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Im Gespräch:
Amerikas ungeschriebene Geschichte und die Atomwaffen
Der Historiker Peter Kuznick hat zusammen mit dem Filmemacher Oliver Stone ein Buch über Amerikas ungeschriebene Geschichte veröffentlicht. Zain Raza von acTVism Munich hat mit ihm darüber ausführlich gesprochen.
Dieser Text wurde zuerst am 05.03.2019 auf www.actvism.org unter der URL <https://www.actvism.org/wp-content/uploads/2019/03/DE-Kuznick-Public-Transcript.pdf> veröffentlicht. Lizenz: www.actvism.org
Zain Raza (ZR): Willkommen bei ,Kenn dich aus‘, unserem Format zur Aufklärung über historische Entwicklungen und gesellschaftliche Konzepte. Mein Name ist Zain Raza. Heute ist Peter Kuznick zu Gast, Professor für Geschichte und Leiter des Nuclear Studies Institute an der American University. Er ist Autor zahlreicher Bücher und heute sprechen wir über das Buch Amerikas ungeschriebene Geschichte. Peter Kuznick schrieb dieses Buch zusammen mit dem Filmregisseur und Produzenten Oliver Stone. Peter Kuznick, ich danke Ihnen, dass Sie heute zu uns gekommen sind, und freue mich auf dieses Gespräch.
Peter Kuznick (PK): Gerne, ich freue mich, bei Ihnen zu sein.
ZR: Beginnen wir also mit dem Buch, das Sie zusammen mit Oliver Stone geschrieben haben. Könnten Sie uns das Buch vorstellen? Sprechen Sie darüber, warum Sie sich entschieden haben, es zu schreiben, und nennen Sie uns ein paar Fakten, die im historischen Diskurs des Mainstream nicht vorkommen.
PK: Oliver und ich waren 2007 beim Abendessen. Wir sprachen über Geschichte und Politik – wie wir es immer tun – und mittendrin sagt Oliver zu mir: „Peter, lass uns einen Dokumentarfilm drehen.“ Und er hatte die Idee, dass wir einen einstündigen Dokumentarfilm über die Ursprünge des Kalten Krieges und die Atombombenabwürfe von 1945 drehen könnten.
Ich besuchte ihn in der nächsten Woche in New York und da hatte er die Idee für eine zehnstündige, zehnteilige Dokumentarfilmserie. Wir haben zwölf Stunden gearbeitet und mitten in diesem Prozess entschieden, dass wir ein Buch hinzufügen mussten, denn die Menge an Informationen, die wir in 58 Minuten und 30 Sekunden vermitteln konnten, war sehr frustrierend – auch wenn Oliver schnell sprach. Und da landeten wir also – zunächst dachten wir, wir setzen es als Bildband um, wie die Bücher von Ken Burns – aber dann wollten die Verleger alle ein richtiges Buch. Was mir auch mehr zusagte. Also haben wir am Ende ein 800-seitiges Buch geschrieben, das ich hier habe, ich glaube, Sie haben es gezeigt: The Untold History of the United States, und wir haben auch The Concise Untold History of the United States herausgebracht, was keine Kurzfassung ist, sondern lediglich auf den dokumentarischen Drehbüchern basiert.
Sie wissen, dass Oliver einen umstrittenen Ruf hat wegen Filmen wie JFK. Wir wussten, dass wir angegriffen werden würden, also haben wir mehr als 100 Seiten Fußnoten in der Langfassung. Wir haben nun die neue Ausgabe geschrieben, die Anfang April erscheint und mehr als 900 Seiten umfassen wird – wir haben ein 150-seitiges Kapitel über die Ereignisse in der Welt zwischen 2012 und 2019 hinzugefügt. Es führt uns also bis in die Gegenwart.
Die erste Idee war, dass es eine Geschichte des American Empire und des nationalen Sicherheitsstaates werden sollte. Und wir nannten sie The Untold History of the United States, Amerikas ungeschriebene Geschichte. Wir haben uns mit verschiedenen Titeln beschäftigt, versucht, den besten zu finden, und haben uns für diesen entschieden. Es beginnt im späten 19. Jahrhundert. Einer der Wendepunkte in der amerikanischen Geschichte ist der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898, gefolgt von der US-Besetzung der Philippinen 1899 und dem Massaker, das dort in den nächsten Jahren stattfand.
So begannen sich die Vereinigten Staaten zu verändern, während die Vereinigten Staaten einst eine führende demokratische – sogar pro-revolutionäre – Nation waren, die selbst aus einer Revolution geboren wurden, so entwickeln sie sich allmählich zur weltweit führenden konterrevolutionären Kraft. Dann fangen die Vereinigten Staaten an, in jedem Land zu intervenieren. Zunächst vor allem in Mittel- und Südamerika, aber nach der Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg beginnen sie, eine zunehmend globale Rolle zu übernehmen und New York ersetzt London als Zentrum der Weltfinanzen.
Aber der wirklich große Wendepunkt für uns ist der Zweite Weltkrieg – nicht nur die Niederlage des Faschismus und des japanischen Militarismus –, sondern der Einsatz der Atombombe und dann der Beginn des Kalten Kriegs. So verändert sich die Welt dramatisch. Die Vereinigten Staaten beginnen, ein echtes globales Imperium aufzubauen, wir bekommen viele Basen von den Briten im Austausch für die Kriegsschiffe, die wir ihnen gegeben haben, und wir schaffen dieses globale Netzwerk.
Bis 1948 gibt es George Kennan, den Architekten des Kalten Kriegs, den Architekten der US-Eindämmungspolitik, der ein geheimes Memo schreibt, wo er sagt: „Wir haben 6,3% der Weltbevölkerung, aber wir kontrollieren 50% des Reichtums der Welt. Die Herausforderung, vor der wir in dieser kommenden Zeit stehen, besteht darin, diese Position der Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Wir werden das nicht mit idealistischen Slogans und Pressefreiheit und der Betonung von Freiheit schaffen, sondern nur durch Machtdemonstration.“ Und das sollte tatsächlich das Konzept der USA für den Kalten Krieg bestimmen. Im August 1949 testen die Sowjets ihre Atombombe, 1949 finden die Chinesische Revolution und die Gründung der NATO statt, und wir werden die Verhärtung der Fronten beobachten können. In den Jahren 1950 bis 1953 haben wir den Koreakrieg, der immer noch nicht offiziell beendet ist, und so kommen wir an in dieser Zeit der 50er Jahre.
Tatsächlich ist es interessant, dass das Bulletin der Atomwissenschaftler vor einem Jahr, 2018, die Zeiger der Weltuntergangsuhr auf zwei Minuten vor Mitternacht bewegt hat – am kürzesten davor seit den frühen 1950er Jahren – und 1952-53 waren die US-Tests der Wasserstoffbombe und dann sowjetische Tests der Proto-Wasserstoffbombe 1953. Also haben sie die Zeiger damals auf zwei Minuten vor Mitternacht bewegt und jetzt stehen sie wieder auf zwei vor 12.
Das sind also die Arten von Problemen, die Oliver und ich betrachten. Die Geschichte davon, wer den Planeten besitzt. Die Folgen der Pax Americana, in der die Vereinigten Staaten – nun, wenn man es global betrachtet: Die acht reichsten Menschen der Welt haben mehr Reichtum als die 3,6 Milliarden ärmsten Menschen – und das ist die verrückte Welt, die wir aufgebaut haben. Eine Welt, in der zwei Länder, die Vereinigten Staaten und Russland, 93% der Atomwaffen weltweit kontrollieren. Zwei Personen, Donald Trump und Wladimir Putin, haben ein Vetorecht über den Fortbestand unserer Art. Das sind die Dinge, die uns Sorgen bereiten.
Die Tatsache, dass die USA jetzt neun Länder bombardieren – wer tut so etwas? Die USA haben ein Imperium mit 800 Basen. Wir kommen also zu dieser ganzen Frage des amerikanischen Exzeptionalismus, der der Kern von so vielem ist, was Amerika tut. Die Vorstellung, dass sich die Vereinigten Staaten nicht nur von allen anderen Ländern unterscheiden, sondern auch besser sind als alle anderen Länder. Die Idee, dass die Vereinigten Staaten – während andere Länder motiviert sind, mehr Territorium oder Macht oder politische Kontrolle oder militärische Stärke zu erlangen – nur Freiheit und Demokratie verbreiten wollen. Das ist die Vision, die den Amerikanern von Anfang an vermittelt wird – dass wir wohlwollend sind, dass wir selbstlos sind, dass wir großzügig sind, dass wir friedliebend sind. Die Realität ist leider eine sehr, sehr andere. Und so versuchen wir in dieser Welt, zu verstehen was geschieht und was eigentlich geschehen sollte.
ZR: Sprechen Sie über die Quellen Ihres Buches. Wie haben Sie den historischen Verlauf analysiert, im Gegensatz dazu, wie traditionelle historische Mainstream-Bücher geschrieben werden?
PK: Ich würde nicht sagen, dass wir so grundlegend anders sind, denn die Wissenschaft in den Vereinigten Staaten und einem Großteil der Welt ist wirklich eine Bastei des Progressivismus. Unsere Interpretationen entsprechen vielmehr den linken Akademikern in den Vereinigten Staaten und der linke Flügel dominiert sicherlich die meisten historischen Berufe und viele andere wichtige Sozial-, Kunst- und Geisteswissenschaften; daher sind wir nicht völlig konträr zu ihnen. Was uns nicht passt, ist das, was in den High Schools gelehrt wird. Die Vision, die man im Fernsehen vermittelt bekommt. Und so gingen wir relativ konventionell an die Sache heran. Wir hatten acht meiner Doktoranden als Forscher angestellt – wir haben einfach alles aufgesogen. Wir haben viel Recherche betrieben, in Bezug auf Dokumente, in den Archiven der National Security, beim Cold War International History Project. Es gibt viele sehr, sehr gute Quellen da draußen. Das Problem war also nicht, Material zu finden. Das Problem war, es in einer sinnvollen und für die Menschen ansprechenden Form darzustellen.
Wir haben also eine zwölfstündige, zwölfteilige Dokumentarfilmserie herausgebracht, es lief eine zehnstündige Sendung auf Showtime und dann wurde sie in der ganzen Welt ausgestrahlt – außer in China. Dann erschien die Langfassung in etwa 20 Sprachen und wir arbeiten noch an mehr. Die kompakte Fassung des Buchs ist in vielen Sprachen erhältlich und das hier dürfte die deutsche Fassung sein. Erst vergangene Woche ist der zweite Band unserer vierbändigen Ausgabe für junge Leser erschienen, die sich an Acht- bis Zwölfjährige richtet. Daneben ist auch eine Graphic Novel in Vorbereitung. Wir versuchen also, die Menschen auf jede erdenkliche Weise zu erreichen, sie dazu zu bringen, einfach mehr zu hinterfragen, zum Denken anzuregen, Gegendarstellungen und unterschiedliche Sichtweisen zu entwickeln, um die Geschichte unseres Planeten in den letzten über 120 Jahren zu betrachten.
ZR: Sie erwähnten Atomwaffen und die Tatsache, dass die Atomwissenschaftler die Weltuntergangsuhr auf 2 Minuten vor Mitternacht gestellt haben. Ich möchte verstehen, wie alles begann, und auch ein Kapitel Ihres Buches befasst sich damit: Japan. Was geschah wirklich am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden? Die Wahrnehmung hier in Deutschland ist, dass es für die USA unerlässlich war, dies zu tun, damit der Krieg beendet werden konnte. Allerdings bieten Sie in Ihrem Buch eine andere Perspektive. Erzählen Sie uns davon.
PK: Nun, meine Studenten müssen eine 12-stündige Vorlesung zu diesem Thema hören. Ich werde versuchen, es ein wenig zusammenzufassen. Die grundlegenden Fakten, die die Menschen wissen müssen: Nach der Schlacht von Saipan im Juli 1944 wussten die Japaner, dass sie besiegt waren, sie hatten keine Aussicht mehr auf einen klassischen militärischen Sieg. Sie begannen heimlich zu untersuchen, wie man den Krieg beenden konnte. Im Februar 1945 schrieb Prinz Konoe, der ehemalige Premierminister, ein Memo an den Kaiser: „Ich bedaure, es Ihnen mitteilen zu müssen, aber die Niederlage ist unvermeidlich. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie wir die kommunistische Revolution im Falle unserer Kapitulation verhindern können.“
Der US-Geheimdienst hatte im Grunde genommen dasselbe gesagt, dass ihr Transportsystem zusammenbrach, ihre Nahrungsmittelversorgung schrumpfte, der Zugang zu Energie schwand. Die Japaner wurden in vielerlei Hinsicht besiegt, aber die amerikanische Strategie war, dass wir eine Blockade haben müssten, ihre Städte bombardieren müssten, und einmarschieren müssten, und so war der Glaube in den Vereinigten Staaten – und das ist die öffentliche Irreführung – dass, wenn die Vereinigten Staaten die Atombomben nicht abgeworfen hätten, die USA in Japan hätten einmarschieren müssen. Truman schreibt in seinen Memoiren, dass General Marshall ihm sagte, dass eine halbe Million Männer bei der Invasion fallen würden, die Schätzungen gingen bis zu einer Million. Unter diesen Umständen rechtfertigte man die Atombombenabwürfe also als eigentlich humanen Akt, mit dem nicht nur eine halbe Million amerikanische Leben gerettet würden, sondern auch Millionen von Japanern, die bei der Invasion getötet worden wären. Also war es für Truman eine gute Sache, Atombomben einzusetzen anstatt einzumarschieren.
Die Realität sieht ganz anders aus – völlig umgekehrt – die Realität ist, dass die Japaner bereits militärisch besiegt waren und nach einem Weg suchten, den Krieg zu beenden. Wir wissen das aus den japanischen Codes zu Beginn des Kriegs, wir haben ihre Telegramme abgefangen, und die Japaner hatten entschieden, dass sei ihr bester Weg, bessere Kapitulationsbedingungen zu bekommen – die Kapitulationsbedingungen stellten ein großes Problem dar. Die USA forderten nämlich die bedingungslose Kapitulation – was für Japan die Hinrichtung des Kaisers als Kriegsverbrecher bedeutete. Den Japanern galt der Kaiser als
Gott und MacArthurs Südwest-Kommando gibt im Sommer ‘45 einen Hintergrundbericht heraus, der besagt, dass die Hinrichtung des Kaisers für sie wie die Kreuzigung Christi für uns wäre – alle würden kämpfen und sich opfern wie Ameisen. Wir wussten, dass die Japaner eine bedingungslose Kapitulation niemals auf diese Weise akzeptieren würden. Eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden, war also, die Kapitulationsbedingungen zu ändern.
Roosevelt starb am 12. April 1945. Die Person, die ihn hätte ersetzen sollen, war sein ehemaliger Vizepräsident Henry Wallace. Ich will hier nicht zu viel verwirren, aber die demokratische Versammlung am 20. Juli 1944 – Gallup machte eine Meinungsumfrage, wen die Leute als Vizepräsidenten wünschten. 65% der amerikanischen Wähler sagten, sie wollten Henry Wallace, 2% sagten, sie wollten Harry Truman. Aber die Parteibosse kontrollierten die Versammlung und so ernannten sie Truman statt Wallace.
Oliver und ich argumentierten, dass wenn Wallace Vizepräsident geblieben wäre, er am 12. April zum Präsidenten ernannt worden wäre und es im Zweiten Weltkrieg keinen Atombombenangriff und möglicherweise auch keinen Kalten Krieg gegeben hätte. Aber das ist eine andere Diskussion. Truman ist jetzt an der Macht. Alle Berater von Truman mit Ausnahme von Jimmy Byrnes drängen ihn, die Kapitulationsbedingungen zu ändern und die Japaner wissen zu lassen, dass sie ihren Kaiser behalten können. Truman weigert sich, das zu tun. Byrnes sagte ihm, er würde politisch gekreuzigt, wenn er die Japaner den Kaiser behalten lassen würde. Das wäre also ein Weg, den Krieg früher zu beenden. Und wir wissen das aus den abgehörten Nachrichten – also die eher schlecht durchdachte japanische Strategie war, zu versuchen, die Sowjets dazu zu bringen, in ihrem Namen zu intervenieren, um sich (Japan) bessere Kapitulationsbedingungen zu verschaffen.
Was sie nicht wussten, war, dass wir einen Deal hatten, und in Jalta bekam Roosevelt schließlich Stalin dazu, drei Monate nach Ende des Kriegs in Europa dem Pazifikkrieg beizutreten.
Im Gegenzug dafür würden die Russen viele Zugeständnisse bekommen. Die Russen hatten kein Interesse daran, den Japanern zu helfen, bessere Bedingungen auszuhandeln, bevor Russland in den Krieg eintrat. Aber der andere Weg, den Krieg zu beenden, war, die sowjetische Invasion abzuwarten, die um den 8./9. August herum beginnen sollte; drei Monate nach Ende des Kriegs in Europa. Der US-Geheimdienst und der britische Geheimdienst hatten monatelang gesagt, dass alle Japaner wissen werden, dass weiterer Widerstand zwecklos ist, sobald die Sowjets in den Krieg eintreten. Dass der Krieg mit dem sowjetischen Beitritt fast von selbst enden würde. So treten die Sowjets ein, aber um sich noch ein wenig mehr abzusichern, fliegt Truman nach Potsdam – ich glaube, es war der 15. Juli. Stalin versichert ihm, dass die Russen pünktlich eintreffen würden. Truman schreibt in dieser Nacht in sein Journal: „Stalin ist am 15. August im Japsenkrieg dabei. Japsen fertigmachen, wenn das passiert.“ Truman wusste, dass die Japaner am Ende wären, wenn die Sowjets einfielen. Er schreibt am nächsten Tag an seine Frau Bess: „Die Russen kommen dazu, wir beenden den Krieg ein Jahr früher, denk an all die Kinder, die nicht getötet werden.“ Truman wusste das. Und Truman bezieht sich am 18. Juli auf das abgefangene japanische Telegramm als „ein Telegramm des japanischen Kaisers, der um Frieden bittet“.
Also wussten die amerikanischen Führer alle ganz klar, dass die Japaner erledigt waren. Dass es zwei Möglichkeiten gab, den Krieg zu beenden, ohne die Atombomben zu nutzen, und dass die Sowjets besser als alle anderen wussten, wie verzweifelt die Japaner kapitulieren wollten – denn der ehemalige Premierminister Hirota hatte sich ein paar Mal mit dem sowjetischen Botschafter in Tokio getroffen, Malik, und Malik schreibt an den Kreml zurück, dass die Japaner verzweifelt aufgeben wollen. Das passiert im Juni und Juli.
Daran schließt die Frage an, warum also nutzen die Vereinigten Staaten die Bombe? Truman ist nicht blutrünstig, er ist nicht Hitler; aber das wahrscheinliche Motiv der Vereinigten Staaten, die Bombe zu nutzen, war, den Sowjets eine Botschaft zu senden: falls sie sich in die Pläne der USA in Europa oder Asien einmischen, würde das mit ihnen geschehen. Und genau so interpretierten es alle sowjetischen Führer: dass die Bombe nicht auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurde, sondern auf Moskau und St. Petersburg (metaphorisch gesprochen, um eine Botschaft an die Sowjetunion zu senden). Darum drehte sich alles. Wir sprechen hier von einem Schlüsselfaktor zu Beginn des Kalten Kriegs. Weil die USA und die Sowjets zu diesem Zeitpunkt noch Verbündete waren und es viele Kräfte gab, die versuchten, uns zusammenzuhalten.
Der Kalte Krieg war eine katastrophale Zeit in der Geschichte der Menschheit. Wir haben Glück, dass wir ihn überlebt haben. Die USA haben das Monopol auf Atomwaffen und es wird weiter ausgebaut. Die Sowjets testen ihre Bombe im August ‘49 und los geht das Rennen um die Wasserstoffbombe.
Und dann erreichen wir den Höhepunkt… Früher unternahm ich mit meinen Studenten jeden Sommer eine Auslandsreise nach Hiroshima und Nagasaki – im Rahmen eines Kurses, den wir an der American University anbieten – und ich schreibe jedes Mal die Inschrift der Tafel im Friedensmuseum Hiroshima auf, und zwar dass die Welt bis 1985 das Äquivalent von 1,47 Millionen Hiroshima-Bomben angesammelt hatte. Wir hatten 70.000 Atomwaffen. Wofür brauchen wir 1,5 Millionen Hiroshima-Bomben? Wie oft müssen wir alles auf diesem Planeten töten? Und wir können das heute noch tun. Wenn wir etwas Zeit haben, würde ich gerne über den atomaren Winter und den aktuellen Stand dieses Atomwaffenwahns sprechen.
ZR: Ich möchte das so kurz wie möglich zusammenfassen: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kommt mit Truman also ein undemokratischer Anführer an die Macht, der einen Progressiven auf die Ersatzbank verbannt. Präsident Truman wusste, dass es bessere Wege gab, die Kapitulation herbei zu führen, und er beschloss dennoch, Hiroshima und Nagasaki zu bombardieren, was den Kalten Krieg auslöste und zu der Situation geführt hat, in der wir uns heute befinden. Ist das korrekt?
PK: Es ist eigentlich noch viel schlimmer. Truman sagte bei mindestens drei Gelegenheiten ausdrücklich, dass ihm bewusst war, dass er etwas anstoßen würde, das alles Leben auf dem Planeten beenden könnte. Sein erstes großes Briefing zur Bombe – er war seit 82 Tagen Vizepräsident, wurde kaum beachtet und bis dahin nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir eine Atombombe bauen. Er erfährt erst, nachdem er bei der Notfall-Sitzung des Kabinetts in der Nacht des 12. April vereidigt wurde, von dem Bombenbauprojekt. Kriegsminister Stimson erwähnt es ihm gegenüber und räumt ein, er sei zu beschäftigt gewesen und habe das nicht wirklich auf dem Schirm gehabt. Am nächsten Tag fliegt Jimmy Byrnes aus South Carolina ein und informiert Truman über alles. In seinen Memoiren schreibt Truman, Jimmy Byrnes sprach von einer „Waffe, groß genug, um die ganze Welt zu zerstören“. Truman erhält am 25. April ein ausführliches Briefing von General Groves, dem Leiter des Manhattan-Projekts, und Kriegsminister Stimson und notiert danach Stimsons Worte: „Selbst wenn wir die Bombe haben, sollten wir sie vielleicht nie benutzen, weil sie das Leben auf dem Planeten beenden könnte.“ Truman schreibt: „Ich stimmte ihm zu.“
Als Truman am 25. Juli in Potsdam ist, bekommt er einen umfassenden Bericht darüber, wie zerstörerisch der Bombentest in Alamogordo, New Mexico, war und er hält in dieser Nacht in seinem Journal fest: „Wir haben die schrecklichste Bombe der Geschichte entdeckt.“ Er sagt: „Das könnte die Prophezeiung vom großen Brand im Euphrattal nach Noahs Arche sein.“ Hunderttausende unschuldiger Menschen in Hiroshima und Nagasaki zu töten ist ein Kriegsverbrechen. Aber einen Prozess anzustoßen, von dem man weiß, dass er alles Leben auf dem Planeten beenden kann, geht weit darüber hinaus. Das ist die Realität, mit der wir alle seitdem leben.
Die Vereinigten Staaten hatten 1945 acht Fünf-Sterne-Admiräle und -Generäle. Sieben von ihnen gaben zu Protokoll, dass die Atombombenabwürfe entweder militärisch unnötig, moralisch verwerflich oder beides waren. Trumans persönlicher Stabschef war Admiral William Leahy, der auch Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff war. Leahy sagte, dass die Japaner bereits vor der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki besiegt waren. Er sagte: „Der Einsatz dieser schrecklichen Waffe wirft uns auf die moralische Ebene der Barbaren im tiefsten Mittelalter zurück.“ Gerald MacArthur, der Atombomben in Korea einsetzen wollte, sagte, „die Japaner hätten im Mai – drei Monate früher – aufgegeben, wenn wir ihnen gesagt hätten, dass sie den Kaiser behalten könnten.“
Eisenhower wurde von Stimson in Potsdam über den bevorstehenden Einsatz der Bomben informiert und Eisenhower sagte: „Das hat mich sehr bestürzt. Und dann fragte er mich nach meiner Meinung und ich sagte ihm, dass mein Krieg in Europa bereits vorüber sei. Aber was ich da von dir höre, bestürzt mich sehr.“ Weiter sagte er: „Zunächst einmal waren die Japaner bereits besiegt und es bestand keine Notwendigkeit, eine solche Waffe einzusetzen. Zweitens hasste ich es, mit ansehen zu müssen, wie unser Land das erste ist, das eine solche Waffe einsetzt.“ Die anderen führenden Militärs äußerten sich ähnlich.
Was den Krieg schließlich beendet, ist nicht die Atombombe, sondern die Invasion der Sowjets. Das war die Unbekannte in der Gleichung. Die USA bombardierten bereits seit Monaten japanische Städte. Wir griffen über 100 japanische Städte an. Die Stadt Toyama wurde zu 99,5% zerstört. Die Japaner akzeptierten, dass wir Bomben zünden und ihre Städte auslöschen konnten. Das haben sie akzeptiert. Für sie machte es keinen großen Unterschied, ob es sich um ein Flugzeug und eine Bombe oder 200 Flugzeuge und 10.000 Bomben handelte. Sie akzeptierten, dass wir in der Lage waren, ihre Städte auszulöschen.
Was alles änderte, war die riesige Rote Armee, die sie die ganze Zeit über gefürchtet hatten und die nun in die Mandschurei und auf Sachalin eindrang. Auf die Frage, warum die Japaner so schnell kapitulieren mussten, antwortete Premierminister Suzuki am 10. August: „Nun, sie haben bereits unsere Kwantung-Armee in der Mandschurei durchbrochen und Karafuto erobert. Morgen erreichen sie Hokkaido – die Grundfeste Japans wird zerstört. Wir müssen vor den Amerikanern kapitulieren, solange wir können.“
Und so lassen die USA sie letztendlich ihren Kaiser behalten, denn es lag in ihrem Interesse, die Stabilität danach zu sichern. Aber wenn Sie das offizielle US Navy Museum in Washington, D.C. besuchen, gibt es dort eine Tafel, auf der korrekt steht, dass im japanischen Kabinett die Atombomben kaum diskutiert wurden. Die Diskussionen konzentrierten sich auf die sowjetische Invasion und das hat sie davon überzeugt, den Krieg zu beenden. Und wir wussten das; unsere Geheimdienste berichteten, dass das der Fall sein würde. Und so beginnt für die Welt 1945 ein schreckliches neues Kapitel, nach dem Ende des Kriegs und zu Beginn des atomaren Wettrüstens.
ZR: Lassen Sie uns das aufgreifen. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden die Arsenale stark aufgerüstet und viele Länder folgten dem Beispiel. In Bezug auf Raketen und andere Atomwaffen sind auch einige Sicherheitsvereinbarungen getroffen worden. Sprechen Sie ein wenig über die Geschichte jener Verträge, die geschlossen wurden, und darüber, ob sie ihre Ziele erreicht haben. Welchen Status haben sie heute?
PK: Zum einen gab es die SALT-Verträge. Die wichtigsten Verträge waren aber der ABM-Vertrag, den die USA 2002 aufgehoben haben, und der INF-Vertrag – heute verstehen die Europäer, wie wichtig er war; die USA hatten Tomahawk- und Pershing-Raketen in Deutschland und anderen Teilen Europas stationiert und die Sowjets hatten die SS-20.
Wenn diese abgeschossen wurden, gab es eine Vorwarnzeit von etwa 10 Minuten. Bei Langstreckenraketen sind es immerhin 30 Minuten, aber bei einem so kleinen Zeitfenster müssen Entscheidungen sofort getroffen werden, und Geheimdienstinformationen können fehlerhaft sein, wie wir wissen.
Der INF-Vertrag war also sehr wichtig – Donald Trump hat angekündigt, dass er auch aus dem INF-Vertrag aussteigen will. Aus dem ABM-Vertrag ist man bereits raus. Aus dem INF-Vertrag ebenfalls bald. Im ersten Telefongespräch zwischen Putin und Donald Trump nach der Wahl von Trump sagt Putin zu ihm: „Wir müssen über die Verlängerung des neuen START-Vertrags sprechen.“ Der neue START-Vertrag begrenzte die Anzahl von Atomwaffen und Trägerraketen. Das war also das letzte Hemmnis für ein atomares Wettrüsten, für eine atomare Anarchie. Putin sagt, man müsse ihn verlängern, wenn er 2021 ausläuft. Trump legt das Telefon zur Seite und fragt seine Berater im Raum: „Was ist der neue START-Vertrag?“ Sie erklären es ihm, er geht zurück ans Telefon und sagt: „Nein, nein, der gefällt uns auch nicht. Den werden wir nicht verlängern.“
Das ist das Beängstigende an dem, was gerade vor sich geht. Trump sagt: „Was nützt es, Atomwaffen zu besitzen, wenn wir sie nicht einsetzen können?“ Für den gesunden Menschenverstand bedeutet das, dass wir sie loswerden sollten. Für Donald Trump bedeutet das, dass wir sie besser nutzbar machen sollten. So veröffentlichte Trump im Februar 2018 seine neue Nuclear Posture Review, die nicht nur über die Entwicklung neuer Waffen spricht, sondern auch über die Herstellung kleinerer Waffen, die besser verwendbar sein werden.
Aber man kann das nicht einfach Trump zuschreiben, denn es hat viele Mitverschwörer, wenn es darum geht, das Leben auf diesem Planeten beenden zu wollen. Zu denen zählte auch Barack Obama.
Erinnern wir uns an 2009, als Obama den Friedensnobelpreis für seine Prager Rede erhielt, in der er zur Abschaffung von Atomwaffen aufrief. Wir dachten damals, das sei ziemlich seltsam – ein Mann, der zwei Kriege führt und andere Länder bombardiert, sollte den Friedensnobelpreis erhalten –, aber es war die Anerkennung für seinen Ruf nach einer Welt ohne Atomwaffen. Nun, wie er in dieser Rede sagte, würden die USA nicht das erste Land sein, das seine Atomwaffen abschaffen würde. Nein, sie würden das letzte Land sein. Und er war seinen Worten treu geblieben. Obama startete ein über 30 Jahre laufendes Modernisierungsprogramm. Es sollte ein Billionen-Dollar-Programm werden und das gesamte Spektrum des Atomwaffenarsenals abdecken. Die offizielle Schätzung liegt heute bei 1,2 Billionen, die inoffizielle bei 1,7 Billionen. Ziel war es, Atomwaffen effizienter und nutzbarer zu machen. Das ist also Obamas Vermächtnis, das Trump angetreten hat und doppelt übererfüllt.
Als Reaktion auf die amerikanischen Maßnahmen modernisieren nun alle neun Atommächte ihre Arsenale. In seiner Rede zur Lage der Nation am 1. März 2018 erklärte Wladimir Putin, dass Russland fünf neue Atomwaffen entwickelt hat, die die US-Raketenabwehr umgehen können. Aber das passiert überall. Dieser Marsch, dieses Hetzen in den Wahnsinn auf globaler Ebene. Wir sprechen hier von Atomwaffenwahnsinn und sehr wahrscheinlich werden am 24. Januar die Zeiger der Weltuntergangsuhr wieder ein Stück auf die Zwölf zubewegt.
Das kommt also auf uns zu. Daneben erleben wir auch noch den Klimawahnsinn. Die Experten hatten gesagt, dass die globale Erwärmung seit der industriellen Revolution um ein Grad Celsius zugenommen hat. Die führenden Experten sagten, dass der Planet die Schäden eines Anstiegs von höchstens zwei Grad Celsius tolerieren kann. Wenn wir darüber hinausgehen, bedeutet das: Ein Anstieg von drei Grad Celsius würde einen Großteil Indiens und Chinas unbewohnbar machen. Das bedeutet, dass die Küstenstädte verlassen werden müssen, dass die Polkappen schmelzen, dass die Inselstaaten im Wasser versinken werden. Das sind katastrophale Ausmaße. Jetzt hoffen viele Experten, dass es bei einem Anstieg von drei Grad bleibt. Manche sprechen von vier, die Weltbank etwa und andere sagen vier Grad Celsius voraus. Wenn wir fünf Grad erreichen, kann die menschliche Zivilisation einpacken.
Gibt es überhaupt Führung in dieser Angelegenheit, globale Führung in all diesen Fragen? Das beunruhigt mich nämlich schon sehr. Ich schaue mir unsere Staatsoberhäupter an und sehe da nur Kleingeister – alles Nationalisten – Trumps Slogan „Make America Great Again“, der den amerikanischen Nationalismus unterstützt, Sie wissen schon. Putin mag ein wenig besser sein, aber er bietet nicht die Art von globaler Führung, die wir brauchen. Xi Jinping – was er und die Chinesen im Südchinesischen Meer tun, ergibt für mich keinen Sinn, diese Neun-Striche-Linie. Es gibt genug Reichtum und Ressourcen, die man teilen kann.
Aber wir haben niemanden, der für die Menschheit spricht – wir haben niemanden, der für den Planeten spricht.
Ich bin gerade aus Indien zurückgekommen und wollte mich mit Rahul Gandhi treffen, aber wir haben es nicht geschafft. In Indien gibt es im Mai Neuwahlen. Es besteht eine gute Chance, dass Rahul Gandhi an der Spitze einer breiten progressiven Koalition der nächste Premierminister wird. Indien wird China in Bezug auf die Bevölkerungszahl bald überholen. Bis 2030 wird Indien die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Und Indien hat eine politische Tradition, die auf Gandhi und Nehru zurückgeht. Nehru führte nicht nur die Bewegung der Blockfreien Staaten gegen die USA und die Sowjetunion an, sondern auch die Bewegung für die Abschaffung von Atomwaffen und Einstellung der Atombombentests. Indien hat diese stolze Tradition und wir brauchen ein paar neue Führungspersönlichkeiten. Ich kann mir ein Bündnis zwischen Rahul Gandhi und Moon Jae-in vorstellen.
Warum gibt es diesen Fortschritt in Indien? Nicht wegen des Clowns in Washington, Sie wissen schon, Windel-Donald, sondern weil auch Korea Fortschritte macht. Wegen der Candlelight-Revolution, die Moon Jae-in an die Macht gebracht hat. Und weil Moon Jae-in die Initiative ergriff, auf Nordkorea zuzugehen, und die Nordkoreaner reagierten. Trump versuchte zunächst, das zu sabotieren. Wir dachten vor einem Jahr, dass wir kurz vor einem Krieg stehen. Der Leiter des Council on Foreign Relations sagte, es bestehe eine 50%-ige Chance, dass die USA mit Nordkorea in den Krieg ziehen. Die Lage war sehr angespannt. Aber Moon Jae-in übernahm die Initiative. Und ich stellte mir vor, wie eine Kraft, ein Gegenpol entstand, aus Nationen, die sich wirklich für Frieden und Entwicklung und Abrüstung einsetzen wollen, vielleicht um Rahul Gandhi und Moon Jae-in und ein paar anderen herum, die das ernsthaft angehen wollen. Anstelle der Kriegstreiberei, die wir derzeit überall erleben.
ZR: Lassen Sie uns einmal davon ausgehen, dass es zu diesem Thema keinerlei Berichterstattung geben wird – keine Diskussionen, Analysen oder Lösungsvorschläge. Sprechen Sie kurz darüber, was ich als Einzelner tun kann, um andere Menschen hierfür zu sensibilisieren. Und darüber, was junge Menschen heute aus der Anti-Atombewegung der 1980er Jahre lernen können. In fünf Minuten, bitte.
PK: Die Anti-Atombewegung der 80er Jahre ist ein gutes Beispiel, weil es sich damals anfühlte wie der Neustart des Kalten Kriegs. In der Zeit zwischen der Kubakrise und der Wahl von Ronald Reagan war es relativ ruhig, was die Atomwaffenfrage anging. Dann, als Reagan die politische Bühne betrat und über seine Version einer Achse – das Evil Empire – sprach und über den Aufbau amerikanischer Verteidigungsanlagen und die Aufstockung des amerikanischen Atomwaffenarsenals, die Reaktion der Russen und den Sinn eines neuen Kalten Kriegs auf dem Planeten, reagierte die Welt darauf mit einer gewaltigen
Anti-Atombewegung. Mein Freund Jonathan Schell schrieb ein fabelhaftes Buch, Das Schicksal der Erde. Gefahr und Folgen eines Atomkrieges. Darin demonstrieren eine Million Menschen im New Yorker Central Park gegen Atomwaffen. Unter den Teilnehmern ist auch ein junger Student von der Columbia University namens Barack Obama, der tatsächlich dabei war – aus diesem Grund vertraute ich darauf, dass er es ehrlich meinte, als es darum ging, Atomwaffen abzuschaffen. Aber danach haben wir uns irgendwie schlafen gelegt.
Gorbatschow ging nach dem Treffen in Reykjavik 1986 auf Reagan zu und wir waren nur ein einziges Wort von der Abschaffung von Atomwaffen entfernt. Wenn Reagan bereit gewesen wäre, die Tests von ‘Star Wars’ – sein idiotisches Vorhaben – einzuschränken und sie auf 10 Jahre im Testlabor zu beschränken, hätte Gorbatschow ein Abkommen unterzeichnet, mit dem alle Atomwaffen abgeschafft worden wären. Wir waren in Reykjavik so nah dran. Der INF-Vertrag war daher nur ein Trostpreis, weil wir es nicht geschafft hatten, Atomwaffen vollständig abzuschaffen.
Und seitdem dachten wir, dass wir mit dem Ende des Kalten Kriegs 1991 und dem Fall der Berliner Mauer eine Zeit des Friedens und der Entspannung erleben würden. Was passiert stattdessen? George H.W. Bush lobt Gorbatschow für seine Zurückhaltung in Deutschland und Osteuropa. Was tun die USA? In Panama einfallen. Die USA beteiligen sich nicht nur dort und ziehen auch in den ersten Golfkrieg.
Die Neokonservativen bilden sich gerade zu der Zeit unter der Leitung von Charles Krauthammer. 1990 schreibt Krauthammer einen Artikel und hält Vorträge, etwa: „Dies ist der Moment, in dem die Vereinigten Staaten die konkurrenzlose Macht in der Welt sind. Wir sind der Alleinherrscher über die Welt. Niemand kann sich mit uns messen.“ Und weiter: „Dieser Moment kann 20 oder 30 Jahre andauern.“ 2003, nach dem Einmarsch in Afghanistan, schreibt Krauthammer: „Ich habe das Ganze 1991 unterschätzt. Es ist kein Moment, es ist eine Ära. Das kann unbegrenzt so weiter gehen. Vielleicht Hunderte von Jahren. Die Vereinigten Staaten werden die Welt beherrschen.“ Es wurde so schlimm, dass die New York Times am 5. Januar 2003 in ihrem Sonntagsteil titelte: „American Empire, gewöhnt euch daran!“ Die Neokonservativen blühten unter der Bush-Regierung auf, aber bis 2005 war es in Afghanistan und im Irak so schlecht gelaufen, dass Krauthammer sich wieder meldete: „Ich lag falsch. Die Ära und der Moment der Alleinherrschaft sind vorüber – die Vereinigten Staaten verfügen nicht über derartige Macht und Kontrolle.“
Sie wissen, wie es gelaufen ist. Die Vereinigten Staaten waren unfähig.
Seht her, wir können 1983 in Grenada einmarschieren und uns gegen ein paar Dutzend kubanische Bauarbeiter durchsetzen, die Flagge schwenken und rufen: „Amerika ist zurück, wir können wieder mit stolzgeschwellter Brust stehen und sagen, wir haben Vietnam überwunden.“ Wir können das tun, aber militärische Lösungen funktionieren nicht. Wir haben uns in Syrien eingemischt, es gibt diese verdeckten CIA-Programme, an einem Punkt behauptete die New York Times, der syrische Bürgerkrieg forderte ein paar Dutzend Tote. Wir haben den Widerstand dort eigentlich angeheizt, Operation Timber Sycamore. Es gab Hunderttausende Tote. Wann lernen wir endlich unsere Lektion? In Syrien verpassen wir das schon wieder.
Normalerweise widerspreche ich Samuel Huntington und seinem Kampf der Kulturen, aber er lieferte auch interessante Erkenntnisse, etwa wenn er sagte: „Der Westen gewann die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, Werte oder Religion, sondern durch die überlegene Anwendung von organisierter Gewalt.“ Westler vergessen oft eine Sache, die Nicht-Westler nie vergessen. Und zwar, dass wir unsere Lektion nicht gelernt haben und es so nicht funktioniert. Der Krieg gegen den Terror war eine Katastrophe, aber die Liste der Neokonservativen ist noch nicht am Ende: „So, nach Afghanistan holen wir uns den Irak, dann Syrien, Libyen, den Iran und dann Somalia.“ Sie hatten eine Liste und alle wiederholten sie, das war ihr Mantra. Wir haben gesehen, was dabei herauskommt: Chaos, Zerrüttung, Krieg, Tod, Armut, Leid. Wir müssen anfangen, auf eine neue Art und Weise zu denken.
ZR: Peter Kuznick, was für ein spannendes Gespräch. Ich hoffe, wir können es in naher Zukunft fortsetzen. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren.
PK: Es war mir ein Vergnügen, danke.
ZR: Und danke, dass Sie heute wieder dabei waren. Vergessen Sie nicht, unseren YouTube-Kanal zu abonnieren und zu spenden, damit wir für Sie weiterhin unabhängige, nicht-kommerzielle Nachrichten und Analysen liefern können. Mein Name ist Zain Raza. Bis zum nächsten Mal.
Im Gespräch:
Amerikas ungeschriebene Geschichte und die Atomwaffen
Dieser Text wurde zuerst am 05.03.2019 auf www.actvism.org unter der URL <https://www.actvism.org/wp-content/uploads/2019/03/DE-Kuznick-Public-Transcript.pdf> veröffentlicht. Lizenz: www.actvism.org
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Der Historiker Peter Kuznick hat zusammen mit dem Filmemacher Oliver Stone ein Buch über Amerikas ungeschriebene Geschichte veröffentlicht. Zain Raza von acTVism Munich hat mit ihm darüber ausführlich gesprochen.
Zain Raza (ZR): Willkommen bei ,Kenn dich aus‘, unserem Format zur Aufklärung über historische Entwicklungen und gesellschaftliche Konzepte. Mein Name ist Zain Raza. Heute ist Peter Kuznick zu Gast, Professor für Geschichte und Leiter des Nuclear Studies Institute an der American University. Er ist Autor zahlreicher Bücher und heute sprechen wir über das Buch Amerikas ungeschriebene Geschichte. Peter Kuznick schrieb dieses Buch zusammen mit dem Filmregisseur und Produzenten Oliver Stone. Peter Kuznick, ich danke Ihnen, dass Sie heute zu uns gekommen sind, und freue mich auf dieses Gespräch.
Peter Kuznick (PK): Gerne, ich freue mich, bei Ihnen zu sein.
ZR: Beginnen wir also mit dem Buch, das Sie zusammen mit Oliver Stone geschrieben haben. Könnten Sie uns das Buch vorstellen? Sprechen Sie darüber, warum Sie sich entschieden haben, es zu schreiben, und nennen Sie uns ein paar Fakten, die im historischen Diskurs des Mainstream nicht vorkommen.
PK: Oliver und ich waren 2007 beim Abendessen. Wir sprachen über Geschichte und Politik – wie wir es immer tun – und mittendrin sagt Oliver zu mir: „Peter, lass uns einen Dokumentarfilm drehen.“ Und er hatte die Idee, dass wir einen einstündigen Dokumentarfilm über die Ursprünge des Kalten Krieges und die Atombombenabwürfe von 1945 drehen könnten.
Ich besuchte ihn in der nächsten Woche in New York und da hatte er die Idee für eine zehnstündige, zehnteilige Dokumentarfilmserie. Wir haben zwölf Stunden gearbeitet und mitten in diesem Prozess entschieden, dass wir ein Buch hinzufügen mussten, denn die Menge an Informationen, die wir in 58 Minuten und 30 Sekunden vermitteln konnten, war sehr frustrierend – auch wenn Oliver schnell sprach. Und da landeten wir also – zunächst dachten wir, wir setzen es als Bildband um, wie die Bücher von Ken Burns – aber dann wollten die Verleger alle ein richtiges Buch. Was mir auch mehr zusagte. Also haben wir am Ende ein 800-seitiges Buch geschrieben, das ich hier habe, ich glaube, Sie haben es gezeigt: The Untold History of the United States, und wir haben auch The Concise Untold History of the United States herausgebracht, was keine Kurzfassung ist, sondern lediglich auf den dokumentarischen Drehbüchern basiert.
Sie wissen, dass Oliver einen umstrittenen Ruf hat wegen Filmen wie JFK. Wir wussten, dass wir angegriffen werden würden, also haben wir mehr als 100 Seiten Fußnoten in der Langfassung. Wir haben nun die neue Ausgabe geschrieben, die Anfang April erscheint und mehr als 900 Seiten umfassen wird – wir haben ein 150-seitiges Kapitel über die Ereignisse in der Welt zwischen 2012 und 2019 hinzugefügt. Es führt uns also bis in die Gegenwart.
Die erste Idee war, dass es eine Geschichte des American Empire und des nationalen Sicherheitsstaates werden sollte. Und wir nannten sie The Untold History of the United States, Amerikas ungeschriebene Geschichte. Wir haben uns mit verschiedenen Titeln beschäftigt, versucht, den besten zu finden, und haben uns für diesen entschieden. Es beginnt im späten 19. Jahrhundert. Einer der Wendepunkte in der amerikanischen Geschichte ist der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898, gefolgt von der US-Besetzung der Philippinen 1899 und dem Massaker, das dort in den nächsten Jahren stattfand.
So begannen sich die Vereinigten Staaten zu verändern, während die Vereinigten Staaten einst eine führende demokratische – sogar pro-revolutionäre – Nation waren, die selbst aus einer Revolution geboren wurden, so entwickeln sie sich allmählich zur weltweit führenden konterrevolutionären Kraft. Dann fangen die Vereinigten Staaten an, in jedem Land zu intervenieren. Zunächst vor allem in Mittel- und Südamerika, aber nach der Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg beginnen sie, eine zunehmend globale Rolle zu übernehmen und New York ersetzt London als Zentrum der Weltfinanzen.
Aber der wirklich große Wendepunkt für uns ist der Zweite Weltkrieg – nicht nur die Niederlage des Faschismus und des japanischen Militarismus –, sondern der Einsatz der Atombombe und dann der Beginn des Kalten Kriegs. So verändert sich die Welt dramatisch. Die Vereinigten Staaten beginnen, ein echtes globales Imperium aufzubauen, wir bekommen viele Basen von den Briten im Austausch für die Kriegsschiffe, die wir ihnen gegeben haben, und wir schaffen dieses globale Netzwerk.
Bis 1948 gibt es George Kennan, den Architekten des Kalten Kriegs, den Architekten der US-Eindämmungspolitik, der ein geheimes Memo schreibt, wo er sagt: „Wir haben 6,3% der Weltbevölkerung, aber wir kontrollieren 50% des Reichtums der Welt. Die Herausforderung, vor der wir in dieser kommenden Zeit stehen, besteht darin, diese Position der Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Wir werden das nicht mit idealistischen Slogans und Pressefreiheit und der Betonung von Freiheit schaffen, sondern nur durch Machtdemonstration.“ Und das sollte tatsächlich das Konzept der USA für den Kalten Krieg bestimmen. Im August 1949 testen die Sowjets ihre Atombombe, 1949 finden die Chinesische Revolution und die Gründung der NATO statt, und wir werden die Verhärtung der Fronten beobachten können. In den Jahren 1950 bis 1953 haben wir den Koreakrieg, der immer noch nicht offiziell beendet ist, und so kommen wir an in dieser Zeit der 50er Jahre.
Tatsächlich ist es interessant, dass das Bulletin der Atomwissenschaftler vor einem Jahr, 2018, die Zeiger der Weltuntergangsuhr auf zwei Minuten vor Mitternacht bewegt hat – am kürzesten davor seit den frühen 1950er Jahren – und 1952-53 waren die US-Tests der Wasserstoffbombe und dann sowjetische Tests der Proto-Wasserstoffbombe 1953. Also haben sie die Zeiger damals auf zwei Minuten vor Mitternacht bewegt und jetzt stehen sie wieder auf zwei vor 12.
Das sind also die Arten von Problemen, die Oliver und ich betrachten. Die Geschichte davon, wer den Planeten besitzt. Die Folgen der Pax Americana, in der die Vereinigten Staaten – nun, wenn man es global betrachtet: Die acht reichsten Menschen der Welt haben mehr Reichtum als die 3,6 Milliarden ärmsten Menschen – und das ist die verrückte Welt, die wir aufgebaut haben. Eine Welt, in der zwei Länder, die Vereinigten Staaten und Russland, 93% der Atomwaffen weltweit kontrollieren. Zwei Personen, Donald Trump und Wladimir Putin, haben ein Vetorecht über den Fortbestand unserer Art. Das sind die Dinge, die uns Sorgen bereiten.
Die Tatsache, dass die USA jetzt neun Länder bombardieren – wer tut so etwas? Die USA haben ein Imperium mit 800 Basen. Wir kommen also zu dieser ganzen Frage des amerikanischen Exzeptionalismus, der der Kern von so vielem ist, was Amerika tut. Die Vorstellung, dass sich die Vereinigten Staaten nicht nur von allen anderen Ländern unterscheiden, sondern auch besser sind als alle anderen Länder. Die Idee, dass die Vereinigten Staaten – während andere Länder motiviert sind, mehr Territorium oder Macht oder politische Kontrolle oder militärische Stärke zu erlangen – nur Freiheit und Demokratie verbreiten wollen. Das ist die Vision, die den Amerikanern von Anfang an vermittelt wird – dass wir wohlwollend sind, dass wir selbstlos sind, dass wir großzügig sind, dass wir friedliebend sind. Die Realität ist leider eine sehr, sehr andere. Und so versuchen wir in dieser Welt, zu verstehen was geschieht und was eigentlich geschehen sollte.
ZR: Sprechen Sie über die Quellen Ihres Buches. Wie haben Sie den historischen Verlauf analysiert, im Gegensatz dazu, wie traditionelle historische Mainstream-Bücher geschrieben werden?
PK: Ich würde nicht sagen, dass wir so grundlegend anders sind, denn die Wissenschaft in den Vereinigten Staaten und einem Großteil der Welt ist wirklich eine Bastei des Progressivismus. Unsere Interpretationen entsprechen vielmehr den linken Akademikern in den Vereinigten Staaten und der linke Flügel dominiert sicherlich die meisten historischen Berufe und viele andere wichtige Sozial-, Kunst- und Geisteswissenschaften; daher sind wir nicht völlig konträr zu ihnen. Was uns nicht passt, ist das, was in den High Schools gelehrt wird. Die Vision, die man im Fernsehen vermittelt bekommt. Und so gingen wir relativ konventionell an die Sache heran. Wir hatten acht meiner Doktoranden als Forscher angestellt – wir haben einfach alles aufgesogen. Wir haben viel Recherche betrieben, in Bezug auf Dokumente, in den Archiven der National Security, beim Cold War International History Project. Es gibt viele sehr, sehr gute Quellen da draußen. Das Problem war also nicht, Material zu finden. Das Problem war, es in einer sinnvollen und für die Menschen ansprechenden Form darzustellen.
Wir haben also eine zwölfstündige, zwölfteilige Dokumentarfilmserie herausgebracht, es lief eine zehnstündige Sendung auf Showtime und dann wurde sie in der ganzen Welt ausgestrahlt – außer in China. Dann erschien die Langfassung in etwa 20 Sprachen und wir arbeiten noch an mehr. Die kompakte Fassung des Buchs ist in vielen Sprachen erhältlich und das hier dürfte die deutsche Fassung sein. Erst vergangene Woche ist der zweite Band unserer vierbändigen Ausgabe für junge Leser erschienen, die sich an Acht- bis Zwölfjährige richtet. Daneben ist auch eine Graphic Novel in Vorbereitung. Wir versuchen also, die Menschen auf jede erdenkliche Weise zu erreichen, sie dazu zu bringen, einfach mehr zu hinterfragen, zum Denken anzuregen, Gegendarstellungen und unterschiedliche Sichtweisen zu entwickeln, um die Geschichte unseres Planeten in den letzten über 120 Jahren zu betrachten.
ZR: Sie erwähnten Atomwaffen und die Tatsache, dass die Atomwissenschaftler die Weltuntergangsuhr auf 2 Minuten vor Mitternacht gestellt haben. Ich möchte verstehen, wie alles begann, und auch ein Kapitel Ihres Buches befasst sich damit: Japan. Was geschah wirklich am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden? Die Wahrnehmung hier in Deutschland ist, dass es für die USA unerlässlich war, dies zu tun, damit der Krieg beendet werden konnte. Allerdings bieten Sie in Ihrem Buch eine andere Perspektive. Erzählen Sie uns davon.
PK: Nun, meine Studenten müssen eine 12-stündige Vorlesung zu diesem Thema hören. Ich werde versuchen, es ein wenig zusammenzufassen. Die grundlegenden Fakten, die die Menschen wissen müssen: Nach der Schlacht von Saipan im Juli 1944 wussten die Japaner, dass sie besiegt waren, sie hatten keine Aussicht mehr auf einen klassischen militärischen Sieg. Sie begannen heimlich zu untersuchen, wie man den Krieg beenden konnte. Im Februar 1945 schrieb Prinz Konoe, der ehemalige Premierminister, ein Memo an den Kaiser: „Ich bedaure, es Ihnen mitteilen zu müssen, aber die Niederlage ist unvermeidlich. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wie wir die kommunistische Revolution im Falle unserer Kapitulation verhindern können.“
Der US-Geheimdienst hatte im Grunde genommen dasselbe gesagt, dass ihr Transportsystem zusammenbrach, ihre Nahrungsmittelversorgung schrumpfte, der Zugang zu Energie schwand. Die Japaner wurden in vielerlei Hinsicht besiegt, aber die amerikanische Strategie war, dass wir eine Blockade haben müssten, ihre Städte bombardieren müssten, und einmarschieren müssten, und so war der Glaube in den Vereinigten Staaten – und das ist die öffentliche Irreführung – dass, wenn die Vereinigten Staaten die Atombomben nicht abgeworfen hätten, die USA in Japan hätten einmarschieren müssen. Truman schreibt in seinen Memoiren, dass General Marshall ihm sagte, dass eine halbe Million Männer bei der Invasion fallen würden, die Schätzungen gingen bis zu einer Million. Unter diesen Umständen rechtfertigte man die Atombombenabwürfe also als eigentlich humanen Akt, mit dem nicht nur eine halbe Million amerikanische Leben gerettet würden, sondern auch Millionen von Japanern, die bei der Invasion getötet worden wären. Also war es für Truman eine gute Sache, Atombomben einzusetzen anstatt einzumarschieren.
Die Realität sieht ganz anders aus – völlig umgekehrt – die Realität ist, dass die Japaner bereits militärisch besiegt waren und nach einem Weg suchten, den Krieg zu beenden. Wir wissen das aus den japanischen Codes zu Beginn des Kriegs, wir haben ihre Telegramme abgefangen, und die Japaner hatten entschieden, dass sei ihr bester Weg, bessere Kapitulationsbedingungen zu bekommen – die Kapitulationsbedingungen stellten ein großes Problem dar. Die USA forderten nämlich die bedingungslose Kapitulation – was für Japan die Hinrichtung des Kaisers als Kriegsverbrecher bedeutete. Den Japanern galt der Kaiser als
Gott und MacArthurs Südwest-Kommando gibt im Sommer ‘45 einen Hintergrundbericht heraus, der besagt, dass die Hinrichtung des Kaisers für sie wie die Kreuzigung Christi für uns wäre – alle würden kämpfen und sich opfern wie Ameisen. Wir wussten, dass die Japaner eine bedingungslose Kapitulation niemals auf diese Weise akzeptieren würden. Eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden, war also, die Kapitulationsbedingungen zu ändern.
Roosevelt starb am 12. April 1945. Die Person, die ihn hätte ersetzen sollen, war sein ehemaliger Vizepräsident Henry Wallace. Ich will hier nicht zu viel verwirren, aber die demokratische Versammlung am 20. Juli 1944 – Gallup machte eine Meinungsumfrage, wen die Leute als Vizepräsidenten wünschten. 65% der amerikanischen Wähler sagten, sie wollten Henry Wallace, 2% sagten, sie wollten Harry Truman. Aber die Parteibosse kontrollierten die Versammlung und so ernannten sie Truman statt Wallace.
Oliver und ich argumentierten, dass wenn Wallace Vizepräsident geblieben wäre, er am 12. April zum Präsidenten ernannt worden wäre und es im Zweiten Weltkrieg keinen Atombombenangriff und möglicherweise auch keinen Kalten Krieg gegeben hätte. Aber das ist eine andere Diskussion. Truman ist jetzt an der Macht. Alle Berater von Truman mit Ausnahme von Jimmy Byrnes drängen ihn, die Kapitulationsbedingungen zu ändern und die Japaner wissen zu lassen, dass sie ihren Kaiser behalten können. Truman weigert sich, das zu tun. Byrnes sagte ihm, er würde politisch gekreuzigt, wenn er die Japaner den Kaiser behalten lassen würde. Das wäre also ein Weg, den Krieg früher zu beenden. Und wir wissen das aus den abgehörten Nachrichten – also die eher schlecht durchdachte japanische Strategie war, zu versuchen, die Sowjets dazu zu bringen, in ihrem Namen zu intervenieren, um sich (Japan) bessere Kapitulationsbedingungen zu verschaffen.
Was sie nicht wussten, war, dass wir einen Deal hatten, und in Jalta bekam Roosevelt schließlich Stalin dazu, drei Monate nach Ende des Kriegs in Europa dem Pazifikkrieg beizutreten.
Im Gegenzug dafür würden die Russen viele Zugeständnisse bekommen. Die Russen hatten kein Interesse daran, den Japanern zu helfen, bessere Bedingungen auszuhandeln, bevor Russland in den Krieg eintrat. Aber der andere Weg, den Krieg zu beenden, war, die sowjetische Invasion abzuwarten, die um den 8./9. August herum beginnen sollte; drei Monate nach Ende des Kriegs in Europa. Der US-Geheimdienst und der britische Geheimdienst hatten monatelang gesagt, dass alle Japaner wissen werden, dass weiterer Widerstand zwecklos ist, sobald die Sowjets in den Krieg eintreten. Dass der Krieg mit dem sowjetischen Beitritt fast von selbst enden würde. So treten die Sowjets ein, aber um sich noch ein wenig mehr abzusichern, fliegt Truman nach Potsdam – ich glaube, es war der 15. Juli. Stalin versichert ihm, dass die Russen pünktlich eintreffen würden. Truman schreibt in dieser Nacht in sein Journal: „Stalin ist am 15. August im Japsenkrieg dabei. Japsen fertigmachen, wenn das passiert.“ Truman wusste, dass die Japaner am Ende wären, wenn die Sowjets einfielen. Er schreibt am nächsten Tag an seine Frau Bess: „Die Russen kommen dazu, wir beenden den Krieg ein Jahr früher, denk an all die Kinder, die nicht getötet werden.“ Truman wusste das. Und Truman bezieht sich am 18. Juli auf das abgefangene japanische Telegramm als „ein Telegramm des japanischen Kaisers, der um Frieden bittet“.
Also wussten die amerikanischen Führer alle ganz klar, dass die Japaner erledigt waren. Dass es zwei Möglichkeiten gab, den Krieg zu beenden, ohne die Atombomben zu nutzen, und dass die Sowjets besser als alle anderen wussten, wie verzweifelt die Japaner kapitulieren wollten – denn der ehemalige Premierminister Hirota hatte sich ein paar Mal mit dem sowjetischen Botschafter in Tokio getroffen, Malik, und Malik schreibt an den Kreml zurück, dass die Japaner verzweifelt aufgeben wollen. Das passiert im Juni und Juli.
Daran schließt die Frage an, warum also nutzen die Vereinigten Staaten die Bombe? Truman ist nicht blutrünstig, er ist nicht Hitler; aber das wahrscheinliche Motiv der Vereinigten Staaten, die Bombe zu nutzen, war, den Sowjets eine Botschaft zu senden: falls sie sich in die Pläne der USA in Europa oder Asien einmischen, würde das mit ihnen geschehen. Und genau so interpretierten es alle sowjetischen Führer: dass die Bombe nicht auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurde, sondern auf Moskau und St. Petersburg (metaphorisch gesprochen, um eine Botschaft an die Sowjetunion zu senden). Darum drehte sich alles. Wir sprechen hier von einem Schlüsselfaktor zu Beginn des Kalten Kriegs. Weil die USA und die Sowjets zu diesem Zeitpunkt noch Verbündete waren und es viele Kräfte gab, die versuchten, uns zusammenzuhalten.
Der Kalte Krieg war eine katastrophale Zeit in der Geschichte der Menschheit. Wir haben Glück, dass wir ihn überlebt haben. Die USA haben das Monopol auf Atomwaffen und es wird weiter ausgebaut. Die Sowjets testen ihre Bombe im August ‘49 und los geht das Rennen um die Wasserstoffbombe.
Und dann erreichen wir den Höhepunkt… Früher unternahm ich mit meinen Studenten jeden Sommer eine Auslandsreise nach Hiroshima und Nagasaki – im Rahmen eines Kurses, den wir an der American University anbieten – und ich schreibe jedes Mal die Inschrift der Tafel im Friedensmuseum Hiroshima auf, und zwar dass die Welt bis 1985 das Äquivalent von 1,47 Millionen Hiroshima-Bomben angesammelt hatte. Wir hatten 70.000 Atomwaffen. Wofür brauchen wir 1,5 Millionen Hiroshima-Bomben? Wie oft müssen wir alles auf diesem Planeten töten? Und wir können das heute noch tun. Wenn wir etwas Zeit haben, würde ich gerne über den atomaren Winter und den aktuellen Stand dieses Atomwaffenwahns sprechen.
ZR: Ich möchte das so kurz wie möglich zusammenfassen: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kommt mit Truman also ein undemokratischer Anführer an die Macht, der einen Progressiven auf die Ersatzbank verbannt. Präsident Truman wusste, dass es bessere Wege gab, die Kapitulation herbei zu führen, und er beschloss dennoch, Hiroshima und Nagasaki zu bombardieren, was den Kalten Krieg auslöste und zu der Situation geführt hat, in der wir uns heute befinden. Ist das korrekt?
PK: Es ist eigentlich noch viel schlimmer. Truman sagte bei mindestens drei Gelegenheiten ausdrücklich, dass ihm bewusst war, dass er etwas anstoßen würde, das alles Leben auf dem Planeten beenden könnte. Sein erstes großes Briefing zur Bombe – er war seit 82 Tagen Vizepräsident, wurde kaum beachtet und bis dahin nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir eine Atombombe bauen. Er erfährt erst, nachdem er bei der Notfall-Sitzung des Kabinetts in der Nacht des 12. April vereidigt wurde, von dem Bombenbauprojekt. Kriegsminister Stimson erwähnt es ihm gegenüber und räumt ein, er sei zu beschäftigt gewesen und habe das nicht wirklich auf dem Schirm gehabt. Am nächsten Tag fliegt Jimmy Byrnes aus South Carolina ein und informiert Truman über alles. In seinen Memoiren schreibt Truman, Jimmy Byrnes sprach von einer „Waffe, groß genug, um die ganze Welt zu zerstören“. Truman erhält am 25. April ein ausführliches Briefing von General Groves, dem Leiter des Manhattan-Projekts, und Kriegsminister Stimson und notiert danach Stimsons Worte: „Selbst wenn wir die Bombe haben, sollten wir sie vielleicht nie benutzen, weil sie das Leben auf dem Planeten beenden könnte.“ Truman schreibt: „Ich stimmte ihm zu.“
Als Truman am 25. Juli in Potsdam ist, bekommt er einen umfassenden Bericht darüber, wie zerstörerisch der Bombentest in Alamogordo, New Mexico, war und er hält in dieser Nacht in seinem Journal fest: „Wir haben die schrecklichste Bombe der Geschichte entdeckt.“ Er sagt: „Das könnte die Prophezeiung vom großen Brand im Euphrattal nach Noahs Arche sein.“ Hunderttausende unschuldiger Menschen in Hiroshima und Nagasaki zu töten ist ein Kriegsverbrechen. Aber einen Prozess anzustoßen, von dem man weiß, dass er alles Leben auf dem Planeten beenden kann, geht weit darüber hinaus. Das ist die Realität, mit der wir alle seitdem leben.
Die Vereinigten Staaten hatten 1945 acht Fünf-Sterne-Admiräle und -Generäle. Sieben von ihnen gaben zu Protokoll, dass die Atombombenabwürfe entweder militärisch unnötig, moralisch verwerflich oder beides waren. Trumans persönlicher Stabschef war Admiral William Leahy, der auch Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff war. Leahy sagte, dass die Japaner bereits vor der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki besiegt waren. Er sagte: „Der Einsatz dieser schrecklichen Waffe wirft uns auf die moralische Ebene der Barbaren im tiefsten Mittelalter zurück.“ Gerald MacArthur, der Atombomben in Korea einsetzen wollte, sagte, „die Japaner hätten im Mai – drei Monate früher – aufgegeben, wenn wir ihnen gesagt hätten, dass sie den Kaiser behalten könnten.“
Eisenhower wurde von Stimson in Potsdam über den bevorstehenden Einsatz der Bomben informiert und Eisenhower sagte: „Das hat mich sehr bestürzt. Und dann fragte er mich nach meiner Meinung und ich sagte ihm, dass mein Krieg in Europa bereits vorüber sei. Aber was ich da von dir höre, bestürzt mich sehr.“ Weiter sagte er: „Zunächst einmal waren die Japaner bereits besiegt und es bestand keine Notwendigkeit, eine solche Waffe einzusetzen. Zweitens hasste ich es, mit ansehen zu müssen, wie unser Land das erste ist, das eine solche Waffe einsetzt.“ Die anderen führenden Militärs äußerten sich ähnlich.
Was den Krieg schließlich beendet, ist nicht die Atombombe, sondern die Invasion der Sowjets. Das war die Unbekannte in der Gleichung. Die USA bombardierten bereits seit Monaten japanische Städte. Wir griffen über 100 japanische Städte an. Die Stadt Toyama wurde zu 99,5% zerstört. Die Japaner akzeptierten, dass wir Bomben zünden und ihre Städte auslöschen konnten. Das haben sie akzeptiert. Für sie machte es keinen großen Unterschied, ob es sich um ein Flugzeug und eine Bombe oder 200 Flugzeuge und 10.000 Bomben handelte. Sie akzeptierten, dass wir in der Lage waren, ihre Städte auszulöschen.
Was alles änderte, war die riesige Rote Armee, die sie die ganze Zeit über gefürchtet hatten und die nun in die Mandschurei und auf Sachalin eindrang. Auf die Frage, warum die Japaner so schnell kapitulieren mussten, antwortete Premierminister Suzuki am 10. August: „Nun, sie haben bereits unsere Kwantung-Armee in der Mandschurei durchbrochen und Karafuto erobert. Morgen erreichen sie Hokkaido – die Grundfeste Japans wird zerstört. Wir müssen vor den Amerikanern kapitulieren, solange wir können.“
Und so lassen die USA sie letztendlich ihren Kaiser behalten, denn es lag in ihrem Interesse, die Stabilität danach zu sichern. Aber wenn Sie das offizielle US Navy Museum in Washington, D.C. besuchen, gibt es dort eine Tafel, auf der korrekt steht, dass im japanischen Kabinett die Atombomben kaum diskutiert wurden. Die Diskussionen konzentrierten sich auf die sowjetische Invasion und das hat sie davon überzeugt, den Krieg zu beenden. Und wir wussten das; unsere Geheimdienste berichteten, dass das der Fall sein würde. Und so beginnt für die Welt 1945 ein schreckliches neues Kapitel, nach dem Ende des Kriegs und zu Beginn des atomaren Wettrüstens.
ZR: Lassen Sie uns das aufgreifen. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden die Arsenale stark aufgerüstet und viele Länder folgten dem Beispiel. In Bezug auf Raketen und andere Atomwaffen sind auch einige Sicherheitsvereinbarungen getroffen worden. Sprechen Sie ein wenig über die Geschichte jener Verträge, die geschlossen wurden, und darüber, ob sie ihre Ziele erreicht haben. Welchen Status haben sie heute?
PK: Zum einen gab es die SALT-Verträge. Die wichtigsten Verträge waren aber der ABM-Vertrag, den die USA 2002 aufgehoben haben, und der INF-Vertrag – heute verstehen die Europäer, wie wichtig er war; die USA hatten Tomahawk- und Pershing-Raketen in Deutschland und anderen Teilen Europas stationiert und die Sowjets hatten die SS-20.
Wenn diese abgeschossen wurden, gab es eine Vorwarnzeit von etwa 10 Minuten. Bei Langstreckenraketen sind es immerhin 30 Minuten, aber bei einem so kleinen Zeitfenster müssen Entscheidungen sofort getroffen werden, und Geheimdienstinformationen können fehlerhaft sein, wie wir wissen.
Der INF-Vertrag war also sehr wichtig – Donald Trump hat angekündigt, dass er auch aus dem INF-Vertrag aussteigen will. Aus dem ABM-Vertrag ist man bereits raus. Aus dem INF-Vertrag ebenfalls bald. Im ersten Telefongespräch zwischen Putin und Donald Trump nach der Wahl von Trump sagt Putin zu ihm: „Wir müssen über die Verlängerung des neuen START-Vertrags sprechen.“ Der neue START-Vertrag begrenzte die Anzahl von Atomwaffen und Trägerraketen. Das war also das letzte Hemmnis für ein atomares Wettrüsten, für eine atomare Anarchie. Putin sagt, man müsse ihn verlängern, wenn er 2021 ausläuft. Trump legt das Telefon zur Seite und fragt seine Berater im Raum: „Was ist der neue START-Vertrag?“ Sie erklären es ihm, er geht zurück ans Telefon und sagt: „Nein, nein, der gefällt uns auch nicht. Den werden wir nicht verlängern.“
Das ist das Beängstigende an dem, was gerade vor sich geht. Trump sagt: „Was nützt es, Atomwaffen zu besitzen, wenn wir sie nicht einsetzen können?“ Für den gesunden Menschenverstand bedeutet das, dass wir sie loswerden sollten. Für Donald Trump bedeutet das, dass wir sie besser nutzbar machen sollten. So veröffentlichte Trump im Februar 2018 seine neue Nuclear Posture Review, die nicht nur über die Entwicklung neuer Waffen spricht, sondern auch über die Herstellung kleinerer Waffen, die besser verwendbar sein werden.
Aber man kann das nicht einfach Trump zuschreiben, denn es hat viele Mitverschwörer, wenn es darum geht, das Leben auf diesem Planeten beenden zu wollen. Zu denen zählte auch Barack Obama.
Erinnern wir uns an 2009, als Obama den Friedensnobelpreis für seine Prager Rede erhielt, in der er zur Abschaffung von Atomwaffen aufrief. Wir dachten damals, das sei ziemlich seltsam – ein Mann, der zwei Kriege führt und andere Länder bombardiert, sollte den Friedensnobelpreis erhalten –, aber es war die Anerkennung für seinen Ruf nach einer Welt ohne Atomwaffen. Nun, wie er in dieser Rede sagte, würden die USA nicht das erste Land sein, das seine Atomwaffen abschaffen würde. Nein, sie würden das letzte Land sein. Und er war seinen Worten treu geblieben. Obama startete ein über 30 Jahre laufendes Modernisierungsprogramm. Es sollte ein Billionen-Dollar-Programm werden und das gesamte Spektrum des Atomwaffenarsenals abdecken. Die offizielle Schätzung liegt heute bei 1,2 Billionen, die inoffizielle bei 1,7 Billionen. Ziel war es, Atomwaffen effizienter und nutzbarer zu machen. Das ist also Obamas Vermächtnis, das Trump angetreten hat und doppelt übererfüllt.
Als Reaktion auf die amerikanischen Maßnahmen modernisieren nun alle neun Atommächte ihre Arsenale. In seiner Rede zur Lage der Nation am 1. März 2018 erklärte Wladimir Putin, dass Russland fünf neue Atomwaffen entwickelt hat, die die US-Raketenabwehr umgehen können. Aber das passiert überall. Dieser Marsch, dieses Hetzen in den Wahnsinn auf globaler Ebene. Wir sprechen hier von Atomwaffenwahnsinn und sehr wahrscheinlich werden am 24. Januar die Zeiger der Weltuntergangsuhr wieder ein Stück auf die Zwölf zubewegt.
Das kommt also auf uns zu. Daneben erleben wir auch noch den Klimawahnsinn. Die Experten hatten gesagt, dass die globale Erwärmung seit der industriellen Revolution um ein Grad Celsius zugenommen hat. Die führenden Experten sagten, dass der Planet die Schäden eines Anstiegs von höchstens zwei Grad Celsius tolerieren kann. Wenn wir darüber hinausgehen, bedeutet das: Ein Anstieg von drei Grad Celsius würde einen Großteil Indiens und Chinas unbewohnbar machen. Das bedeutet, dass die Küstenstädte verlassen werden müssen, dass die Polkappen schmelzen, dass die Inselstaaten im Wasser versinken werden. Das sind katastrophale Ausmaße. Jetzt hoffen viele Experten, dass es bei einem Anstieg von drei Grad bleibt. Manche sprechen von vier, die Weltbank etwa und andere sagen vier Grad Celsius voraus. Wenn wir fünf Grad erreichen, kann die menschliche Zivilisation einpacken.
Gibt es überhaupt Führung in dieser Angelegenheit, globale Führung in all diesen Fragen? Das beunruhigt mich nämlich schon sehr. Ich schaue mir unsere Staatsoberhäupter an und sehe da nur Kleingeister – alles Nationalisten – Trumps Slogan „Make America Great Again“, der den amerikanischen Nationalismus unterstützt, Sie wissen schon. Putin mag ein wenig besser sein, aber er bietet nicht die Art von globaler Führung, die wir brauchen. Xi Jinping – was er und die Chinesen im Südchinesischen Meer tun, ergibt für mich keinen Sinn, diese Neun-Striche-Linie. Es gibt genug Reichtum und Ressourcen, die man teilen kann.
Aber wir haben niemanden, der für die Menschheit spricht – wir haben niemanden, der für den Planeten spricht.
Ich bin gerade aus Indien zurückgekommen und wollte mich mit Rahul Gandhi treffen, aber wir haben es nicht geschafft. In Indien gibt es im Mai Neuwahlen. Es besteht eine gute Chance, dass Rahul Gandhi an der Spitze einer breiten progressiven Koalition der nächste Premierminister wird. Indien wird China in Bezug auf die Bevölkerungszahl bald überholen. Bis 2030 wird Indien die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sein. Und Indien hat eine politische Tradition, die auf Gandhi und Nehru zurückgeht. Nehru führte nicht nur die Bewegung der Blockfreien Staaten gegen die USA und die Sowjetunion an, sondern auch die Bewegung für die Abschaffung von Atomwaffen und Einstellung der Atombombentests. Indien hat diese stolze Tradition und wir brauchen ein paar neue Führungspersönlichkeiten. Ich kann mir ein Bündnis zwischen Rahul Gandhi und Moon Jae-in vorstellen.
Warum gibt es diesen Fortschritt in Indien? Nicht wegen des Clowns in Washington, Sie wissen schon, Windel-Donald, sondern weil auch Korea Fortschritte macht. Wegen der Candlelight-Revolution, die Moon Jae-in an die Macht gebracht hat. Und weil Moon Jae-in die Initiative ergriff, auf Nordkorea zuzugehen, und die Nordkoreaner reagierten. Trump versuchte zunächst, das zu sabotieren. Wir dachten vor einem Jahr, dass wir kurz vor einem Krieg stehen. Der Leiter des Council on Foreign Relations sagte, es bestehe eine 50%-ige Chance, dass die USA mit Nordkorea in den Krieg ziehen. Die Lage war sehr angespannt. Aber Moon Jae-in übernahm die Initiative. Und ich stellte mir vor, wie eine Kraft, ein Gegenpol entstand, aus Nationen, die sich wirklich für Frieden und Entwicklung und Abrüstung einsetzen wollen, vielleicht um Rahul Gandhi und Moon Jae-in und ein paar anderen herum, die das ernsthaft angehen wollen. Anstelle der Kriegstreiberei, die wir derzeit überall erleben.
ZR: Lassen Sie uns einmal davon ausgehen, dass es zu diesem Thema keinerlei Berichterstattung geben wird – keine Diskussionen, Analysen oder Lösungsvorschläge. Sprechen Sie kurz darüber, was ich als Einzelner tun kann, um andere Menschen hierfür zu sensibilisieren. Und darüber, was junge Menschen heute aus der Anti-Atombewegung der 1980er Jahre lernen können. In fünf Minuten, bitte.
PK: Die Anti-Atombewegung der 80er Jahre ist ein gutes Beispiel, weil es sich damals anfühlte wie der Neustart des Kalten Kriegs. In der Zeit zwischen der Kubakrise und der Wahl von Ronald Reagan war es relativ ruhig, was die Atomwaffenfrage anging. Dann, als Reagan die politische Bühne betrat und über seine Version einer Achse – das Evil Empire – sprach und über den Aufbau amerikanischer Verteidigungsanlagen und die Aufstockung des amerikanischen Atomwaffenarsenals, die Reaktion der Russen und den Sinn eines neuen Kalten Kriegs auf dem Planeten, reagierte die Welt darauf mit einer gewaltigen
Anti-Atombewegung. Mein Freund Jonathan Schell schrieb ein fabelhaftes Buch, Das Schicksal der Erde. Gefahr und Folgen eines Atomkrieges. Darin demonstrieren eine Million Menschen im New Yorker Central Park gegen Atomwaffen. Unter den Teilnehmern ist auch ein junger Student von der Columbia University namens Barack Obama, der tatsächlich dabei war – aus diesem Grund vertraute ich darauf, dass er es ehrlich meinte, als es darum ging, Atomwaffen abzuschaffen. Aber danach haben wir uns irgendwie schlafen gelegt.
Gorbatschow ging nach dem Treffen in Reykjavik 1986 auf Reagan zu und wir waren nur ein einziges Wort von der Abschaffung von Atomwaffen entfernt. Wenn Reagan bereit gewesen wäre, die Tests von ‘Star Wars’ – sein idiotisches Vorhaben – einzuschränken und sie auf 10 Jahre im Testlabor zu beschränken, hätte Gorbatschow ein Abkommen unterzeichnet, mit dem alle Atomwaffen abgeschafft worden wären. Wir waren in Reykjavik so nah dran. Der INF-Vertrag war daher nur ein Trostpreis, weil wir es nicht geschafft hatten, Atomwaffen vollständig abzuschaffen.
Und seitdem dachten wir, dass wir mit dem Ende des Kalten Kriegs 1991 und dem Fall der Berliner Mauer eine Zeit des Friedens und der Entspannung erleben würden. Was passiert stattdessen? George H.W. Bush lobt Gorbatschow für seine Zurückhaltung in Deutschland und Osteuropa. Was tun die USA? In Panama einfallen. Die USA beteiligen sich nicht nur dort und ziehen auch in den ersten Golfkrieg.
Die Neokonservativen bilden sich gerade zu der Zeit unter der Leitung von Charles Krauthammer. 1990 schreibt Krauthammer einen Artikel und hält Vorträge, etwa: „Dies ist der Moment, in dem die Vereinigten Staaten die konkurrenzlose Macht in der Welt sind. Wir sind der Alleinherrscher über die Welt. Niemand kann sich mit uns messen.“ Und weiter: „Dieser Moment kann 20 oder 30 Jahre andauern.“ 2003, nach dem Einmarsch in Afghanistan, schreibt Krauthammer: „Ich habe das Ganze 1991 unterschätzt. Es ist kein Moment, es ist eine Ära. Das kann unbegrenzt so weiter gehen. Vielleicht Hunderte von Jahren. Die Vereinigten Staaten werden die Welt beherrschen.“ Es wurde so schlimm, dass die New York Times am 5. Januar 2003 in ihrem Sonntagsteil titelte: „American Empire, gewöhnt euch daran!“ Die Neokonservativen blühten unter der Bush-Regierung auf, aber bis 2005 war es in Afghanistan und im Irak so schlecht gelaufen, dass Krauthammer sich wieder meldete: „Ich lag falsch. Die Ära und der Moment der Alleinherrschaft sind vorüber – die Vereinigten Staaten verfügen nicht über derartige Macht und Kontrolle.“
Sie wissen, wie es gelaufen ist. Die Vereinigten Staaten waren unfähig.
Seht her, wir können 1983 in Grenada einmarschieren und uns gegen ein paar Dutzend kubanische Bauarbeiter durchsetzen, die Flagge schwenken und rufen: „Amerika ist zurück, wir können wieder mit stolzgeschwellter Brust stehen und sagen, wir haben Vietnam überwunden.“ Wir können das tun, aber militärische Lösungen funktionieren nicht. Wir haben uns in Syrien eingemischt, es gibt diese verdeckten CIA-Programme, an einem Punkt behauptete die New York Times, der syrische Bürgerkrieg forderte ein paar Dutzend Tote. Wir haben den Widerstand dort eigentlich angeheizt, Operation Timber Sycamore. Es gab Hunderttausende Tote. Wann lernen wir endlich unsere Lektion? In Syrien verpassen wir das schon wieder.
Normalerweise widerspreche ich Samuel Huntington und seinem Kampf der Kulturen, aber er lieferte auch interessante Erkenntnisse, etwa wenn er sagte: „Der Westen gewann die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, Werte oder Religion, sondern durch die überlegene Anwendung von organisierter Gewalt.“ Westler vergessen oft eine Sache, die Nicht-Westler nie vergessen. Und zwar, dass wir unsere Lektion nicht gelernt haben und es so nicht funktioniert. Der Krieg gegen den Terror war eine Katastrophe, aber die Liste der Neokonservativen ist noch nicht am Ende: „So, nach Afghanistan holen wir uns den Irak, dann Syrien, Libyen, den Iran und dann Somalia.“ Sie hatten eine Liste und alle wiederholten sie, das war ihr Mantra. Wir haben gesehen, was dabei herauskommt: Chaos, Zerrüttung, Krieg, Tod, Armut, Leid. Wir müssen anfangen, auf eine neue Art und Weise zu denken.
ZR: Peter Kuznick, was für ein spannendes Gespräch. Ich hoffe, wir können es in naher Zukunft fortsetzen. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren.
PK: Es war mir ein Vergnügen, danke.
ZR: Und danke, dass Sie heute wieder dabei waren. Vergessen Sie nicht, unseren YouTube-Kanal zu abonnieren und zu spenden, damit wir für Sie weiterhin unabhängige, nicht-kommerzielle Nachrichten und Analysen liefern können. Mein Name ist Zain Raza. Bis zum nächsten Mal.