frei und gleichberechtigt – auch die Frauen. [7]”

Als europäische Siedler nach Amerika kamen trafen sie dort eben nicht auf einen unbesiedelten Kontinent mit ein paar wilden Primitiven. Sie trafen auf das starke und vereinte Bündnis der Nationen. Doch ganz im Sinne der europäischen Geschichte durch Herrschaft machten sie sich auf den Weg, das Land und dessen Einwohner zu beherrschen. Koste es was es wolle!Nach einem umfassenden Genozid der grausamsten Art und Weise befanden sich Ende des 19. Jahrhunderts dort nur noch 238.000 Indigene [8]. Die europäischen Ankömmlinge nahmen sich das Recht jegliches, nicht nach ihren Vorstellungen genutztes oder freies Land zu rauben und im Namen der Kirche und der Zivilisierung unfassbare Verbrechen an den ursprünglichen Bewohnern des nordamerikanischen Kontinents zu begehen. Und sie bedienten sich auch frei am bestehenden Demokratiemodell der Irokesen. Chief Jake Swamp erklärt wie dieses entstand.

Der Weg des Friedensstifters

„Die kraftvolle Geschichte der Geburt der Demokratie beginnt vor sehr langer Zeit. Am Anfang, als unser Schöpfer die Menschen machte, war für alles Lebensnotwendige gesorgt. Unser Schöpfer bat nur um eins: Vergesst niemals die Geschenke der Mutter Erde zu schätzen. Wir wurden gelehrt dankbar zu sein und zu überleben. Aber vor 1000 Jahren, während einer sehr dunklen Zeit unserer Geschichte, hörten die Menschen nicht mehr auf diese ursprünglichen Unterweisungen. Unser Schöpfer wurde traurig, denn es gab viel Verbrechen, Unehrlichkeit, Ungerechtigkeit und Krieg. Also sandte der Schöpfer den Friedensstifter mit der Botschaft, rechtschaffen und gerecht zu sein. Und eine gute Zukunft für die Kinder und kommenden sieben Generationen zu machen. Er rief alle Kriegsparteien zusammen und sagte ihnen: So lange getötet wird, wird es keinen Frieden geben. Es ist eine gemeinschaftliche Anstrengung notwendig, damit sich Frieden durchsetzen kann. Durch sein logisches Denkvermögen und seine spirituellen Möglichkeiten inspirierte er die Krieger ihre Waffen zu begraben und auf ihnen den Baum des Friedens zu pflanzen. Dann gründete er das Große Gesetz des Friedens und vereinte die ursprünglichen fünf Nationen. Das große Gesetz fußte auf demokratischen Prinzipien, die persönliche Freiheit und Grundrechte versicherten, und ein dreiteiliges System, bestehend aus Exekutive, Legislative und Judikative, erschufen. Benjamin Franklin nannte diesen Verband der Irokesen ein beeindruckendes Bündnis von Nationen. [9]”

Die Irokesen sind ein Verbund aus ursprünglich fünf und später sechs Nationen, die nach langer kriegerischer Auseinandersetzung vereint wurden. Dieses Bündnis bestand ursprünglich aus den Mohawk, Seneca, Onondaga, Cayuga und Oneida. Im Jahre 1772 folgte das Volk der Tuscarora. Im 12. Jahrhundert befanden sich diese Nationen im Krieg und es herrschte Zwietracht und Mißgunst sowohl zwischen als auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Es war eine fürchterliche Zeit, voller Gewalt und Hass [10].

In dieser düsteren Epoche erscheint ein Mann auf der Bildfläche, der innerhalb von 40 Jahren alle verfeindeten Stämme besucht und ihre Führungspersönlichkeiten dazu bringt, sich gemeinsam zu versammeln. Der „Friedensstifter“ überbringt allen 50 „Chiefs“ seine Botschaft des Friedens und der Einigkeit. Er schafft das, was unmöglich erschien: Er vereint die fünf bis aufs Blut verfeindeten Nationen unter dem großen Gesetz des Friedens. Sie begraben ihre Waffen unter einer großen, weißen Kiefer, deren Äste ausladend wachsen und jeder Nation, die sich dem Frieden verschrieb, Schutz bietet. Diese Kiefer steht am Onondaga See im Staate New York. Ihre Wurzeln reichen in die 4 Himmelsrichtungen und werden die Wurzeln des Friedens genannt. Der Legende nach saß im Wipfel der Kiefer ein Adler, der mit wachsamen Blick in die Weite blickte, um nahende Gefahren zu entdecken. Als Symbol der Einheit dient ein Bündel aus fünf Pfeilen, welche für die fünf Nationen stehen. Diese sind umwickelt und ihre Einigkeit gibt ihnen die Widerstandskraft, nicht mehr leicht gebrochen werden zu können. Dieser neu gegründete Verbund nannte sich Haudenosaunne, die Menschen des Langhauses, auch bekannt als die Irokesen.

Ein traditionelles Langhaus der Irokesen, bestehend aus einem rechteckigen Stangengerüst von rund zwanzig Metern Länge sowie je sechs Metern Breite und Höhe, konnte fünf und mehr Familien Unterkunft bieten. Die Langhäuser waren Fraueneigentum. (Bild: Wilbur F. Gordy – Gordy, Wilbur F. Stories of American History. New York: Charles Scribner’s Sons, 1913. Page 20, Wikipedia.org, Gemeinfrei)

Flagge der der Haudenosaunee-Konföderation. Von rechts nach links sind symbolisch die Gebiete der Mohawk, Oneida, Onondaga, Cayuga und Seneca gezeigt. (Bild: Himasaram, Zscout370, Wikimedia.org, Public Domain)

Die Einflusstheorie – Lernen die Europäer von den Indigenen?

„Eines der wenigen, kleinen Geheimnisse der Gründerväter ist der Fakt, dass sie ein demokratisches Modell nicht in England, Frankreich, Italien oder einer anderen sogenannten „Wiege der Demokratie“ fanden. Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und andere entdeckten bei den amerikanischen Indigenen die älteste partizipative Demokratie auf der Erde. [11]”

Unter der Einflusstheorie versteht man die Fragestellung, inwiefern die Europäer durch den Kontakt mit der indigenen Lebensweise in ihren Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung und Souveränität beeinflusst wurden. Dieser Fragestellung ging auch Geschichtsprofessor Gregory Schaaf nach und fand aufgrund eines Zufalls Erstaunliches. Es muss sich für ihn wie die Entdeckung des Heiligen Grals angefühlt haben, als er im Jahre 1977 einen Karton auf einem Dachboden öffnete und darin sehr bedeutende Dokumente fand. Zuvor hatte Susanna Morgan mit ihm Kontakt aufgenommen. Susannas Ehemann war der Ururururenkel von George Morgan. George wiederum war der erste „Indianer-Agent“ beim sogenannten kontinentalen Kongress, einer Vereinigung, bestehend aus Delegierten der 13 Kolonien, welche die amerikanische Revolution gegen England vorbereitete.

Gregory Schaaf traf Susanna mehrere Male und sichtete das vorhandene Material. Darunter befanden sich Briefe von George Washington, Thomas Jefferson, Benedict Arnold und John Hancock. Es vergingen einige Treffen zwischen Gregory und Susanna, und eines Tages erwähnte sie, dass sie noch einen Karton mit Dokumenten auf ihrem Dachboden habe, der ihn interessieren könnte. Am Boden des Kartons fand Schaaf die 73 fehlenden Seiten eines privaten Tagebuchs von George Morgan. Diese beschrieben was geschah, als dieser beauftragt wurde, im Jahre 1776 die erste Indianer-Agentur, also einer Art Vermittlungsstelle zwischen Indigenen und Amerikanern, zu gründen.

Aus diesen Dokumenten und aus der oralen Geschichtsschreibung der Irokesen geht nicht nur hervor, dass die „Irokesen zweifellos erheblichen Aufwand betrieben haben, um zwischen den beiden Seiten der Amerikanischen Revolution Frieden zu stiften“, so Schaaf. Die amerikanische Revolution war die Ablösung der Siedler von der britischen Krone und der Beginn der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Weiterhin bestätigten diese und andere Dokumente, dass die europäischen Siedler von der Konföderation der Sechs Nationen und ihrer föderalen Struktur und ihrem Verständnis von Freiheit und Souveränität beeindruckt waren. Die Begeisterung scheint so groß gewesen zu sein, dass sie in Form aufklärerischer Gedanken und Ideen ihren Weg zurück nach Europa fand.

„Das moderne Europa entwickelte sich unter dem Einfluß unserer Ideen. Impulse aus dem amerikanischen halfen mit, das göttliche Recht der Könige und des Adels in Frage zu stellen. Die Aufzeichnungen der Jesuiten gaben der Intelligenzia in Frankreich neue Nahrung, und unser Demokratiebegriff beeinflußte die französische Revolution. Ob Jean Jacques Rousseau oder ein Jahrhundert später Friedrich Engels, sie erhielten geistige Anstöße von uns. Im großen Gesetz des Friedens, der Verfassung der Haudenosaunee, ist die Freiheit der individuellen Meinungsäußerung eines der tragenden Prinzipien. Die heutige Pressefreiheit in Nordamerika und Europa ist eine Fortsetzung der Redefreiheit, die es vor eurer Entdeckung Amerikas nicht gab. Ebenso wenig gab es bei euch Religionsfreiheit. Diese Gedanken der Freiheit kommen nicht nur aus dem Langhaus der Haudenosaunee, sie waren Bestandteil aller indianischen Stammesgesellschaften, sie waren an vielen Plätzen der Welt zu finden, nur nicht im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts. Es war der europäisch-indianische Kontakt, der eure Gesellschaft unterwanderte. [12]”

Im folgenden beschreibe ich worum es sich dabei konkret handelt:

Bauplan für eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung

„Der Irokesenbund läßt sich in politischer Hinsicht knapp als mehrstufiges und vielschichtiges politisches Arrangement von Verwandtschaftsgruppen, Arbeits- und Kriegskollektiven, Zeremonialbünden sowie sich gegenseitig kontrollierender Frauen- und Männermacht skizzieren. Ökonomisch grundlegend sind der Kollektivbesitz an Land und Arbeitsmitteln, die gemeinschaftliche Produktion und die normativ geforderte und rituell gestützte egalitäre Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums. Zahlreiche Versammlungen auf der Ebene der Haushalte, der größeren Verwandtschaftsgruppen, die sich wiederum zu Hälften vereinigten, der Siedlung und schließlich der Stammesnation verhandelten grundsätzlich mit dem Ziel des einmütigen Konsenses. Die fünf Gründungsnationen der Onondaga, Cayuga, Senece, Oneida und Mohawk bildeten zusammen einen Rat der fünfzig Bundeshäuptlinge, der die Grundzüge der egalitären Konsensdemokratie auf das Konföderationsmodell ausdehnte und auf die Beziehungen zu weiteren Indianerstämmen sowie die englischen Kolonien zu erweitern versuchte. [1]“

Bronze-Gedenkstatue Häuptling Clinton Rickard im Niagara Falls State Park. Clinton Rickard (1882-1971) war ein Tuscarora-Häuptling, der für die Gründung der Indian Defense League und die Förderung der Souveränität der amerikanischen Ureinwohner bekannt war. Er setzte sich für die freie Durchreise der amerikanischen Ureinwohner über die Grenze zwischen den USA und Kanada ein und verhinderte die Überflutung des Tuscarora-Reservats. (Foto: Dchrist76, Wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Egalitäre Konsensdemokratie

„Sichtbar wurde die Kontur einer herrschaftslosen Gesellschaft, deren politische Seite, nämlich die Sphäre institutionalisierter Entscheidungsfindung, als egalitäre Konsensdemokratie bezeichnet werden kann. Gemeint ist ein vielstufiges politisches Gebilde, in dem politische Führung immer an die Zustimmung der Geführten gebunden blieb und höhere Instanzen gegenüber untergeordneten über keinerlei Weisungsbefugnis verfügten. Das Verhältnis von Befehl und Gehorsam spielte weder in der politischen noch in häuslichen Belangen eine Rolle, und das Verhältnis der Geschlechter gründete sich auf eine egalitäre Machtbalance. [1]“

Wie oben bereits beschrieben wissen die wenigsten, dass die Gründerväter sozusagen bei den Haudenosaunee in die Lehre gingen, um die Anwendung des Großen Gesetzes des Friedens auf nationaler und internationaler Ebene zu lernen. Ein wichtiges Fundament dieser Gesellschaftsform war der Konsens. Heutzutage unvorstellbar ist der Versuch die Belange aller Menschen, die es betrifft zu integrieren, um eine Lösung zu finden, die für alle gangbar ist. Aus meiner ganz persönlichen Erfahrung vieler Monate gemeinschaftlichen Lebens in der Wildnis kann ich nur bestätigen, dass auf lange Sicht eine Gemeinschaft besser funktioniert, wenn es nicht wiederholt eine kleine Minderheit gibt, die mit Entscheidungen unzufrieden ist und sich deshalb als Verlierer fühlt. Die indigene Clanmutter Alice Piel formulierte es folgendermaßen:

„Sie haben nicht die Macht wie die Staatsoberhäupter in euren Demokratien, in denen immer eine Minderheit zu kurz kommt. Sind unsere Häuptlinge in politischer Mission unterwegs, sei es bei den Lakota in South Dakota oder bei der UNO in Genf, können sie nur vortragen, was im Konsens unter Beisein von uns Clanmüttern besprochen wurde; stellt sich ein neues Problem, das eine Entscheidung verlangt, müssen sie es zu uns zurück ins Langhaus tragen. [13]“

Es war im Verbund der Haudenosaunee normal, dass sich jeder Mann und jede Frau bei großen Versammlungen Gehör verschaffen konnte und sein Anliegen öffentlich mitteilte. Partizipation und das Selbstverständnis mitreden zu dürfen waren also Grundpfeiler des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Verstörend für die Europäer war es immer wieder, dass bei Verhandlungen zwischen „Weißen“ und Chiefs unangekündigt Menschen auftauchten die ganz selbstverständlich zuhörten und sich selber äußern wollten.

„Die Meinungsfreiheit war ein Recht, welches so tief in die Lebensweise der Irokesen eingebettet war, dass es keine Erwähnung in der Verfassung braucht. Brennende Feuer verteilt über das ganze Territorium der Sechs Nationen symbolisierten das Recht auf öffentliche Diskussionen. Zusätzlich zum großen Ratsfeuer am Onondaga-See gab es Feuer in jeder Nation, jedem Clan und bei jeder Familie. Die Frauen hatten ihre Feuer genauso wie Männer ihre Feuer hatten. [14]“

Wenn mehrere Anläufe einer Lösungsfindung in Ratssitzungen scheiterten wurde das Thema vertagt, um weitere Debattenzeit zu ermöglichen. Es galt die Annahme, dass der investierte Mehraufwand Konsenslösungen zu finden im Gegensatz zu Mehrheitsentscheidungen sich lohnend auf das Gemeinwohl und das friedliche Zusammenleben auswirken würden.

Die Rolle der Frauen

„Von der Wildheit zur ­Zivilisertheit
Wir, die Frauen der Irokesen besitzen das Land, das Haus und die Kinder
Wir haben das Recht zur Adoption zum Leben und zum Tod
Wir haben das Recht Führer zu bennenen und sie abzusetzen
Wir haben das Recht Abkommen zu schließen und zu kündigen
Wir haben die Aufsicht über Innen- und Außenpoltik
Wir haben die Treuhandschaft über das Stammeseigentum
Unsere Leben sind genauso gewertschätzt wie die der Männer. [15]”

Als europäische Siedler nach Amerika kamen, trafen sie auf Gesellschaften, in denen Frauen gleichwertig und gleichwürdig behandelt wurden und sich Machtpositionen gleichberechtigt mit den Männern teilten. Genauso wie das fast gänzliche Fehlen von Hierarchien und Unterdrückungsstrategien gegenüber der Bevölkerung muss die gleichwertige Rolle der Frauen auf die Europäer nachhaltig Eindruck gemacht haben. Der Nationenverbund der Haudenosaunee war eine matrilineare Kultur. Das Langhaus der Familie und das dazugehörige Land gehörten der Frau und Mutter. Die Zugehörigkeit zu einem Clan basierte auf der Abstammungslinie der Mutter und nicht des Vaters. 1875 schrieb Frauenrechtlerin und Aktivistin Matilda Joslyn Gage:

„Nie war Gerechtigkeit perfekter und nie war die Zivilisation höher entwickelt als unter dem Matriarchat. Unter diesem System erreichte die Gesellschaftswissenschaft ihre weltweit höchste Form. [16]“

Das große Gesetz des Friedens sah vor, dass es einen Rat der „Clanmütter“ gab. Aufgabe dieses Rates war es unter anderem neue „Chiefs“ vorzuschlagen. Im Gegensatz zur Monarchie war es nicht möglich, dass der Sohn des Königs ohne Kontrolle durch das Volk auch zum König wurde. Die Clanmütter suchten nach Führungspersönlichkeiten, die mitfühlend, demütig, intelligent und kritikfähig waren, um diese als neue Führer vorzuschlagen. Diese mussten dann im weiteren Prozess vom Rat der Clanmütter und dann von der ganzen Nation mittels Konsensdemokratie bestätigt werden.

Eine weitere Aufgabe der Frauen war das Überwachen der aktiven Chiefs und deren Entscheidungen. Sollte sich ein Chief durch ein Verhalten oder Entscheidungen hervortun, die nicht dem Leben dienten, hatten die Clanmütter die Möglichkeit ihn zu verwarnen. Hier sei erwähnt, dass Entscheidungen bei den Irokesen auf dem Sieben-Generationen-Prinzip fußten. Das bedeutet, dass eine Entscheidung im Hinblick auf das Wohl der kommenden sieben Generationen zu fällen war.

Nehmen Sie, lieber Leser sich einen Augenblick und lassen Sie dieses Prinzip in sich einsinken. Stellen Sie sich vor, Sie selber und Verantwortliche in Regierungen, Gerichten und Firmen würden diesen Aspekt des Wohls der kommenden Generationen bei wichtigen Entscheidungen mit einfließen lassen. Das wäre ein großer Schritt in Richtung echter Nachhaltigkeit!

Sollte nach einer Verwarnung der angesprochene Chief wieder mit ähnlichem Verhalten auffallen, gab es ein Gespräch mit den Clanmüttern, um das zu thematisieren. Bei einem weiteren Verstoß war es den Clanmüttern möglich, auf Konsensbasis des Rates der Clanmütter, den Chief seines Amtes sofort zu entheben.

Auch hier bitte ich Sie, dieses Bild für einen Augenblick zu verinnerlichen. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, es gäbe einen Rat weiser und wachsamer Frauen, die als Kontrollgremium auf alle wichtigen Entscheidungen der „Chiefs“ mit der Prämisse schauen, ob sie dem Leben dienen. Sobald eine Person auffällt, die dieses Prinzip verletzt, wird sie mit einer gelben Karte verwarnt und bei wiederholtem Fehlverhalten des Rates oder Langhauses verwiesen.

Frauen saßen außerdem in den Räten, in denen es um Krieg und Frieden ging und konnten darüber entscheiden, ob ein Krieg wirklich sinnvoll und angebracht ist. Auch das mussten sie im Konsens entscheiden. Ein weiterer großer Unterschied zur aktuellen US-amerikanischen Gesellschaft ist die Tatsache, dass der oberste Gerichtshof der Irokesen ausschließlich von Frauen besetzt war und die Judikative somit hauptsächlich den Frauen anvertraut war.

Hier sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass sich die Irokesen zur Natur, also ihrer Lebensgrundlage, als Mutter Erde bezogen. Die Erde und auch der Mond waren weiblich. Das lebensspendende Prinzip war also weiblich und wurde täglich wertgeschätzt und geehrt. Es scheint wahrscheinlich, dass die Entfremdung der Europäer von der Natur durch Zivilisierung, Ackerbau und Viehzucht das Verhältnis zu diesem weiblichen Prinzip stark verändert hat.Ein Teil der feministischen Bewegung in den USA geht auf die Beobachtung indigener Frauen und ihrer Rolle in der Gesellschaft zurück.

„Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert inspirierten die Rolle und Macht der Frauen bei den Haudenosaunee einige der einflussreichsten Architektinnen des modernen Feminismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. [17]”

1891 sprach Elizabeth Cady Stanton vor dem Rat der Frauen und erwähnte in ihrer Rede neben anderen indigenen Gesellschaften explizit auch die Haudenosaunee. Sie endete ihre Rede wie folgt:

„Abschließend würde ich sagen, dass jede Frau hier ein neues Gefühl der Würde und Selbstachtung haben sollte in dem Wissen, dass unsere Mütter über lange Zeit herrschende Macht besaßen und diese im Interesse der Menschheit einsetzten… nicht für eine weibliche Vormachtstellung, sondern für das bis jetzt nicht erprobte Experiment vollständiger Gleichberechtigung. Wenn die vereinigten Gedanken von Mann und Frau eine gerechte Regierung einführen, eine pure Religion, ein zufriedenes zu Hause, eine Zivilisation, in welchen Ignoranz, Armut und Verbrechen nicht mehr existieren. [18]”

Am 18. August 1920 wurde Frauen in den USA das erste Mal das Wahlrecht zugestanden!

Elizabeth Cady Stanton (1815-1902) um 1880. Sie war eine führende Figur der frühen US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung. 1891 sprach sie vor dem Rat der Frauen und und erwähnte in ihrer Rede neben anderen indigenen Gesellschaften explizit auch die Haudenosaunee. (Foto: unbekannter Fotograf, Wikipedia.org, Gemeinfrei)

Die Qualitäten von Führungspersönlichkeiten

“In meiner Gemeinschaft hat Führungskompetenz – bei uns bekleiden Männer und Frauen das Amt eines Führers oder einer Führerin – mit der Fertigkeit zu tun, wie gut diese Person jedem zuhören kann und wie diese Person versteht, welche Dinge ablaufen, die vielleicht falsch sind oder Konflikte auslösen können und deshalb eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellen. Unser Wort für Führer*in bedeutet jemand zu sein, der viele Fäden zusammenhalten kann und diese in einem Strang verknüpfen kann. Ein Strang bedeutet dabei Einigkeit im Gleichgewicht mit dem Land. Es bedeutet, dass diese Person eine besondere Fähigkeit dafür haben muss zu fühlen, was die Gemeinschaft sagt, eine besondere Fähigkeit zu verstehen, was gesagt wurde und zu wissen, welche Dinge gerade ablaufen, um all das zusammenzufassen und es den Menschen zu erzählen. Es geht also um Kommunikation und darum in der Lage zu sein zuzuhören, um es dann für andere verständlich zusammenzufassen. So, dass diese dann sagen können: ”Ja! Das ist es.” Es geht nicht darum, anderen zu sagen, was sie zu tun haben oder andere zu führen oder zu zwingen. Es geht darum, das zu versprachlichen und gesammelt auszudrücken, was die Gemeinschaft fühlt, denkt und erinnert und daraus ein Voranschreiten möglich zu machen. Unser System verlässt sich auf diese Art der Wechselbeziehung und diese Art der Kommunikation. [19]”

Wenn ich mir heutzutage Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft anschaue, erblicke ich selten Persönlichkeiten, deren Aussagen oder Vorbild mich tief berühren. Ich erlebe Rechthaberei, Voreingenommenheit, Selbsterhöhung und damit einhergehende Abwertung Anderer. Außerdem erlebe ich die Unfähigkeit Fehler einzugestehen und eine Art Abgehobenheit, die die Führenden dem wahren Leben und den Bedürfnissen der Menschen entfremdet. Selten sehe ich jemanden, von dem ich behaupten würde, diese Person hat sich auf den Weg gemacht, um eine starke Persönlichkeit zu entwickeln und ist bereit ihren Ruf zu verlieren, um ihrem Gewissen treu zu bleiben. Es kommt mir oftmals wie in Zeiten des Adels vor, wenn ich schwarze Limousinen von Politikern vor Ministerien parken sehe und sie von Sicherheitsleuten durch den Pöbel begleitet werden.

Durch mein langjähriges Studium indigener Kulturen habe ich entgegen dieser aktuellen Zustände immer wieder festgestellt, dass ursprünglich Eigenschaften wie Respekt, Demut, die Fähigkeit zuzuhören und ein integrativer Ansatz hoch geschätzte Qualitäten von Führungspersonen waren. Chief Oren Lyons, Chief und Mitglied der Seneca Nation und damit Teil des Bündnisses der Sechs Nationen sprach im Jahre 1992 vor den Vereinten Nationen und beschrieb die erforderlichen Führungskompetenzen so:

„Unsere Führungspersönlichkeiten wurden darin geschult Menschen mit Visionen zu sein und jede Entscheidung im Interesse der kommenden sieben Generationen zu fällen. Sie sollten Mitgefühl und Liebe für die ungeborenen Generationen haben. [20]”

Es werden also ganz neue oder sehr alte Modelle gebraucht, um sicherzustellen, dass Menschen in Führungspositionen kommen, die eine innere Reife und Bewusstheit entwickelt haben, die es ihnen ermöglicht, für das Gemeinwohl zu handeln. Und es werden Systeme und Abläufe gebraucht, die Führende immer wieder daran erinnern, dass sie ihre Macht von den Menschen geliehen bekommen, um ihnen zu dienen. Genau dafür dienen im alten Modell der Irokesen die Konsensdemokratie, der Rat der Clanmütter und die radikale Meinungsfreiheit.

„Denn alle Führungspositionen müssen ohne Erzwingungsstäbe auskommen und bleiben grundlegend von der Zustimmung von Gefolgschaften abhängig, als deren bloßes Sprachrohr sie sich zu verstehen verpflichtet sind. Das Prinzip der Versammlung (Haude 1999 1: 4), in dem Face-to-Face-Kommunikation die allgemeine Informiertheit aller von den Entscheidungen Betroffenen über den politischen Prozess und darüber hinaus die Partizipation an solchen Entscheidungen ermöglicht, strukturiert die formalen und informalen politischen Zusammenkünfte auf allen gesellschaftlichen Ebenen…. Die Inhaber eines der vielen gesellschaftlichen Ämter, insbesondere aber die männlichen wie weiblichen Führungspersönlichkeiten und „Häuptlinge“, hatten keine Möglichkeit, ihre Entscheidungen gewaltsam durchzusetzen, mußten um die Zustimmung ihrer Gefolgschaften ringen. In der Regel war ihre Aufgabe die konsensfähige Bündelung von Argumenten für eine von möglichst allen Beteiligten tragbare Entscheidung. Wer nicht zustimmen wollte oder konnte, war daran nicht gebunden. [1]”

Am Ende meiner Ausführungen zu den konkreten Inhalten des großen Gesetzes des Friedens möchte ich noch einmal auf die Gründerväter der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung zurückkommen: Mit dem Wissen von heute erkennen wir darin den Einfluss der nordamerikanischen Indigenen. Die Gründerväter, also eine rein aus Männern bestehende Gruppe, hatten sich jedoch entschieden, wichtige Elemente nicht zu übernehmen. Dazu zählen die Konsensdemokratie und die bedeutsame Rolle der Frauen in der Gesellschaft.

Schlussbetrachtung

Es scheint so, dass wir schon so lange ohne echte Mitbestimmung und in einer machtdurchtränkten und entarteten Scheindemokratie leben, dass wir vergessen haben, was uns eigentlich zusteht. Eingelullt in Wahlkampfverhalten, Politkersprech, Ablenkung und Konsum sind wir unseres Potenzials beraubt worden und haben es uns nehmen lassen. Wir haben uns daran gewöhnt machtlos zu sein [21]. Ich empfinde es als höchst dringlich, dass jeder und jede ein Bewußtsein dafür entwickelt, dass wir alles Notwendige in unseren Händen halten, um ein friedliches Miteinander zu erschaffen. Teile der notwendigen neuen Strukturen dafür sind im großen Gesetz des Friedens zu finden. Lassen Sie uns auf niemanden warten, diese Prinzipien zu leben, sondern fangen wir in unserer Nachbarschaft an.

Nutzen wir unsere Energie nicht nur für den Widerstand gegen das lebensfeindliche, sondern schöpfen wir Mut, in dem wir alte und ursprüngliche Prinzipien des Lebens wiederentdecken und diese lebendig werden lassen. Unsere Entscheidungen und auch unsere Entscheidung nichts zu tun und zu warten, bis andere etwas tun, beeinflussen das Wohlergehen der kommenden sieben Generationen. Ein indigener Ältester sagte einmal zu mir „Du bist nur so lange unschuldig, so lange du nicht weißt.“ In dem Augenblick, wo ich um Dinge weiß, die der Gemeinschaft dienen können, ist es auch meine Verantwortung, diese Dinge in Handlungen zum Ausdruck zu bringen. Denn, um mit einer letzten indigenen Weisheit zu enden, zitiere ich den Hawaianischen Ältesten Kalani Souza:

„The knowing is in the doing.“

Das Wissen steckt im Tun!

In Dank an die Vorfahren, die indigenes Wissen unter schwersten Bedingungen bewahrt haben und in liebevoller Verbundenheit für die Kinder, Enkel und Urenkel der kommenden Generationen. Denn ihnen steht eine Welt zu, in der ein gutes Leben möglich ist.

Quellen:

[1] Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie; LIT Verlag
[2] <https://www.routledge.com/Stone-Age-Economics/Sahlins/p/book/9781138702615>
[3] <https://lesen.oya-online.de/texte/195-zurueck-in-die-steinzeit.html>
[4] Dr. Jeanette Armstrong, Sylix People
[5] Black Eyed Peas; Where is the Love?
[6] Oren Lyons, Voice of indigenous Peoples, Native People Address the United Nations,
[7] Karl Marx and Friedrich Engels, Selected Works; New York International Pub. Co, New World Paperbacks
[8] <https://www.history.com/news/native-americans-genocide-united-states>
[9] Chief Jake Swamp, The US Constiution and the Great Law of Peace
[10] <https://mollylarkin.com/u-s-constitution-great-law-peace/>
[11] The U.S. Constitution and the Great Law of Peace
[12] John Mohawk Sotsisowah, Brief an die Europäer
[13] Dewasenta, die Clanmutter des Aal-Clans (amerikanischer Name: Alice Papineau) <https://oya-online.de/article/read/235-Von_den_weissen_Wurzeln_des_Friedens.html>
[14] Iroquois book of life, White roots of peace, S. 73
[15] Puck, 16. Mai 1914; Native America and the Evolution of Democracy, S.233
[16] New York Evening Post, 24. September 1875
[17] Exemplar of Liberty, Native America and the evolution of democracy, S. 224
[18] Exemplar of Liberty; Native America and the evolution of democracy, S.232
[19] Dr. Jeanette Armstrong, Sylix
[20] Oren Lyons, Voice of Indigenous Peoples, Native People Address the United Nations, Dezember 1992, <https://ratical.org/many_worlds/6Nations/OLatUNin92.html>
[21] <https://kenfm.de/wir-beenden-das-kontinuum-der-machtlosigkeit-von-bastian-barucker/>

Weiterführende Quellen:

Das große Gesetz des Friedens

Das große Gesetz des Friedens hat den Sechs Nationen über Jahrhunderte Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit gebracht. Es war ein ausgeklügeltes Modell, welches auf Konsens, Respekt, Fairness und einem Gleichgewicht zwischen Mann und Frau beruhte und der Souveränität und Freiheit des Einzelnen große Bedeutung einräumte. Diese alten, indigenen Prinzipien des nordamerikanischen Nationenbündnisses der Irokesen können uns bei der Transformation in eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung den Weg weisen.

Von Published On: 10. März 2023Kategorien: Utopie

Dieser Text wurde zuerst am 19.02.2021 auf https://blog.bastian-barucker.de/ unter der URL <https://blog.bastian-barucker.de/das-grosse-gesetz-des-friedens/> veröffentlicht. Lizenz: © Bastian Barucker

San-Gemeinschaft (andere Bezeichnung: Buschleute) aus dem südlichen Afrika. Wie alle unspezialisierten Wildbeuter leben die San in kleinen Gruppen von rund 30 bis 40 Menschen (Foto: Aino Tuominen, Pixabay.com, Pixabay License)

Mir stellt sich die Frage, wie wir das gescheiterte Demokratiemodell reparieren oder revolutionieren, um wirklich zu einem besseren gemeinsamen Leben zu gelangen. Vorwürfe oder Kritik an unserem aktuellen Gesellschaftsmodell sind legitim und aktuell besonders wichtig, genauso wichtig ist jedoch die Vision einer anderen Art des Zusammenlebens. So können wir mit der Kraft einer Vision für etwas Besseres die nächsten Schritte in die Zukunft gehen und somit diese zum Wohle aller gestalten. Dafür braucht es meiner Ansicht nach die Offenheit radikal, also an die Wurzel gehend, zu forschen – so wie es in der einzigen deutschen Doktorarbeit geschrieben steht, die sich ausschliesslich und umfangreich dem Thema der irokesischen Demokratie widmet.

„Die auch unter Intellektuellen weit verbreitete Abwehr des Gedankens, demokratische Regierungsformen könnten einen anderen historischen und geographischen Ort als die europäische Antike haben, stellt eine Barriere dar, die überwunden werden muss,… [1]”

Die Genialität der Primitiven

Ich habe mich in den letzten 18 Jahren fast ausschließlich mit dem praktischen und theoretischen Studium „primitiver“ Kulturen beschäftigt. Primitiv heißt in dem Kontext: Menschen, die erdverbunden und gemeinschaftlich zusammen leben und ihr Leben meist größtenteils als Jäger und Sammlerinnen gestalten. Diese „Primitiven“ brauchten ca. 3,5h Arbeitszeit pro Tag, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen und widmeten sich dann der Entspannung, dem Spiel, dem Gesang, den Kindern und der Gemeinschaft. Klingt nach einer erstrebenswerten Life-Work-Balance, oder? Der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlin veröffentlichte 1972 ein bemerkenswertes Buch mit den Namen „Stone Age Economics“ [2]. In diesem veröffentlichte er seine Forschungsergebnisse zur steinzeitlichen Ökonomie. In einem Zeitungsartikel dazu heißt es:

„Unser Bild vom kärglich-harten Steinzeitleben müsse vollständig revidiert werden. Ja, es sei vielmehr die heutige Gesellschaft, in der die Knappheit ein institutionalisiertes Wirtschaftsprinzip darstellt! Im Gegensatz zur zivilisierten Welt, wo ein riesiger Teil der Bevölkerung jeden Abend hungrig ins Bett geht, kennen traditionell lebende Jäger und Sammlerinnen wie die Kalahari-Buschleute oder die australischen Aborigines Hunger höchstens als eine außergewöhnliche, bald vorübergehende Erscheinung, die so gut wie niemals lebensgefährliche Ausmaße annimmt. [3]”

Diese ursprüngliche Lebensweise ist auch unser Erbe, und wir lebten eng verbunden mit der Natur und mit großer Wertschätzung für ihre Geschenke, heutzutage Ressourcen genannt, für ca. 98% unserer Geschichte als Homo Sapiens.Von großer Bedeutung für die weiteren Ausführungen ist es, zu verinnerlichen, dass diese alte Lebensweise ein intensives Gefühl der Naturverbundenheit kultivierte und diese Verbindung und die damit einhergehende Wertschätzung für die Erde gelebte Grundlage einer primitiven Gesellschaft ist. Jägern und Sammlerinnen ist nicht nur intellektuell verständlich, sondern vor allem ganzheitlich bewusst, dass sie die Natur weder beherrschen noch erobern können. Sie befinden sich nicht im Kampf gegen die Natur, sondern in bestmöglicher Balance mit ihr. Ihre Lebensweise lehrte sie, mit den Rhythmen der Natur mitzugehen, um versorgt zu sein, ohne permanente und starke Kontrolle ausüben zu können.

„Wenn ich über mein Leben nachdenke, denke ich daran, wie das Land mir mein Leben geschenkt hat. Ohne das Land der Okanagan, ohne das Volk der Sylix und all die Verwandten, die auf diesem Land leben, ohne jedes einzelne Ding, das mein Volk aufrechterhält, wie Nahrung, Medizin, Kleidung und Obdach, ohne all die Dinge, die uns umgeben, die mich umgeben, wäre ich nicht. [4]”

Der Blick zurück für ein ­Verständnis von Heute

Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht in die moderne Welt schaue und im Hinterkopf dieses ursprüngliche Leben habe. Ich sehe Menschen, die acht Stunden vor dem PC sitzen, minderwertige Nahrung zu sich nehmen, isoliert und bewegungsarm leben, wenig draußen sind, und ihre eigene Mutter, die Natur, nicht mehr als wertvollen und fast heiligen Ort kennen und schätzen. Lassen Sie mich als ehemaligen Hip-Hop DJ folgenden Vers der Black Eyed Peas zitieren, der es ziemlich treffend auf den Punkt bringt:

„Whats wrong with world, Mama. People living like they have no mama! [5]”

Ich habe es mir zu Gewohnheit gemacht, neu aufkommende Trends mit dem Leben der Jäger und Sammler*innen zu vergleichen und finde es bemerkenswert, wie diese alte Lebensweise bereits wichtige Weisheiten beinhaltete, die wir jetzt neu entdecken. Angefangen bei regionaler und saisonaler, vollwertiger Ernährung, über eine natürliche Geburt, eine nicht auf Wachstum und Anhäufung fokussierte steinzeitliche Ökonomie, eine sinnvolle und erfahrungsbasierte Bildung der Kinder, bis zu dem Wunsch nach gemeinschaftlichem Leben und der wertschätzenden Integration alter Menschen in die Gemeinschaft, gibt es zu jedem gesellschaftlichen Bereich wertvolles indigenes Wissen.

Aktuell besonders dringlich scheint die Frage zu sein: Wie etablieren wir eine echte, friedliche und freiheitliche Demokratie, die ihres Namens würdig ist? Auch bei diesem Thema finde ich Antworten bei der indigenen Lebensweise. Ich lade Sie ein auf eine Zeitreise auf den nordamerikanischen Kontinent, in eine Epoche, bevor Europäer diesen Kontinent entdeckt hatten. Bekanntermaßen werden die Geschichtsbücher von den Eroberern geschrieben. Deshalb fehlt den meisten Menschen das fast verlorengegangene Wissen der Indigenen, die bereits vor Ankunft der Europäer dort lebten. Auf unserer Spurensuche werden wir hauptsächlich den Stimmen der Indigenen lauschen, um verstehen zu können, wie sie ihr Leben über Jahrhunderte organisiert haben. Ihre mündliche Geschichtsschreibung, überliefert durch wiederkehrende Zeremonien und Rituale, in denen die Prinzipien ihrer Gesellschaft erzählt werden, liefern notwendiges Wissen für ein Leben im Gleichgewicht mit der Erde und miteinander.

In diesem Artikel soll es um die demokratischen Strukturen und Abläufe des nordamerikanischen Nationenbündnisses der Sechs Nationen, auch Haudenosaunee genannt, gehen, welches viele Jahrhunderte vor der Ankunft der Europäer auf der Grundlage des großen Gesetzes des Friedens gegründet wurde. Das alte Wissen um dieses Gesetz der Haudenosaunee scheint von unschätzbarem Wert für ein ganz neues oder besser gesagt sehr altes Demokratieverständnis und für eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Kolumbus landet am 12. Oktober 1492 auf Guanahani, einer Insel im Bereich der heutigen Bahamas, und betrat damit erstmals den Boden Amerikas. Er gab der Insel aus Dankbarkeit für die gelungene Überfahrt den neuen Namen San Salvador (span. für: Heiliger Erlöser, Heiland). Er verständigte sich friedlich mit den indianischen Einwohnern und ihrem Häuptling; die Besatzung seiner drei Schiffe trieb mit ihnen etwas Tauschhandel. (Bild: Holzschnitt, nach einer angeblich zeitgenössischen spanischen Darstellung, Buch-Scan von Wolpertinger Müller-Baden, Emanuel (Hrsg.): Bibliothek des allgemeinen und praktischen Wissens, Bd. 2. – Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart: Deutsches Verlaghaus Bong & Co, 1904. – 1. Aufl., Wikipedia.org, Gemeinfrei)

Die „Doktrin der Entdeckung“ – das falsche Narrativ eines unbesiedelten Kontinents

Als Columbus 1492 in San Salvador landete, befanden sich auf dem nordamerikanischen Kontinent zwischen 5-15 Millionen indigene Bewohner, die er fälschlicherweise Indianer nannte. Es existierten Nationen, die regionale und ganz eigene Kulturen, Regeln und Normen entwickelt hatten und praktizierten und in diplomatischen Beziehung zueinander standen. Höchst erstaunlich für die ankommenden, hierachie- und herrschaftsgewohnten Europäer fanden sie bei ihrer Ankunft wenig bis keine Hierarchien vor. Es gab auch kein Militär und keinen aufgeplusterten Regierungsapparat, der die Menschen unterdrückte oder beherrschte. Der Versuch, jemand anderen von der eigenen Religion oder dem eigenen Weltbild zu überzeugen, galt als starker Affront. Jede Person war natürlicherweise mit freiheitlichen Rechten und Souveränität über die eigene Lebensführung ausgestattet.

„Keine Gruppe, kein Individuum hat gegenüber irgendeiner anderen Vereinigung eine herrschaftliche Weisungsbefugnis. Das gilt für das Verhältnis von höher- zu niedrigstufigeren Integrationsebenen, z.B. zwischen Bundesrat und National- oder Stammesversammlungen, aber auch für das von Clan-Versammlung zu Ohwachira usw. Der ‘Graswurzelcharakter’ der irokesischen Demokratie verbindet das Prinzip der Herrschaftslosigkeit mit der Institutionalisierung von Autoritätspositionen, ohne dass hiermit Weisungsbefugnisse gegen das Widerstreben der untergeordneten Ebenen durchgesetzt werden können. [1]”

Jedem stand frei an das zu glauben, was er oder sie für richtig hielt. So sollte vermieden werden, dass es zeitaufwendige und spaltende Diskussionen um verschiedene Weltanschauungen gab. Oren Lyons, Führer und Bewahrer des Wissens der Onondaga, Teil der Sechs Nationen, formulierte es im Jahre 1992 anlässlich des Jahres für indigene Bevölkerungen vor den Vereinten Nationen folgendermaßen:

„Wir lebten zufrieden unter dem großen Gesetz des Friedens. Uns wurde gelehrt Gesellschaften zu gründen, die auf den Prinzipien Freiheit, Fairness, Gerechtigkeit und auf der Kraft des guten Verstandes fußten. Unsere Gesellschaft basierte auf großartigen demokratischen Prinzipien, der Autorität der Menschen und gleichwertiger Verantwortlichkeit von Männern und Frauen. Es war ein großartiges Leben auf dieser Schildkröteninsel und Frieden mit Respekt war überall. [6]”

Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben es mit ihren Worten so:

„Alles läuft reibungslos ab und das sogar ohne Soldaten oder Polizei. Ohne Adelige, Könige, Gouverneure, Präfekte, Richter, Gefängnisse und Gerichtsverfahren. Jeglicher Streit wird von allen Beteiligten geklärt – kein bisschen unserer ausgedehnten und komplizierten Administrationmaschinerie ist notwendig. Es gibt keine Armen und Bedürftigen. Alle sind frei und gleichberechtigt – auch die Frauen. [7]”

Als europäische Siedler nach Amerika kamen trafen sie dort eben nicht auf einen unbesiedelten Kontinent mit ein paar wilden Primitiven. Sie trafen auf das starke und vereinte Bündnis der Nationen. Doch ganz im Sinne der europäischen Geschichte durch Herrschaft machten sie sich auf den Weg, das Land und dessen Einwohner zu beherrschen. Koste es was es wolle!Nach einem umfassenden Genozid der grausamsten Art und Weise befanden sich Ende des 19. Jahrhunderts dort nur noch 238.000 Indigene [8]. Die europäischen Ankömmlinge nahmen sich das Recht jegliches, nicht nach ihren Vorstellungen genutztes oder freies Land zu rauben und im Namen der Kirche und der Zivilisierung unfassbare Verbrechen an den ursprünglichen Bewohnern des nordamerikanischen Kontinents zu begehen. Und sie bedienten sich auch frei am bestehenden Demokratiemodell der Irokesen. Chief Jake Swamp erklärt wie dieses entstand.

Der Weg des Friedensstifters

„Die kraftvolle Geschichte der Geburt der Demokratie beginnt vor sehr langer Zeit. Am Anfang, als unser Schöpfer die Menschen machte, war für alles Lebensnotwendige gesorgt. Unser Schöpfer bat nur um eins: Vergesst niemals die Geschenke der Mutter Erde zu schätzen. Wir wurden gelehrt dankbar zu sein und zu überleben. Aber vor 1000 Jahren, während einer sehr dunklen Zeit unserer Geschichte, hörten die Menschen nicht mehr auf diese ursprünglichen Unterweisungen. Unser Schöpfer wurde traurig, denn es gab viel Verbrechen, Unehrlichkeit, Ungerechtigkeit und Krieg. Also sandte der Schöpfer den Friedensstifter mit der Botschaft, rechtschaffen und gerecht zu sein. Und eine gute Zukunft für die Kinder und kommenden sieben Generationen zu machen. Er rief alle Kriegsparteien zusammen und sagte ihnen: So lange getötet wird, wird es keinen Frieden geben. Es ist eine gemeinschaftliche Anstrengung notwendig, damit sich Frieden durchsetzen kann. Durch sein logisches Denkvermögen und seine spirituellen Möglichkeiten inspirierte er die Krieger ihre Waffen zu begraben und auf ihnen den Baum des Friedens zu pflanzen. Dann gründete er das Große Gesetz des Friedens und vereinte die ursprünglichen fünf Nationen. Das große Gesetz fußte auf demokratischen Prinzipien, die persönliche Freiheit und Grundrechte versicherten, und ein dreiteiliges System, bestehend aus Exekutive, Legislative und Judikative, erschufen. Benjamin Franklin nannte diesen Verband der Irokesen ein beeindruckendes Bündnis von Nationen. [9]”

Die Irokesen sind ein Verbund aus ursprünglich fünf und später sechs Nationen, die nach langer kriegerischer Auseinandersetzung vereint wurden. Dieses Bündnis bestand ursprünglich aus den Mohawk, Seneca, Onondaga, Cayuga und Oneida. Im Jahre 1772 folgte das Volk der Tuscarora. Im 12. Jahrhundert befanden sich diese Nationen im Krieg und es herrschte Zwietracht und Mißgunst sowohl zwischen als auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Es war eine fürchterliche Zeit, voller Gewalt und Hass [10].

In dieser düsteren Epoche erscheint ein Mann auf der Bildfläche, der innerhalb von 40 Jahren alle verfeindeten Stämme besucht und ihre Führungspersönlichkeiten dazu bringt, sich gemeinsam zu versammeln. Der „Friedensstifter“ überbringt allen 50 „Chiefs“ seine Botschaft des Friedens und der Einigkeit. Er schafft das, was unmöglich erschien: Er vereint die fünf bis aufs Blut verfeindeten Nationen unter dem großen Gesetz des Friedens. Sie begraben ihre Waffen unter einer großen, weißen Kiefer, deren Äste ausladend wachsen und jeder Nation, die sich dem Frieden verschrieb, Schutz bietet. Diese Kiefer steht am Onondaga See im Staate New York. Ihre Wurzeln reichen in die 4 Himmelsrichtungen und werden die Wurzeln des Friedens genannt. Der Legende nach saß im Wipfel der Kiefer ein Adler, der mit wachsamen Blick in die Weite blickte, um nahende Gefahren zu entdecken. Als Symbol der Einheit dient ein Bündel aus fünf Pfeilen, welche für die fünf Nationen stehen. Diese sind umwickelt und ihre Einigkeit gibt ihnen die Widerstandskraft, nicht mehr leicht gebrochen werden zu können. Dieser neu gegründete Verbund nannte sich Haudenosaunne, die Menschen des Langhauses, auch bekannt als die Irokesen.

Ein traditionelles Langhaus der Irokesen, bestehend aus einem rechteckigen Stangengerüst von rund zwanzig Metern Länge sowie je sechs Metern Breite und Höhe, konnte fünf und mehr Familien Unterkunft bieten. Die Langhäuser waren Fraueneigentum. (Bild: Wilbur F. Gordy – Gordy, Wilbur F. Stories of American History. New York: Charles Scribner’s Sons, 1913. Page 20, Wikipedia.org, Gemeinfrei)

Flagge der der Haudenosaunee-Konföderation. Von rechts nach links sind symbolisch die Gebiete der Mohawk, Oneida, Onondaga, Cayuga und Seneca gezeigt. (Bild: Himasaram, Zscout370, Wikimedia.org, Public Domain)

Die Einflusstheorie – Lernen die Europäer von den Indigenen?

„Eines der wenigen, kleinen Geheimnisse der Gründerväter ist der Fakt, dass sie ein demokratisches Modell nicht in England, Frankreich, Italien oder einer anderen sogenannten „Wiege der Demokratie“ fanden. Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und andere entdeckten bei den amerikanischen Indigenen die älteste partizipative Demokratie auf der Erde. [11]”

Unter der Einflusstheorie versteht man die Fragestellung, inwiefern die Europäer durch den Kontakt mit der indigenen Lebensweise in ihren Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung und Souveränität beeinflusst wurden. Dieser Fragestellung ging auch Geschichtsprofessor Gregory Schaaf nach und fand aufgrund eines Zufalls Erstaunliches. Es muss sich für ihn wie die Entdeckung des Heiligen Grals angefühlt haben, als er im Jahre 1977 einen Karton auf einem Dachboden öffnete und darin sehr bedeutende Dokumente fand. Zuvor hatte Susanna Morgan mit ihm Kontakt aufgenommen. Susannas Ehemann war der Ururururenkel von George Morgan. George wiederum war der erste „Indianer-Agent“ beim sogenannten kontinentalen Kongress, einer Vereinigung, bestehend aus Delegierten der 13 Kolonien, welche die amerikanische Revolution gegen England vorbereitete.

Gregory Schaaf traf Susanna mehrere Male und sichtete das vorhandene Material. Darunter befanden sich Briefe von George Washington, Thomas Jefferson, Benedict Arnold und John Hancock. Es vergingen einige Treffen zwischen Gregory und Susanna, und eines Tages erwähnte sie, dass sie noch einen Karton mit Dokumenten auf ihrem Dachboden habe, der ihn interessieren könnte. Am Boden des Kartons fand Schaaf die 73 fehlenden Seiten eines privaten Tagebuchs von George Morgan. Diese beschrieben was geschah, als dieser beauftragt wurde, im Jahre 1776 die erste Indianer-Agentur, also einer Art Vermittlungsstelle zwischen Indigenen und Amerikanern, zu gründen.

Aus diesen Dokumenten und aus der oralen Geschichtsschreibung der Irokesen geht nicht nur hervor, dass die „Irokesen zweifellos erheblichen Aufwand betrieben haben, um zwischen den beiden Seiten der Amerikanischen Revolution Frieden zu stiften“, so Schaaf. Die amerikanische Revolution war die Ablösung der Siedler von der britischen Krone und der Beginn der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Weiterhin bestätigten diese und andere Dokumente, dass die europäischen Siedler von der Konföderation der Sechs Nationen und ihrer föderalen Struktur und ihrem Verständnis von Freiheit und Souveränität beeindruckt waren. Die Begeisterung scheint so groß gewesen zu sein, dass sie in Form aufklärerischer Gedanken und Ideen ihren Weg zurück nach Europa fand.

„Das moderne Europa entwickelte sich unter dem Einfluß unserer Ideen. Impulse aus dem amerikanischen halfen mit, das göttliche Recht der Könige und des Adels in Frage zu stellen. Die Aufzeichnungen der Jesuiten gaben der Intelligenzia in Frankreich neue Nahrung, und unser Demokratiebegriff beeinflußte die französische Revolution. Ob Jean Jacques Rousseau oder ein Jahrhundert später Friedrich Engels, sie erhielten geistige Anstöße von uns. Im großen Gesetz des Friedens, der Verfassung der Haudenosaunee, ist die Freiheit der individuellen Meinungsäußerung eines der tragenden Prinzipien. Die heutige Pressefreiheit in Nordamerika und Europa ist eine Fortsetzung der Redefreiheit, die es vor eurer Entdeckung Amerikas nicht gab. Ebenso wenig gab es bei euch Religionsfreiheit. Diese Gedanken der Freiheit kommen nicht nur aus dem Langhaus der Haudenosaunee, sie waren Bestandteil aller indianischen Stammesgesellschaften, sie waren an vielen Plätzen der Welt zu finden, nur nicht im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts. Es war der europäisch-indianische Kontakt, der eure Gesellschaft unterwanderte. [12]”

Im folgenden beschreibe ich worum es sich dabei konkret handelt:

Bauplan für eine echte freiheitlich-demokratische Grundordnung

„Der Irokesenbund läßt sich in politischer Hinsicht knapp als mehrstufiges und vielschichtiges politisches Arrangement von Verwandtschaftsgruppen, Arbeits- und Kriegskollektiven, Zeremonialbünden sowie sich gegenseitig kontrollierender Frauen- und Männermacht skizzieren. Ökonomisch grundlegend sind der Kollektivbesitz an Land und Arbeitsmitteln, die gemeinschaftliche Produktion und die normativ geforderte und rituell gestützte egalitäre Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums. Zahlreiche Versammlungen auf der Ebene der Haushalte, der größeren Verwandtschaftsgruppen, die sich wiederum zu Hälften vereinigten, der Siedlung und schließlich der Stammesnation verhandelten grundsätzlich mit dem Ziel des einmütigen Konsenses. Die fünf Gründungsnationen der Onondaga, Cayuga, Senece, Oneida und Mohawk bildeten zusammen einen Rat der fünfzig Bundeshäuptlinge, der die Grundzüge der egalitären Konsensdemokratie auf das Konföderationsmodell ausdehnte und auf die Beziehungen zu weiteren Indianerstämmen sowie die englischen Kolonien zu erweitern versuchte. [1]“

Bronze-Gedenkstatue Häuptling Clinton Rickard im Niagara Falls State Park. Clinton Rickard (1882-1971) war ein Tuscarora-Häuptling, der für die Gründung der Indian Defense League und die Förderung der Souveränität der amerikanischen Ureinwohner bekannt war. Er setzte sich für die freie Durchreise der amerikanischen Ureinwohner über die Grenze zwischen den USA und Kanada ein und verhinderte die Überflutung des Tuscarora-Reservats. (Foto: Dchrist76, Wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Egalitäre Konsensdemokratie

„Sichtbar wurde die Kontur einer herrschaftslosen Gesellschaft, deren politische Seite, nämlich die Sphäre institutionalisierter Entscheidungsfindung, als egalitäre Konsensdemokratie bezeichnet werden kann. Gemeint ist ein vielstufiges politisches Gebilde, in dem politische Führung immer an die Zustimmung der Geführten gebunden blieb und höhere Instanzen gegenüber untergeordneten über keinerlei Weisungsbefugnis verfügten. Das Verhältnis von Befehl und Gehorsam spielte weder in der politischen noch in häuslichen Belangen eine Rolle, und das Verhältnis der Geschlechter gründete sich auf eine egalitäre Machtbalance. [1]“

Wie oben bereits beschrieben wissen die wenigsten, dass die Gründerväter sozusagen bei den Haudenosaunee in die Lehre gingen, um die Anwendung des Großen Gesetzes des Friedens auf nationaler und internationaler Ebene zu lernen. Ein wichtiges Fundament dieser Gesellschaftsform war der Konsens. Heutzutage unvorstellbar ist der Versuch die Belange aller Menschen, die es betrifft zu integrieren, um eine Lösung zu finden, die für alle gangbar ist. Aus meiner ganz persönlichen Erfahrung vieler Monate gemeinschaftlichen Lebens in der Wildnis kann ich nur bestätigen, dass auf lange Sicht eine Gemeinschaft besser funktioniert, wenn es nicht wiederholt eine kleine Minderheit gibt, die mit Entscheidungen unzufrieden ist und sich deshalb als Verlierer fühlt. Die indigene Clanmutter Alice Piel formulierte es folgendermaßen:

„Sie haben nicht die Macht wie die Staatsoberhäupter in euren Demokratien, in denen immer eine Minderheit zu kurz kommt. Sind unsere Häuptlinge in politischer Mission unterwegs, sei es bei den Lakota in South Dakota oder bei der UNO in Genf, können sie nur vortragen, was im Konsens unter Beisein von uns Clanmüttern besprochen wurde; stellt sich ein neues Problem, das eine Entscheidung verlangt, müssen sie es zu uns zurück ins Langhaus tragen. [13]“

Es war im Verbund der Haudenosaunee normal, dass sich jeder Mann und jede Frau bei großen Versammlungen Gehör verschaffen konnte und sein Anliegen öffentlich mitteilte. Partizipation und das Selbstverständnis mitreden zu dürfen waren also Grundpfeiler des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Verstörend für die Europäer war es immer wieder, dass bei Verhandlungen zwischen „Weißen“ und Chiefs unangekündigt Menschen auftauchten die ganz selbstverständlich zuhörten und sich selber äußern wollten.

„Die Meinungsfreiheit war ein Recht, welches so tief in die Lebensweise der Irokesen eingebettet war, dass es keine Erwähnung in der Verfassung braucht. Brennende Feuer verteilt über das ganze Territorium der Sechs Nationen symbolisierten das Recht auf öffentliche Diskussionen. Zusätzlich zum großen Ratsfeuer am Onondaga-See gab es Feuer in jeder Nation, jedem Clan und bei jeder Familie. Die Frauen hatten ihre Feuer genauso wie Männer ihre Feuer hatten. [14]“

Wenn mehrere Anläufe einer Lösungsfindung in Ratssitzungen scheiterten wurde das Thema vertagt, um weitere Debattenzeit zu ermöglichen. Es galt die Annahme, dass der investierte Mehraufwand Konsenslösungen zu finden im Gegensatz zu Mehrheitsentscheidungen sich lohnend auf das Gemeinwohl und das friedliche Zusammenleben auswirken würden.

Die Rolle der Frauen

„Von der Wildheit zur ­Zivilisertheit
Wir, die Frauen der Irokesen besitzen das Land, das Haus und die Kinder
Wir haben das Recht zur Adoption zum Leben und zum Tod
Wir haben das Recht Führer zu bennenen und sie abzusetzen
Wir haben das Recht Abkommen zu schließen und zu kündigen
Wir haben die Aufsicht über Innen- und Außenpoltik
Wir haben die Treuhandschaft über das Stammeseigentum
Unsere Leben sind genauso gewertschätzt wie die der Männer. [15]”

Als europäische Siedler nach Amerika kamen, trafen sie auf Gesellschaften, in denen Frauen gleichwertig und gleichwürdig behandelt wurden und sich Machtpositionen gleichberechtigt mit den Männern teilten. Genauso wie das fast gänzliche Fehlen von Hierarchien und Unterdrückungsstrategien gegenüber der Bevölkerung muss die gleichwertige Rolle der Frauen auf die Europäer nachhaltig Eindruck gemacht haben. Der Nationenverbund der Haudenosaunee war eine matrilineare Kultur. Das Langhaus der Familie und das dazugehörige Land gehörten der Frau und Mutter. Die Zugehörigkeit zu einem Clan basierte auf der Abstammungslinie der Mutter und nicht des Vaters. 1875 schrieb Frauenrechtlerin und Aktivistin Matilda Joslyn Gage:

„Nie war Gerechtigkeit perfekter und nie war die Zivilisation höher entwickelt als unter dem Matriarchat. Unter diesem System erreichte die Gesellschaftswissenschaft ihre weltweit höchste Form. [16]“

Das große Gesetz des Friedens sah vor, dass es einen Rat der „Clanmütter“ gab. Aufgabe dieses Rates war es unter anderem neue „Chiefs“ vorzuschlagen. Im Gegensatz zur Monarchie war es nicht möglich, dass der Sohn des Königs ohne Kontrolle durch das Volk auch zum König wurde. Die Clanmütter suchten nach Führungspersönlichkeiten, die mitfühlend, demütig, intelligent und kritikfähig waren, um diese als neue Führer vorzuschlagen. Diese mussten dann im weiteren Prozess vom Rat der Clanmütter und dann von der ganzen Nation mittels Konsensdemokratie bestätigt werden.

Eine weitere Aufgabe der Frauen war das Überwachen der aktiven Chiefs und deren Entscheidungen. Sollte sich ein Chief durch ein Verhalten oder Entscheidungen hervortun, die nicht dem Leben dienten, hatten die Clanmütter die Möglichkeit ihn zu verwarnen. Hier sei erwähnt, dass Entscheidungen bei den Irokesen auf dem Sieben-Generationen-Prinzip fußten. Das bedeutet, dass eine Entscheidung im Hinblick auf das Wohl der kommenden sieben Generationen zu fällen war.

Nehmen Sie, lieber Leser sich einen Augenblick und lassen Sie dieses Prinzip in sich einsinken. Stellen Sie sich vor, Sie selber und Verantwortliche in Regierungen, Gerichten und Firmen würden diesen Aspekt des Wohls der kommenden Generationen bei wichtigen Entscheidungen mit einfließen lassen. Das wäre ein großer Schritt in Richtung echter Nachhaltigkeit!

Sollte nach einer Verwarnung der angesprochene Chief wieder mit ähnlichem Verhalten auffallen, gab es ein Gespräch mit den Clanmüttern, um das zu thematisieren. Bei einem weiteren Verstoß war es den Clanmüttern möglich, auf Konsensbasis des Rates der Clanmütter, den Chief seines Amtes sofort zu entheben.

Auch hier bitte ich Sie, dieses Bild für einen Augenblick zu verinnerlichen. Stellen Sie sich vor, Sie wüssten, es gäbe einen Rat weiser und wachsamer Frauen, die als Kontrollgremium auf alle wichtigen Entscheidungen der „Chiefs“ mit der Prämisse schauen, ob sie dem Leben dienen. Sobald eine Person auffällt, die dieses Prinzip verletzt, wird sie mit einer gelben Karte verwarnt und bei wiederholtem Fehlverhalten des Rates oder Langhauses verwiesen.

Frauen saßen außerdem in den Räten, in denen es um Krieg und Frieden ging und konnten darüber entscheiden, ob ein Krieg wirklich sinnvoll und angebracht ist. Auch das mussten sie im Konsens entscheiden. Ein weiterer großer Unterschied zur aktuellen US-amerikanischen Gesellschaft ist die Tatsache, dass der oberste Gerichtshof der Irokesen ausschließlich von Frauen besetzt war und die Judikative somit hauptsächlich den Frauen anvertraut war.

Hier sei noch einmal in Erinnerung gerufen, dass sich die Irokesen zur Natur, also ihrer Lebensgrundlage, als Mutter Erde bezogen. Die Erde und auch der Mond waren weiblich. Das lebensspendende Prinzip war also weiblich und wurde täglich wertgeschätzt und geehrt. Es scheint wahrscheinlich, dass die Entfremdung der Europäer von der Natur durch Zivilisierung, Ackerbau und Viehzucht das Verhältnis zu diesem weiblichen Prinzip stark verändert hat.Ein Teil der feministischen Bewegung in den USA geht auf die Beobachtung indigener Frauen und ihrer Rolle in der Gesellschaft zurück.

„Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert inspirierten die Rolle und Macht der Frauen bei den Haudenosaunee einige der einflussreichsten Architektinnen des modernen Feminismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. [17]”

1891 sprach Elizabeth Cady Stanton vor dem Rat der Frauen und erwähnte in ihrer Rede neben anderen indigenen Gesellschaften explizit auch die Haudenosaunee. Sie endete ihre Rede wie folgt:

„Abschließend würde ich sagen, dass jede Frau hier ein neues Gefühl der Würde und Selbstachtung haben sollte in dem Wissen, dass unsere Mütter über lange Zeit herrschende Macht besaßen und diese im Interesse der Menschheit einsetzten… nicht für eine weibliche Vormachtstellung, sondern für das bis jetzt nicht erprobte Experiment vollständiger Gleichberechtigung. Wenn die vereinigten Gedanken von Mann und Frau eine gerechte Regierung einführen, eine pure Religion, ein zufriedenes zu Hause, eine Zivilisation, in welchen Ignoranz, Armut und Verbrechen nicht mehr existieren. [18]”

Am 18. August 1920 wurde Frauen in den USA das erste Mal das Wahlrecht zugestanden!

Elizabeth Cady Stanton (1815-1902) um 1880. Sie war eine führende Figur der frühen US-amerikanischen Frauenrechtsbewegung. 1891 sprach sie vor dem Rat der Frauen und und erwähnte in ihrer Rede neben anderen indigenen Gesellschaften explizit auch die Haudenosaunee. (Foto: unbekannter Fotograf, Wikipedia.org, Gemeinfrei)

Die Qualitäten von Führungspersönlichkeiten

“In meiner Gemeinschaft hat Führungskompetenz – bei uns bekleiden Männer und Frauen das Amt eines Führers oder einer Führerin – mit der Fertigkeit zu tun, wie gut diese Person jedem zuhören kann und wie diese Person versteht, welche Dinge ablaufen, die vielleicht falsch sind oder Konflikte auslösen können und deshalb eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellen. Unser Wort für Führer*in bedeutet jemand zu sein, der viele Fäden zusammenhalten kann und diese in einem Strang verknüpfen kann. Ein Strang bedeutet dabei Einigkeit im Gleichgewicht mit dem Land. Es bedeutet, dass diese Person eine besondere Fähigkeit dafür haben muss zu fühlen, was die Gemeinschaft sagt, eine besondere Fähigkeit zu verstehen, was gesagt wurde und zu wissen, welche Dinge gerade ablaufen, um all das zusammenzufassen und es den Menschen zu erzählen. Es geht also um Kommunikation und darum in der Lage zu sein zuzuhören, um es dann für andere verständlich zusammenzufassen. So, dass diese dann sagen können: ”Ja! Das ist es.” Es geht nicht darum, anderen zu sagen, was sie zu tun haben oder andere zu führen oder zu zwingen. Es geht darum, das zu versprachlichen und gesammelt auszudrücken, was die Gemeinschaft fühlt, denkt und erinnert und daraus ein Voranschreiten möglich zu machen. Unser System verlässt sich auf diese Art der Wechselbeziehung und diese Art der Kommunikation. [19]”

Wenn ich mir heutzutage Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft anschaue, erblicke ich selten Persönlichkeiten, deren Aussagen oder Vorbild mich tief berühren. Ich erlebe Rechthaberei, Voreingenommenheit, Selbsterhöhung und damit einhergehende Abwertung Anderer. Außerdem erlebe ich die Unfähigkeit Fehler einzugestehen und eine Art Abgehobenheit, die die Führenden dem wahren Leben und den Bedürfnissen der Menschen entfremdet. Selten sehe ich jemanden, von dem ich behaupten würde, diese Person hat sich auf den Weg gemacht, um eine starke Persönlichkeit zu entwickeln und ist bereit ihren Ruf zu verlieren, um ihrem Gewissen treu zu bleiben. Es kommt mir oftmals wie in Zeiten des Adels vor, wenn ich schwarze Limousinen von Politikern vor Ministerien parken sehe und sie von Sicherheitsleuten durch den Pöbel begleitet werden.

Durch mein langjähriges Studium indigener Kulturen habe ich entgegen dieser aktuellen Zustände immer wieder festgestellt, dass ursprünglich Eigenschaften wie Respekt, Demut, die Fähigkeit zuzuhören und ein integrativer Ansatz hoch geschätzte Qualitäten von Führungspersonen waren. Chief Oren Lyons, Chief und Mitglied der Seneca Nation und damit Teil des Bündnisses der Sechs Nationen sprach im Jahre 1992 vor den Vereinten Nationen und beschrieb die erforderlichen Führungskompetenzen so:

„Unsere Führungspersönlichkeiten wurden darin geschult Menschen mit Visionen zu sein und jede Entscheidung im Interesse der kommenden sieben Generationen zu fällen. Sie sollten Mitgefühl und Liebe für die ungeborenen Generationen haben. [20]”

Es werden also ganz neue oder sehr alte Modelle gebraucht, um sicherzustellen, dass Menschen in Führungspositionen kommen, die eine innere Reife und Bewusstheit entwickelt haben, die es ihnen ermöglicht, für das Gemeinwohl zu handeln. Und es werden Systeme und Abläufe gebraucht, die Führende immer wieder daran erinnern, dass sie ihre Macht von den Menschen geliehen bekommen, um ihnen zu dienen. Genau dafür dienen im alten Modell der Irokesen die Konsensdemokratie, der Rat der Clanmütter und die radikale Meinungsfreiheit.

„Denn alle Führungspositionen müssen ohne Erzwingungsstäbe auskommen und bleiben grundlegend von der Zustimmung von Gefolgschaften abhängig, als deren bloßes Sprachrohr sie sich zu verstehen verpflichtet sind. Das Prinzip der Versammlung (Haude 1999 1: 4), in dem Face-to-Face-Kommunikation die allgemeine Informiertheit aller von den Entscheidungen Betroffenen über den politischen Prozess und darüber hinaus die Partizipation an solchen Entscheidungen ermöglicht, strukturiert die formalen und informalen politischen Zusammenkünfte auf allen gesellschaftlichen Ebenen…. Die Inhaber eines der vielen gesellschaftlichen Ämter, insbesondere aber die männlichen wie weiblichen Führungspersönlichkeiten und „Häuptlinge“, hatten keine Möglichkeit, ihre Entscheidungen gewaltsam durchzusetzen, mußten um die Zustimmung ihrer Gefolgschaften ringen. In der Regel war ihre Aufgabe die konsensfähige Bündelung von Argumenten für eine von möglichst allen Beteiligten tragbare Entscheidung. Wer nicht zustimmen wollte oder konnte, war daran nicht gebunden. [1]”

Am Ende meiner Ausführungen zu den konkreten Inhalten des großen Gesetzes des Friedens möchte ich noch einmal auf die Gründerväter der Vereinigten Staaten und ihrer Verfassung zurückkommen: Mit dem Wissen von heute erkennen wir darin den Einfluss der nordamerikanischen Indigenen. Die Gründerväter, also eine rein aus Männern bestehende Gruppe, hatten sich jedoch entschieden, wichtige Elemente nicht zu übernehmen. Dazu zählen die Konsensdemokratie und die bedeutsame Rolle der Frauen in der Gesellschaft.

Schlussbetrachtung

Es scheint so, dass wir schon so lange ohne echte Mitbestimmung und in einer machtdurchtränkten und entarteten Scheindemokratie leben, dass wir vergessen haben, was uns eigentlich zusteht. Eingelullt in Wahlkampfverhalten, Politkersprech, Ablenkung und Konsum sind wir unseres Potenzials beraubt worden und haben es uns nehmen lassen. Wir haben uns daran gewöhnt machtlos zu sein [21]. Ich empfinde es als höchst dringlich, dass jeder und jede ein Bewußtsein dafür entwickelt, dass wir alles Notwendige in unseren Händen halten, um ein friedliches Miteinander zu erschaffen. Teile der notwendigen neuen Strukturen dafür sind im großen Gesetz des Friedens zu finden. Lassen Sie uns auf niemanden warten, diese Prinzipien zu leben, sondern fangen wir in unserer Nachbarschaft an.

Nutzen wir unsere Energie nicht nur für den Widerstand gegen das lebensfeindliche, sondern schöpfen wir Mut, in dem wir alte und ursprüngliche Prinzipien des Lebens wiederentdecken und diese lebendig werden lassen. Unsere Entscheidungen und auch unsere Entscheidung nichts zu tun und zu warten, bis andere etwas tun, beeinflussen das Wohlergehen der kommenden sieben Generationen. Ein indigener Ältester sagte einmal zu mir „Du bist nur so lange unschuldig, so lange du nicht weißt.“ In dem Augenblick, wo ich um Dinge weiß, die der Gemeinschaft dienen können, ist es auch meine Verantwortung, diese Dinge in Handlungen zum Ausdruck zu bringen. Denn, um mit einer letzten indigenen Weisheit zu enden, zitiere ich den Hawaianischen Ältesten Kalani Souza:

„The knowing is in the doing.“

Das Wissen steckt im Tun!

In Dank an die Vorfahren, die indigenes Wissen unter schwersten Bedingungen bewahrt haben und in liebevoller Verbundenheit für die Kinder, Enkel und Urenkel der kommenden Generationen. Denn ihnen steht eine Welt zu, in der ein gutes Leben möglich ist.

Quellen:

[1] Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie; LIT Verlag
[2] <https://www.routledge.com/Stone-Age-Economics/Sahlins/p/book/9781138702615>
[3] <https://lesen.oya-online.de/texte/195-zurueck-in-die-steinzeit.html>
[4] Dr. Jeanette Armstrong, Sylix People
[5] Black Eyed Peas; Where is the Love?
[6] Oren Lyons, Voice of indigenous Peoples, Native People Address the United Nations,
[7] Karl Marx and Friedrich Engels, Selected Works; New York International Pub. Co, New World Paperbacks
[8] <https://www.history.com/news/native-americans-genocide-united-states>
[9] Chief Jake Swamp, The US Constiution and the Great Law of Peace
[10] <https://mollylarkin.com/u-s-constitution-great-law-peace/>
[11] The U.S. Constitution and the Great Law of Peace
[12] John Mohawk Sotsisowah, Brief an die Europäer
[13] Dewasenta, die Clanmutter des Aal-Clans (amerikanischer Name: Alice Papineau) <https://oya-online.de/article/read/235-Von_den_weissen_Wurzeln_des_Friedens.html>
[14] Iroquois book of life, White roots of peace, S. 73
[15] Puck, 16. Mai 1914; Native America and the Evolution of Democracy, S.233
[16] New York Evening Post, 24. September 1875
[17] Exemplar of Liberty, Native America and the evolution of democracy, S. 224
[18] Exemplar of Liberty; Native America and the evolution of democracy, S.232
[19] Dr. Jeanette Armstrong, Sylix
[20] Oren Lyons, Voice of Indigenous Peoples, Native People Address the United Nations, Dezember 1992, <https://ratical.org/many_worlds/6Nations/OLatUNin92.html>
[21] <https://kenfm.de/wir-beenden-das-kontinuum-der-machtlosigkeit-von-bastian-barucker/>

Weiterführende Quellen: