ABC des Anarchismus – Teil 1

Free21 stellt in unregelmäßiger Reihenfolge Text vor, die nicht realexistierende Gesellschaftsentwürfe beschreiben, als Anregung zum Denken. Dieser Text von Alexander Berkman, die 1929 in englischer Sprache erschien, stammt von einem der bedeutendsten Theoretiker des Anarchismus, der heute fast in Vergessenheit geraten ist. Sein Text war und ist eine ausgezeichnete Einführung in die Vorstellungswelt der Anarchisten. Er zeichnet sich durch ihre klare, einfache und leicht verständliche Sprache aus. Einen Ausschnitt dieser lesenswerten Schrift stellt Free21 in zwei Teilen vor. iVorschläge für die Rubrik Utopie sind willkommen!

Von Published On: 10. August 2023Kategorien: Utopie

Dieser Text wurde zuerst auf www.anarchismus.at unter der URL <https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/alexander-berkman/83-alexander-berkman-abc-des-anarchismus> veröffentlicht. Lizenz: anarchismus.at, CC BY-NC-SA 3.0 DE

Fuck the system – Anarchismus –
(Wikimedia Commons)

Einführung

Ich möchte Ihnen etwas über Anarchismus erzählen. Ich möchte Ihnen sagen, was Anarchismus ist, denn ich glaube, es ist gut, wenn Sie es wissen. Auch deswegen weil so wenig darüber bekannt ist und das, was man im allgemeinen durch Hörensagen weiß meistens falsch ist. Ich möchte Ihnen darüber erzählen, weil ich glaube, dass Anarchismus die schönste und größte Sache ist, die Menschen je erdacht haben; er allein kann Ihnen Freiheit und Wohlstand geben und Frieden und Freude für die Welt bringen.

Ich möchte Ihnen darüber in so einfacher und schlichter Sprache erzählen, dass es keine Missverständnisse geben kann. Große Worte und hochtrabende Sätze verwirren nur. Unkompliziertes Denken verlangt eine einfache Sprache. Aber bevor ich Ihnen erzähle, was Anarchismus ist, möchte ich Ihnen sagen, was er nicht ist. Das ist erforderlich, weil so viele Lügen über den Anarchismus verbreitet worden sind. Sogar intelligente Menschen haben oft völlig falsche Vorstellungen. Manche Leute reden über Anarchismus, ohne auch nur das Geringste darüber zu wissen. Und manche verbreiten Lügen über den Anarchismus, weil sie nicht wollen, dass Sie die Wahrheit darüber erfahren.

Der Anarchismus hat viele Feinde, die natürlich die Wahrheit verschweigen werden. Warum der Anarchismus Feinde hat, und wer sie sind, werden Sie später in diesem Buche erfahren. Ich kann Ihnen aber schon jetzt sagen, dass weder Ihr politischer Führer noch Ihr Arbeitgeber, weder der Kapitalist noch der Polizist aufrichtig mit Ihnen über den Anarchismus sprechen werden. Die meisten von ihnen wissen auch nichts über ihn, aber alle hassen ihn. Ihre Zeitungen und Publikationsorgane – die kapitalistische Presse – sind ebenfalls gegen ihn. Selbst die meisten Sozialisten und Bolschewisten stellten ihn falsch dar. Es ist allerdings wahr, dass die Mehrheit unter ihnen es auch nicht besser weiß. Aber die, die es besser wissen, sagen oft nicht die Wahrheit und setzen Anarchismus mit Aufruhr und Chaos gleich. Sehen Sie selbst, wie unredlich viele in diesem Punkt sind: Die größten Lehrer des Sozialismus – Karl Marx und Friedrich Engels – haben gelehrt, dass der Anarchismus aus dem Sozialismus hervorgeht. Sie sagten, dass erst der Sozialismus kommen muss, aber dass auf den Sozialismus der Anarchismus folgen wird und dass dieser für die menschliche Gesellschaft eine noch freiere und bessere Lebensform darstelle als der Sozialismus. Die Sozialisten, die auf Marx und Engels schwören, beschimpfen den Anarchismus beharrlich als „Chaos und Aufruhr“, all dies zeigt Ihnen, wie ignorant und unredlich sie sind.

Er bedeutet nicht Bomben, Aufruhr oder Chaos. Er bedeutet nicht Raub und Mord. Er bedeutet nicht einen Krieg jeder gegen jeden. Er bedeutet nicht eine Rückkehr zur Barbarei oder in die Anfänge der Menschheit. Anarchismus ist das genaue Gegenteil all dessen. Anarchismus heißt, dass Sie frei sein werden; dass niemand Sie versklaven, Sie herumkommandieren, Sie berauben oder missbrauchen wird. Das bedeutet, dass Sie die Freiheit haben werden, das zu tun, was Sie wollen, und dass Sie nicht gezwungen werden, etwas gegen Ihren Willen zu tun. Das bedeutet, dass Sie die Möglichkeit haben, ohne Einmischung anderer so leben zu können, wie Sie es wünschen.

Das bedeutet, dass Ihr Nachbar die gleiche Freiheit hat wie Sie, dass jeder dieselben Rechte und Freiheiten besitzen wird. Das bedeutet, dass alle Menschen Brüder sind und wie Brüder in Frieden und Harmonie leben werden. Das heißt, dass es keine Kriege geben wird und keine Gewaltanwendung einer Gruppe gegen die andere, kein Monopol, keine Armut, keine Unterdrückung und kein Ausnutzen des Mitmenschen. Kurz gesagt: Anarchismus heißt die Gesellschaftsform, in der alle Männer und Frauen frei sind und in der alle die Vorteile eines geregelten und sinnvollen Lebens genießen. „Ist das überhaupt möglich?“ fragen Sie. „und wie?“ „Nicht bevor wir alle Engel werden“, bemerkt Ihr Freund.

Also sprechen wir es durch! Vielleicht kann ich Ihnen zeigen, dass wir vernünftig sein und wie anständige Leute leben können, ohne dass uns Flügel wachsen müssen. Die Bolschewisten tun dasselbe, obwohl ihr größter Lehrer, Lenin, gesagt hat, dass auf den Bolschewismus der Anarchismus folgen und dass man dann besser und freier leben wird. Darum muss ich Ihnen erst einmal sagen, was Anarchismus auf keinen Fall bedeutet.

Bedeutet Anarchismus
Gewaltanwendung?

Sie haben sicherlich gehört, dass Anarchisten Bomben werfen, dass sie an Gewalt glauben und dass die Anarchie Aufruhr und Chaos bedeutet. Es ist nicht überraschend, wenn Sie so denken sollten. Die Presse, die Kirche und jede andere Autorität hämmern es Ihnen ständig ein. Aber die meisten dieser Institutionen wissen es besser, und sie haben Grund Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Es wird Zeit, dass Sie diese hören. Ich habe die Absicht, mit Ihnen offen und ehrlich zu sprechen, und Sie können mich beim Wort nehmen, denn ich bin zufällig einer jener Anarchisten, die als gewalttätig und zerstörerisch gelten. Ich müsste darüber Bescheid wissen und habe auch keinen Grund etwas zu verbergen.

„Bedeutet Anarchismus nun wirklich Aufruhr und Gewalt?“ fragen Sie. „Nein, mein Freund. Es ist der Kapitalismus und die Regierung, die Unruhe und Gewalt erzeugen: Anarchismus ist das genaue Gegenteil, er ist für Ordnung ohne Regierung und für Frieden ohne Gewalt. „Aber ist so etwas möglich?“ wenden Sie ein. Genau darüber wollen wir sprechen. Aber zuerst wird Ihr Freund wissen wollen, ob Anarchisten nie Bomben geworfen oder Gewalt angewandt haben. Ja, Anarchisten haben Bomben geworfen und manchmal Gewalt angewendet „Na, siehst!“ wird Ihr Freund ausrufen. „Das dachte ich mir.“ Aber lassen Sie uns nicht voreilig sein. Wenn die Anarchisten manchmal Gewalt angewendet haben, heißt das dann unbedingt, dass Anarchismus Gewalt bedeuten muss? Stellen Sie sich selbst diese Frage und versuchen Sie, sie ehrlich zu beantworten.

Wenn ein Bürger eine Soldatenuniform anzieht, dann muss er vielleicht Bomben werfen und Gewalt anwenden. Würden Sie dann sagen, dass Bürgertum für Bomben und Gewalt steht? Diese Unterstellung würden Sie entrüstet von sich weisen. Das heißt, werden Sie antworten, dass ein Mensch unter bestimmten Bedingungen eventuell Gewalt anwenden muss. Dieser Mensch könnte ein Demokrat, ein Monarchist, ein Sozialist, Bolschewist oder Anarchist sein. Sie würden der Meinung sein, dass dieses für alle Menschen und alle Zeiten zutrifft. Brutus tötete Cäsar, weil er befürchtete, sein Freund hätte die Absicht, die Republik zu verraten und König zu werden; nicht darum, weil Brutus „Cäsar nicht liebte, sondern er Rom mehr liebte“. Brutus war kein Anarchist. Er war ein loyaler Republikaner.

Wilhelm Tell, berichtet die Volkskunde, erschoss den Tyrannen, um sein Land von der Unterdrückung zu befreien. Tell hatte nie etwas über Anarchismus gehört. Ich erwähne diese Ereignisse, um auf die Tatsache hinzuweisen, dass seit Urzeiten das Schicksal Despoten in Form einer Gewalttat freiheitsliebender Menschen ereilte, die gegen die Tyrannei rebellierten. Im allgemeinen waren die Attentäter Patrioten, Demokraten oder Republikaner, manchmal Sozialisten oder Anarchisten. Ihre Taten waren eine individuelle Rebellion gegen Unrecht und Ungerechtigkeit. Anarchismus hat damit nichts zu tun.

Es gab Zeiten im alten Griechenland, in denen das Töten eines Despoten als höchste Tugend galt. Das moderne Recht verurteilt solche Taten, aber das menschliche Gefühl scheint sich in dieser Beziehung von früher nicht zu unterscheiden. Das Gewissen der Welt empört sich nicht über Tyrannenmorde. Auch wenn sie öffentlich nicht gebilligt werden, so verzeiht doch die Menschheit im Herzen solche Taten und ist oft insgeheim darüber erfreut. Gab es nicht tausende patriotischer Jugendliche in Amerika, die bereit waren, den deutschen Kaiser zu ermorden, den sie für den Beginn des Ersten Weltkrieges verantwortlich machten? Hat das französische Gericht nicht erst vor kurzem den Mann freigelassen, der Petljura tötete, um Tausende von Männern, Frauen und Kindern zu rächen, die bei Petljuras Judenverfolgungen in Südrussland ermordet wurden?

In jedem Land und zu allen Zeiten hat es schon Tyrannenmorde gegeben; das heißt Männer und Frauen liebten ihr Land so sehr, dass sie bereit waren, ihr Leben dafür zu opfern. Meistens waren es Menschen, die keiner politischen Partei oder Idee anhingen, sondern nur die Tyrannei hassten. Gelegentlich waren es religiöse Fanatiker wie der fromme Katholik Kullmann, der Bismarck zu töten versuchte, oder wie die irregeleitete Schwärmerin Charlotte Corday, die während der französischen Revolution Marat tötete. In den Vereinigten Staaten wurden drei Präsidenten von Einzelgängern ermordet. Lincoln wurde l865 von John Wilkes Booth, einem Demokraten aus den Südstaaten, erschossen; Garfield im Jahre 1888 von dem Republikaner Charles Jules Cuiteau; und McKinley im Jahre 1901 von Leon Czolgosz. Nur einer der drei war Anarchist.

Es ist nur natürlich, dass das Land mit den schlimmsten Tyrannen auch die größte Anzahl von Tyrannenmorden aufweist. Nehmen Sie z. B. Russland. Wegen der totalen Unterdrückung der Redefreiheit und der Presse unter den Zaren konnte das despotische Regime nicht anders gemildert werden, als dass dem Tyrannen „die Furcht vor Gott“ eingejagt wurde. Jene Rächer waren meistens Söhne des Hochadels, idealistische Jugendliche, die die Freiheit und das Volk liebten. Da alle anderen Wege versperrt waren, sahen sie sich gezwungen, zu Pistole und Dynamit Zuflucht zu nehmen, mit der Hoffnung, dadurch die miserablen Zustände in ihrem Land zu mildern. Sie waren bekannt als Nihilisten und Terroristen. Sie waren keine Anarchisten.

In modernen Zeiten sind individuell ausgeführte politische Gewalttaten häufiger als in der Vergangenheit. Die Suf­fragetten in England haben oft darauf zurückgegriffen, um ihre Forderungen nach Gleichberechtigung zu propagieren und durchzusetzen. Seit Ende des Krieges haben in Deutschland Männer mit sehr konservativen Ansichten mit Hilfe solcher Methoden gehofft, die Monarchie wieder einführen zu können. Ein Monarchist hat Karl Erzberger, den preußischen Finanzminister ermordet; auch der Außenminister Walter Rathenau wurde von einem Mann derselben politischen Partei umgebracht.

Die Tat eines serbischen Patrioten, der noch nie etwas von Anarchismus gehört hatte, nämlich die Ermordung des österreichischen Thronfolgers war der eigentliche Grund oder zumindest eine Entschuldigung für den Eintritt in den Weltkrieg. In Deutschland, Ungarn, Spanien, Frankreich, Italien, Portugal und in jedem anderen europäischen Land haben Männer unterschiedlichster politischer Richtungen auf Gewalt zurückgegriffen, ganz zu schweigen von dem politischen Massenterror, der von organisierten Gruppen wie den Faschisten in Italien, dem Ku Klux Klan in Amerika oder der katholischen Kirche in Mexiko praktiziert wird.

Sie sehen also, dass das Monopol der politischen Gewaltanwendung nicht bei den Anarchisten liegt. Der Anteil, der von Anarchisten begangenen Gewalttaten ist vergleichsweise winzig gegenüber dem von Leuten anderer politischer Richtungen. Die Wahrheit ist, dass Gewaltanwendungen seit undenkbaren Zeiten in allen Ländern und in jeder sozialen Bewegung ein Teil des Kampfes gewesen ist. Selbst der Nazarener, der gekommen war, um das Evangelium des Friedens zu predigen, vertrieb die Geldwechsler gewaltsam aus dem Tempel. Wie ich schon sagte, besitzen die Anarchisten nicht das Monopol für Gewalt. Der Anarchismus lehrt im Gegenteil Frieden und Harmonie, Nichteinmischung und Unantastbarkeit des Lebens und der Freiheit. Anarchisten sind ebenso menschlich wie der Rest der Menschheit, vielleicht sogar mehr. Sie empfinden Unrecht und Ungerechtigkeit stärker, entrüsten sich schneller über Unterdrückung und daher ist es zuweilen nicht ausgeschlossen, dass sie in Form einer Gewalttat protestieren. Solche Taten sind aber Ausdruck eines individuellen Temperaments und nicht einer bestimmten Theorie.

Sie werden vielleicht fragen, ob das Festhalten an revolutionären Ideen Menschen nicht zwangsläufig zu Gewalttätigkeit führt. Ich glaube das nicht, denn wir haben gesehen, dass Methoden der Gewalt auch von Leuten mit sehr konservativen Ansichten angewandt worden sind. Wenn Menschen mit genau entgegengesetzten politischen Ansichten in gleicher Weise handeln, dann ist es wenig überzeugend, wenn man Ideen für diese Taten verantwortlich macht.

Gleiche Resultate haben die gleiche Ursache aber man darf diese Ursache sicherlich nicht in den politischen Überzeugungen suchen, sondern eher im individuellen Temperament und im allgemeinen Verhältnis zur Gewalt. „Sie mögen recht haben, was das Temperament betrifft“, sagen Sie. „Es leuchtet mir ein, dass revolutionäre Ideen nicht die Ursache für politische Gewalttaten sind, sonst müsste jeder Revolutionär solche Taten begehen. Aber rechtfertigen diese Ansichten teilweise nicht jene, die solche Taten ausführen?“ Auf den ersten Blick mag es so aussehen. Aber wenn Sie genau darüber nachdenken, dann werden Sie feststellen, dass dieser Gedanke völlig falsch ist. Der beste Beweis dafür ist, dass Anarchisten, die die gleiche Meinung über Regierung und die Notwendigkeit ihrer Abschaffung haben, in der Frage der Gewaltanwendung oft völlig uneinig sind. So verurteilen die auf Tolstoi zurückgehenden Anarchisten und die meisten individualistisch eingestellten Anarchisten politische Gewaltanwendung, während andere Anarchisten sie billigen oder zumindest rechtfertigen.

Darüber hinaus haben viele Anarchisten, die einst an die Gewalt als Propagandamittel glaubten, ihre Meinung geändert und unterstützen diese Methoden nicht mehr. Es gab beispielsweise eine Zeit, in der die Anarchisten individuelle Gewalttaten, bekannt als „Propaganda der Tat“, befürworteten. Sie erwarteten weder, dass Regierung und Kapitalismus durch solche Taten zum Anarchismus bekehrt würden, noch glaubten sie, dass die Beseitigung eines Despoten den Despotismus abschaffen würde. Nein, der Terrorismus wurde als ein Mittel angesehen, das allgemeines Unrecht rächt, dem Feind Angst einflößt und die Aufmerksamkeit auf das Übel lenkt, gegen das der Terrorakt gerichtet war. Doch die meisten Anarchisten glauben heute nicht an die „Propaganda der Tat“ und unterstützen Handlungen dieser Art nicht.

Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass mögen diese Methoden in der Vergangenheit vielleicht auch gerechtfertigt und nützlich gewesen sein, sie unter den heutigen Bedingungen unnötig und für die Verbreitung ihrer Ideen sogar schädlich sind. Da aber ihre Ideen dieselben geblieben sind, heißt das, dass nicht der Anarchismus ihre Einstellung zur Gewalt formte. Das beweist, dass nicht bestimmte Ideen oder „Theorien“ zur Gewalt führen, sondern dass andere Prozesse sie mit sich bringen.

Wir müssen darum an anderer Stelle suchen, um die richtige Erklärung zu finden. Wie wir gesehen haben, wurden politische Gewaltakte nicht nur von Anarchisten, Sozialisten und Revolutionären jeder Schattierung begangen, sondern auch von Patrioten und Nationalisten, von Demokraten und Republikanern, von Suffragetten, von Konservativen und Reaktionären, von Monarchisten und Royalisten und sogar von religiösen Eiferern und frommen Christen.

Wir wissen jetzt, dass nicht eine bestimmte Idee oder „Ismen“ sie zu ihren Handlungen veranlasst hat, denn die unterschiedlichsten Ideen und „Ismen“ haben dieselben Taten hervorgebracht. Als Grund habe ich das individuelle Temperament und das allgemeine Verhältnis zur Gewalt angegeben.

Der französische Anarchist Ravachol war ein Verfechter der Propaganda der Tat durch Gewalt: Als Rache für getötete Demonstranten verübte er Bombenanschläge und wurde dafür guillotiniert.
(Gemeinfrei)

Hier ist der springende Punkt. Wie ist das allgemeine Verhältnis zur Gewalt? Wir werden die Sache nur verstehen, wenn wir diese Frage korrekt beantworten können. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass jeder von uns an Gewalt glaubt und sie auch praktiziert, wenngleich er sie bei anderen auch verurteilen mag. In der Tat basieren sämtliche von uns unterstützten Institutionen und das gesamte Leben der gegenwärtigen Gesellschaft auf Gewalt. Was ist das, was wir Regierung nennen? Ist sie etwas anderes als organisierte Gewalt? Das Gesetz schreibt Ihnen vor, was Sie zu tun oder Sie nicht zu tun haben, und wenn Sie ihm nicht gehorchen, dann werden Sie mit Gewalt dazu gezwungen. Wir diskutieren jetzt nicht, ob es richtig oder falsch ist, ob es so oder nicht so sein sollte. Im Augenblick interessiert uns nur die Tatsache, dass es so ist, dass letzten Endes jede Regierung, alle Gesetze und jede Autorität auf Zwang und Gewalt, auf Bestrafung oder Angst vor Bestrafung beruhen. Sogar die geistige Autorität wie die Amtsgerichte der Kirche und die Autorität Gottes beruhen auf Zwang und Gewalt, denn es ist die Furcht vor Gottes Zorn und Strafe, die Macht auf Sie ausübt, Sie zu Gehorsam und an Dinge zu glauben zwingt, von denen Sie nicht überzeugt sind.

Wohin Sie auch blicken, Sie werden feststellen, dass unser gesamtes Leben auf Gewalt oder der Angst davor aufgebaut ist. Von frühester Kindheit an sind Sie der Gewalt der Eltern oder der Erwachsenen ausgesetzt. Zu Hause, in der Schule, im Büro, in der Fabrik, auf dem Feld oder in der Werkstatt haben Sie immer jemandem gehorsam zu sein, und seine Autorität zwingt Sie, seinen Willen auszuführen. Das Recht, Sie zu zwingen, nennt man Autorität. Angst vor Bestrafung wurde zur Pflicht gemacht und heißt Gehorsam. In dieser Atmosphäre des Zwangs und der Gewalt, der Autorität und des Gehorsams, der Pflicht, Angst und Bestrafung wachsen wir alle auf; wir atmen sie unser ganzes Leben lang ein. Wir sind derart durchtränkt mit dem Geist der Gewalt, dass wir nie innehalten und fragen, ob Gewalt richtig oder falsch ist. Wir fragen nur, ob sie legal ist und ob das Gesetz sie zulässt.

Sie stellen das Recht der Regierung zu töten, zu beschlagnahmen und einzusperren nicht in Frage. Wenn eine Privatperson und nicht die Regierung sich der Dinge schuldig machen würde, so würden Sie diese als Mörder, Dieb und Schurken anprangern. Aber solange die verübte Gewalt „gesetzlich“ ist, billigen Sie sie und unterwerfen sich ihr. Also protestieren Sie in Wirklichkeit nicht gegen die Gewalt, sondern gegen Leute, die Gewalt „ungesetzlich“ anwenden.

Diese erlaubte Gewalt und die Angst vor ihr beherrschen unsere gesamte individuelle und kollektive Existenz. Autorität kontrolliert unser Leben von der Wiege bis zum Grab – elterliche, priesterliche und göttliche, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Autorität. Welchen Charakter die Autorität auch haben mag, immer derselbe Vollstrecker übt Macht über Sie mittels Angst vor Bestrafung in dieser oder jener Form aus. Sie haben Angst vor Gott und dem Teufel, vor dem Priester und dem Nachbarn, vor Ihrem Arbeitgeber und Vorgesetzten, vor dem Politiker und dem Polizisten, dem Richter und dem Gefängniswärter, vor dem Gesetz und vor der Regierung. Ihr ganzes Leben besteht aus einer langen Kette von Ängsten – Ängsten, die ihren Körper quälen und Ihre Seele zerreißen. Auf diesen Ängsten beruht die Autorität Gottes, der Kirche, der Eltern, der Kapitalisten und der Herrscher. Gehen Sie in sich und prüfen Sie, ob ich die Unwahrheit sage. Wie sollte es sonst möglich sein, dass sogar unter Kindern der zehnjährige Jonny seine jüngeren Geschwister dank seiner größeren physischen Kraft herumkommandiert, genauso, wie Jonnys Vater ihn wiederum auf Grund seiner größeren Kraft und wegen Jonnys Abhängigkeit bezüglich des Unterhalts herumkommandiert. Sie bestehen auf der Autorität der Priester und Prediger, da Sie glauben, dass diese „den Zorn Gottes auf Ihr Haupt lenken“ können. Sie fügen sich dem Willen des Vorgesetzten, des Richters und der Regierung, da diese die Macht haben, Ihnen Ihre Arbeit zu nehmen, Ihr Geschäft zu ruinieren, Sie ins Gefängnis zu werfen – eine Macht übrigens, die Sie Ihnen selbst gegeben haben.

Auf diese Weise regiert Autorität Ihr gesamtes Leben – die Autorität der Vergangenheit und der Gegenwart, der Toten und der Lebenden – und ihr Leben ist dauernder Angriff und Verletzung Ihrer Persönlichkeit, ständige Unterwerfung der Meinung und dem Verlangen anderer.

Sie rächen sich an anderen, über die Sie Herrschaft oder auf die Sie physischen oder moralischen Zwang ausüben können, indem Sie Ihnen Gewalt antun, und sie verletzen genauso wie man mit Ihnen verfährt. Auf diese Weise ist Leben ein scheußliches Flickenmuster aus Autorität, Herrschaft und Ergebenheit, Befehl und Gehorsam, Zwang und Unterwerfung, Herrschen und Beherrschen, Gewalt und Macht in tausend und einer Gestalt geworden. Wundert es Sie da noch, dass sogar Idealisten in dem Netz dieser Gedankenwelt von Autorität und Gewalt gefangen sind und oft durch ihre Gefühle und die Umwelt zu feindlichen Handlungen getrieben werden, die völlig im Widerspruch zu ihren Ideen stehen?

Wir sind immer noch Barbaren, die auf Macht und Gewalt zurückgreifen, um die eigenen Schulden, Schwierigkeiten und Probleme zu bereinigen. Gewalt ist die Methode der Unwissenheit, die Waffe der Schwachen. Diejenigen, die viel menschliche Güte und Verstand besitzen, haben keine Gewalt nötig, da sie unwiderstehlich sind aufgrund ihrer Überzeugung richtig zu handeln. Je weiter wir uns vom Urmenschen und vom Zeitalter des Handbeils entfernen, desto weniger werden wir auf Macht und Gewalt zurückgreifen. Je aufgeklärter der Mensch wird, desto weniger wird er Druck und Zwang ausüben. Er wird sich aus dem Staub erheben und aufrecht stehen: Er wird sich vor keinem Zaren im Himmel oder auf der Erde verbeugen. Er wird erst dann vollkommen menschlich sein, wenn er zu herrschen verschmäht und sich weigert beherrscht zu werden. Er wird erst wirklich frei sein, wenn es keine Herren mehr gibt.

Anarchismus ist das Ideal eines solchen Zustands; einer Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang, in der alle Menschen gleich sein und in Freiheit, Frieden und Harmonie leben werden. Das Wort Anarchie stammt aus dem Griechischen und bedeutet ohne Macht, ohne Gewalt oder Regierung, weil Regierung der Urquell für Gewalt, Einschränkung und Zwang ist. Anarchie*(=* Anarchie bezieht sich auf den Zustand. Anarchismus ist die Theorie oder Lehre darüber.) bedeutet daher nicht Aufruhr und Chaos, wie Sie anfangs dachten. Sie ist geradezu das Gegenteil davon: Sie bedeutet keine Regierung, also Freiheit und Unabhängigkeit. Aufruhr ist ein Produkt von Autorität und Zwang. Freiheit ist der Quell der Ordnung. „Eine sehr schöne Idee“, werden Sie sagen, „aber nur Engel sind dafür geschaffen“. Dann lassen Sie uns abwarten, ob wir uns die Flügel wachsen lassen können, die wir für diese ideale Gesellschaftsform brauchen.

Was ist Anarchismus?

„Können Sie mir kurz erklären“, fragt Ihr Freund, „was Anarchismus ist?“ Ich werde es versuchen. Kurz gesagt, der Anarchismus lehrt, dass wir in einer Gesellschaft frei von Zwang irgendwelcher Art leben können.

Ein Leben ohne Zwang bedeutet natürlich Freiheit; das heißt frei zu sein von Druck und Zwang, die Möglichkeit so zu leben, wie es Ihnen gefällt. Solch ein Leben können Sie aber nicht führen, bevor Sie nicht die Institutionen abschaffen, die Ihre Freiheit einschränken und in Ihr Leben eingreifen, sowie die Zustände, die Sie anders handeln lassen, als Sie eigentlich wollen.

Welche Institutionen und Zustände sind das? Lassen Sie uns prüfen, was wir abschaffen müssen, um ein freies und harmonisches Leben führen zu können. Wenn wir erst einmal wissen, was abgeschafft und durch was es ersetzt werden muss, dann werden wir auch einen Weg zur Verwirklichung finden. Was muss also abgeschafft werden, um die Freiheit zu erlangen?

Zuerst natürlich einmal das, was am meisten in Ihr Leben eingreift, was Ihre Handlungsfreiheit stört oder einschränkt; das, was Ihnen die Freiheit nimmt und anders zu leben zwingt, als Sie es nach eigener Wahl tun würden.

Das ist die Regierung. Wenn Sie sie genau überprüfen, werden Sie erkennen, dass die Regierung der schlimmste Störenfried ist; mehr als das, der größte Verbrecher, den die Menschen je gekannt haben. Sie füllt die Welt mit Gewalt, Betrug und Täuschung, mit Unterdrückung und Elend aus. Wie ein großer Philosoph einmal sagte: „Ihr Atem ist Gift.“ Sie verdirbt alles, was sie anfasst. „Ja, die Regierung bedeutet Gewalt und ist ein Übel“, geben Sie zu, „aber können wir ohne sie auskommen?“

Genau darüber wollen wir diskutieren. Wenn ich Sie jetzt frage, ob Sie eine Regierung brauchen, so bin ich sicher, dass Sie nein sagen würden, aber dass die anderen sie brauchen. Aber wenn Sie einen der „anderen“ fragen, wird er wie Sie antworten: Er wird sagen, dass er sie nicht braucht, aber dass sie „für die anderen“ notwendig ist. Warum glaubt jeder, dass er auch ohne Polizist anständig genug ist, aber dass der Knüppel „für andere“ benötigt wird?

„Die Menschen würden einander berauben und ermorden, wenn es keine Regierung und kein Gesetz gäbe“, sagen Sie. Wenn sie es wirklich tun würden, warum wäre das so? Würden sie es einfach um des Vergnügens willen oder aus einem bestimmten Grund tun? Wenn wir ihre Beweggründe untersuchen, dann werden wir vielleicht ein Heilmittel entdecken.

Stellen Sie sich vor, dass Sie, ich und ein paar andere Schiffbruch erlitten hätten und uns auf einer Insel voll von Früchten aller Art wiederfinden. Natürlich würden wir erst einmal gemeinsam Nahrung sammeln. Aber angenommen, einer von uns würde erklären, dass alles ihm gehöre und keiner nur einen Bissen bekommt, bevor er ihm nicht einen Tribut gezahlt hätte. Wir wären entrüstet, nicht wahr? Wir würden über seine Ansprüche lachen. Wenn er versuchen sollte, deswegen Schwierigkeiten zu machen, würden wir ihn vielleicht ins Meer werfen, und geschähe ihm recht, nicht wahr? Nehmen Sie weiterhin an, dass, wir selbst und unsere Vorväter eine Insel kultiviert und mit allem versehen hätten, was zu Leben und Wohlstand notwendig ist, und dann käme einer daher und würde behaupten, dass alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihn ignorieren, nicht wahr? Vielleicht würden wir ihm sagen, dass er seinen Beitrag leisten und sich an der Arbeit beteiligen kann. Aber angenommen, dass er auf seinem Eigentumsrecht besteht und ein Stück Papier vorzeigt und nachweist, dass alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihm sagen, dass er verrückt ist, und wieder unserer Arbeit nachgehen.

Aber wenn er eine Regierung hinter sich stehen hätte, dann würde er sie zum Schutz „seiner Rechte“ anrufen, und die Regierung würde Polizisten und Soldaten entsenden, die uns vertreiben und dem „rechtmäßigen Eigentümer“ seinen Besitz zurückgeben würden.

Das ist die Funktion der Regierung, dafür ist sie da und so handelt sie ständig. Glauben Sie nun immer noch, dass wir uns ohne dieses Ding, das sich Regierung nennt, gegenseitig berauben und ermorden würden? Ist es nicht eher so, dass wir mit einer Regierung rauben und morden? Weil die Regierung unseren rechtmäßigen Besitz nicht schützt, sondern – im Gegenteil – ihn uns sogar zum Vorteil derer wegnimmt, die kein Recht darauf haben, wie wir schon in früheren Kapiteln gesehen haben. Wenn Sie morgen Früh aufwachen und erfahren sollten, dass es keine Regierung mehr gibt, würde dann Ihr erster Gedanke sein, auf die Straße zu stürzen und jemand umzubringen? Nein, Sie wissen, dass das Unsinn ist. Wir sprechen über gesunde, normale Menschen. Kranke gehören in die Obhut von Ärzten und Psychiatern und sollten in Krankenhäuser gebracht und behandelt werden. Wenn Sie oder Herr Johnson aufwachen und keine Regierung mehr vorfinden, so wird es eher so sein, dass Sie beide sich eifrig bemühen werden, Ihr Leben den neuen Bedingungen anzupassen.

Es ist natürlich auch sehr gut möglich, dass Sie Essen fordern werden, wenn Sie Menschen sehen, die sich vollstopfen, während Sie hungrig sind; und Sie würden damit vollkommen recht haben. Genauso würde es jeder andere tun. Das heißt, dass die Menschen nicht für jemanden eintreten würden, der all die guten Dinge des Lebens an sich reißt. Sie möchten daran Anteil haben. Das heißt auch, dass die Armen sich weigern würden, weiterhin in Armut zu leben, während die anderen in Luxus schwelgen. Das heißt, der Bauer wird nicht zulassen, dass tausende Hektar Land brachliegen, während er nicht über genug Boden verfügt, um sich und seine Familie zu ernähren. Das heißt, das keinem erlaubt wird, das Monopol an Land oder an den Produktionsmitteln an sich zu reißen. Das heißt, dass privates Eigentum an den Lebensgrundlagen nicht mehr länger toleriert würde. Es würde als das größte Verbrechen angesehen, wenn einige mehr besäßen als sie selbst in mehreren Leben verbrauchen können, während ihre Nachbarn nicht genug Brot für ihre Kinder haben. Das heißt, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben und beitragen, diesen Reichtum zu schaffen. Das heißt nichts weiter, als dass zum ersten Mal in der Geschichte Recht, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung statt des Gesetzes siegen würden. Sie sehen also, die Abschaffung der Regierung hat auch die Beseitigung von Monopol und Privateigentum an den Produktions- und Vertriebsmitteln zur Folge.

Daraus folgt, mit der Abschaffung der Regierung verschwinden auch Lohnsklaverei und Kapitalismus, da sie ohne Unterstützung und Schutz der Regierung nicht bestehen können. Ähnlich wie der verrückte Anspruch des Mannes, von dem ich vorher sprach, der ein Monopol auf der Insel ohne Hilfe der Regierung nicht durchsetzen konnte. Der Zustand, in dem Freiheit eine Regierung ersetzt, wäre Anarchie. Und dort, wo gleichberechtigte Nutznießung an die Stelle von Privateigentum tritt, wäre Kommunismus. Es wäre ein kommunistischer Anarchismus.

„Oh, Kommunismus“, ruft Ihr Freund aus, „aber Sie sagten doch, Sie wären kein Bolschewist!“ Nein, ich bin kein Bolschewist, denn ein Bolschewist will eine starke Regierung oder einen mächtigen Staat, wogegen der Anarchist Staat oder Regierung ganz und gar abschaffen will. „Aber sind die Bolschewisten keine Kommunisten?“ fragen Sie. Doch, die Bolschewisten sind Kommunisten, aber sie brauchen ihre Diktatur, ihre Regierung, um die Menschen zu zwingen, im Kommunismus zu leben. Anarchistischer Kommunismus ist dagegen ein freiwilliger Kommunismus, ein Kommunismus aus freier Wahl.„Ich verstehe den Unterschied, das wäre natürlich wunderbar“, gibt Ihr Freund zu. „Aber halten Sie das wirklich für möglich?“

Ist Anarchie möglich?

„Es wäre nur möglich“, sagen Sie, „wenn wir ohne Regierung leben könnten. Aber geht das?“ Vielleicht können wir Ihre Frage am besten beantworten, wenn wir Ihr eigenes Leben untersuchen.

Welche Rolle spielt die Regierung in Ihrem Leben? Hilft sie Ihnen leben? Ernährt, kleidet und beherbergt sie Sie? Brauchen Sie sie als Hilfe bei der Arbeit oder beim Spiel? Wenn Sie krank sind, rufen Sie dann den Arzt oder die Polizei? Kann Ihnen die Regierung größere Fähigkeiten geben, als Sie bereits von Natur aus besitzen?

Betrachten Sie Ihr tägliches Leben und Sie werden feststellen, dass die Regierung in Wirklichkeit keine Rolle darin spielt, außer, wenn es darum geht sich in Ihre ureigenen Angelegenheiten einzumischen, Sie zu gewissen Dingen zu zwingen oder Ihnen andere zu verbieten. Sie zwingt Sie zum Beispiel, Steuern zu zahlen und sie zu unterstützen, ob Sie wollen oder nicht. Sie zwingt Sie, eine Uniform anzulegen und in die Armee einzutreten. Sie greift in Ihr persönliches Leben ein, kommandiert Sie herum, übt Zwang auf Sie aus, schreibt Ihnen Ihr Verhalten vor und behandelt Sie im allgemeinen so, wie es ihr gefällt. Sie sagt Ihnen sogar, was Sie glauben müssen und straft Sie, wenn Sie anders denken oder handeln. Sie bestimmt, was Sie essen und trinken dürfen und verhaftet oder erschießt Sie bei Ungehorsam. Sie befiehlt Ihnen und beherrscht jeden Schritt in Ihrem Leben. Sie behandelt Sie wie ein unartiges, unmündiges Kind, das die strenge Hand eines Behüters braucht. Aber wenn Sie ungehorsam sind, dann werden Sie trotzdem von ihr verantwortlich gemacht.

Wir werden später auf die Einzelheiten eines Lebens in der Anarchie eingehen und sehen, welche Bedingungen und Institutionen in einer solchen Gesellschaftsform bestehen, wie sie funktionieren und welche Auswirkungen sie wahrscheinlich auf den Menschen haben werden.

Jetzt wollen wir erst einmal sicherstellen, ob solch ein Zustand möglich und ob Anarchie praktizierbar ist. Wie verläuft das Leben eines Durchschnittsmenschen heute? Die meiste Zeit verbringen Sie damit, Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Verdienen des Lebensunterhalts beansprucht Sie so sehr, dass Ihnen kaum Zeit bleibt zu leben – und das Leben zu genießen. Weder die Zeit noch das Geld. Sie haben Glück, wenn Sie überhaupt eine Unterhaltsquelle, einen Job, haben. Ab und zu kommt eine Flaute: Dann gibt es Arbeitslosigkeit, und Tausende werden entlassen – jedes Jahr, in jedem Land.

Diese Zeit bedeutet: Kein Einkommen, keine Löhne. Ihre Folgen sind Sorgen und Entbehrung, Krankheit, Verzweiflung und Selbstmord. Armut und Kriminalität breiten sich aus. Um die Armut zu mildern, bauen wir Wohlfahrtsheime, Armenhäuser, freie Krankenhäuser, die Sie mit Ihren Steuern unterhalten. Um Verbrechen zu verhindern und Kriminelle zu bestrafen, sind Sie es wieder, die Polizei, Detektive, Staatstruppen, Richter, Rechtsanwälte, Gefängnisse und Gefängniswärter finanzieren müssen. Können Sie sich etwas Unsinnigeres und etwas Unpraktischeres vorstellen? Die Gesetzgeber beschließen Gesetze, die Richter interpretieren sie, die verschiedenen Beamten führen sie aus, die Polizei verfolgt und verhaftet den Kriminellen und schließlich kommt er in den Gewahrsam des Gefängniswärters. Zahllose Personen und Institutionen sind eifrig damit beschäftigt, den arbeitslosen Mann vom Stehlen abzuhalten und ihn zu bestrafen, wenn er es doch versucht. Dann wird er mit den zum Leben nötigen Dingen versorgt, deren Mangel aber überhaupt erst dazu führt, dass er das Gesetz übertrat. Nach kürzerer oder längerer Zeit wird er wieder freigelassen. Falls es ihm nicht gelingt Arbeit zu finden, beginnt derselbe Kreislauf von Diebstahl, Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Gefängnis wieder von vorn.

Dies ist zwar eine grobe aber doch treffende Beschreibung der unsinnigen Beschaffenheit unseres Systems; dumm und ineffektiv. Und Gesetz und Regierung schützen dieses System. Ist es nicht merkwürdig, dass die meisten Menschen glauben, nicht ohne Regierung auskommen zu können, wo doch in Wirklichkeit unser Leben überhaupt keine Verbindung mit ihr und keinen Bedarf an ihr hat und nur dann in Konflikt gerät, wenn das Gesetz und die Regierung in Erscheinung treten?

Anarchist Alexander Berkman spricht auf dem Union Square, NYC 1. Mai1914, (Gemeinfrei)

„Aber werden wir Sicherheit und öffentliche Ordnung“, wenden Sie ein, „ohne Gesetz und Regierung haben? Wer wird uns gegen Kriminelle schützen?“ In Wahrheit stellt in Wirklichkeit das, was man „Gesetz und Ordnung“ nennt, die größte Unordnung dar, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben. Das bisschen Ordnung und Frieden, das wir haben, verdanken wir dem gesunden Menschenverstand, den die Menschen meist trotz Regierung in gemeinsamen Bemühungen entwickeln. Brauchen Sie etwa eine Regierung, die Ihnen sagt, nicht vor ein fahrendes Auto zu laufen? Muss Sie Ihnen vorschreiben, nicht von der Brooklyn-Brücke oder dem Eiffelturm zu springen?

Der Mensch ist ein soziales Wesen: Er kann nicht allein existieren; er lebt in Gemeinden oder Gesellschaften. Gemeinsame Bedürfnisse und gemeinsame Interessen führen zu bestimmten Ordnungen, die uns Sicherheit und Wohlbefinden bieten. Eine solche Zusammenarbeit ist frei, freiwillig; sie bedarf keines Zwanges durch irgendeine Regierung. Sie treten einem Sport- oder Gesangverein bei, weil Ihre Neigungen in dieser Richtung liegen, und Sie arbeiten mit anderen Mitgliedern zusammen, ohne dass Sie jemand dazu zwingt. Der Wissenschaftler, der Schriftsteller, der Künstler und der Erfinder suchen ihresgleichen zur Anregung und gemeinsamen Arbeit: Die Einmischung irgendeiner Regierung oder Autorität kann ihre Vorhaben nur behindern.

Ihr ganzes Leben lang erfahren Sie, dass ihre Bedürfnisse und Neigungen die Menschen zu Vereinigungen, gegenseitigem Schutz und Hilfeleistungen führen. Das ist der Unterschied zwischen Dingen regeln und Menschen regieren, zwischen etwas freiwillig oder aus Zwang tun. Es macht den Unterschied zwischen Freiheit und Zwang aus, zwischen Anarchismus und Regierung, denn Anarchismus bedeutet freiwillige Zusammenarbeit anstatt erzwungener Teilnahme. Er meint Harmonie und Ordnung anstelle von Einmischung und Unordnung.

„Aber wer wird uns vor Verbrechen und Verbrechern schützen?“ fragen Sie. Fragen Sie sich lieber, ob uns die Regierung wirklich davor schützt. Schafft und hält die Regierung nicht selbst die Zustände aufrecht, die das Verbrechen fördern? Kultivieren nicht Einmischung und Gewalt, worauf alle Regierungen beruhen, den Geist der Intoleranz und Verfolgung, des Hasses und von noch mehr Gewalt? Steigt das Verbrechen nicht mit dem Anwachsen der durch die Regierung verursachten Armut und Ungerechtigkeit an? Ist die Regierung nicht selbst die größte Ungerechtigkeit und das größte Verbrechen? Kriminalität ist das Ergebnis wirtschaftlicher Bedingungen, sozialer Ungerechtigkeit, von Unrecht und Übel, deren Eltern Regierung und Monopol sind.

Die Regierung und das Gesetz kann den Kriminellen nur strafen. Durch sie wird ein Verbrechen weder gutgemacht noch verhindert. Das einzig richtige Heilmittel gegen Kriminalität wäre die Beseitigung ihrer Ursachen, aber gerade das kann die Regierung niemals tun, denn sie ist ja dazu da, die dafür verantwortlichen Bedingungen zu bewahren. Kriminalität kann nur dadurch ausgemerzt werden, dass man die sie hervorrufenden Zustände abschafft. Eine Regierung kann das nicht.

Anarchismus beseitigt die Zustände. Kriminalität als Ergebnis von Regierung, von ausgeübter Unterdrückung und Ungerechtigkeit, von Ungleichheit und Armut, wird unter einer Anarchie verschwinden. Diese Punkte bedingen den bei weitem größten Prozentsatz des Verbrechens. Gewisse andere Verbrechen werden noch einige Zeit fortbestehen, und zwar solche, die auf Eifersucht, Leidenschaft und dem heute die Welt beherrschenden Geist von Zwang und Gewalt beruhen. Aber diese Abkömmlinge von Gewalt und Besitzanspruch werden unter gesunden Verhältnissen gleichzeitig mit dem Vergehen der sie fördernden Atmosphäre auch allmählich verschwinden.

Anarchie wird daher weder Kriminalität züchten, noch den Boden für ihr Gedeihen bereiten. Gelegentlich vorkommende antisoziale Handlungen werden als Überbleibsel der früheren Zustände und Verhaltensweisen betrachtet werden und eher wie ein krankhafter Geisteszustand als wie ein Verbrechen behandelt. Die Anarchie würde den „Kriminellen“ zuallererst verpflegen und ihm Arbeit verschaffen, anstatt ihn zuerst zu beobachten, zu verhaften, vor Gericht zu bringen und einzusperren, um ihn dann endlich zu verpflegen und zusätzlich auch noch die vielen anderen, die ihn beobachten und verpflegen müssen. Sicherlich zeigt gerade dieses Beispiel, wie viel empfindsamer und unkomplizierter das Leben im Anarchismus als das heute wäre.

Die Wahrheit ist, dass die gegenwärtige Lebensweise unpraktisch, kompliziert, verwirrend und in jeder Hinsicht unbefriedigend ist. Darum gibt es so viel Elend und Unzufriedenheit. Der Arbeiter ist unzufrieden, auch der Boss ist nicht glücklich, denn er lebt in ständiger Angst vor „schlechten Zeiten“, die den Verlust seines Besitzes und seiner Macht mit sich bringen können. Das Gespenst der Angst vor der Zukunft verfolgt die Schritte der Armen genauso wie die der Reichen. Der Arbeiter hat sicherlich durch eine Umwandlung des Zustands mit Regierung und Kapitalismus in einen ohne Regierung, d.h. Anarchie, nichts zu verlieren. Die Mittelklassen sind in ihrer Existenz fast genauso bedroht wie die Arbeiterschaft. Sie sind auf den guten Willen der Hersteller und Großhändler, der großen Industriekonzerne und des Kapitals angewiesen und deswegen ständig von Bankrott und Ruin bedroht.

Selbst der große Kapitalist hat bei einem Wechsel des gegenwärtigen Systems in ein anarchistisches wenig zu verlieren, da darin Leben und Wohlstand eines jeden garantiert werden; die Angst vor dem Wettbewerb würde mit der Abschaffung des Privateigentums verschwinden. Jedem einzelnen würde es unbehindert möglich sein, sein Leben entsprechend seiner Möglichkeiten bis zum äußersten auszuschöpfen und zu genießen. Hinzu kommt noch das Bewusstsein von Frieden und Harmonie, das Gefühl, das mit der Unabhängigkeit von finanziellen und materiellen Sorgen entsteht; die Erkenntnis, dass Sie in einer freundlichen Welt ohne Neid oder Geschäftsrivalitäten leben, die Ihre Gedanken stören; in einer Welt von Brüdern; in einer Atmosphäre der Freiheit und des allgemeinen Wohlstands.

Es ist fast unmöglich, sich all die großartigen Möglichkeiten auszudenken, die sich den Menschen in einer Gesellschaft des kommunistischen Anarchismus eröffnen würden. Der Wissenschaftler könnte sich völlig seiner geliebten Forschung widmen, ohne sich um sein tägliches Brot sorgen zu müssen. Dem Erfinder würde jede Anlage zur Verfügung stehen, um mit seinen Entdeckungen und Erfindungen die Menschlichkeit zu fördern. Der Schriftsteller, der Dichter, der Künstler – sie alle würden auf den Flügeln der Freiheit und gesellschaftlichen Harmonie zu größeren Leistungen getragen.

Erst dann würden Gerechtigkeit und Recht zu dem werden, was sie eigentlich sein sollen. Unterschätzen sie nicht die Rolle dieser Empfindungen im Leben eines Menschen oder eines Volkes. Wir leben nicht von Brot allein. Richtig, nur wenn wir unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigen können, ist unsere Existenz gesichert. Aber deren Befriedigung macht nur einen Teil des Lebens aus. Unser gegenwärtiges Kultursystem hat, indem es Millionen ausstößt, den Bauch sozusagen zum Mittelpunkt des Universums gemacht. Da eine vernünftige Gesellschaftsform so geartet ist, dass alle reichlich versorgt werden, stellt die Erhaltung der bloßen Existenz definitionsgemäß kein Problem dar, d.h. der gesicherte Unterhalt ist so selbstverständlich und frei verfügbar wie die Luft zum Atmen. Die Gefühle menschlicher Sympathie, für Gerechtigkeit und Recht würden sich entwickeln können, befriedigt werden, sich erweitern und wachsen können. Sogar heute ist der Sinn für Gerechtigkeit und Fairness in den Herzen der Menschen, trotz jahrhundertelanger Repression und Perversion noch lebendig. Er ist nicht ausgerottet worden und kann auch nicht ausgerottet werden, weil er dem Menschen wie ein Instinkt angeboren ist, so stark wie der Selbsterhaltungstrieb und genauso wichtig für unser Glück ist. Denn nicht alles Elend auf der heutigen Welt ist durch Fehlen von materiellem Wohlstand bedingt. Die Menschen können Hunger eher ertragen als das Wissen um Ungerechtigkeit. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, wird sie genauso schnell und vielleicht noch schneller zu Protest und Rebellion treiben als Hunger. Hunger kann die unmittelbare Ursache für eine Rebellion oder einen Aufstand sein, aber dahinter steht die schlummernde Feindschaft und der Hass der Massen gegen jene, durch deren Hand sie Ungerechtigkeit und Unrecht erleiden müssen. In Wahrheit spielen Recht und Gerechtigkeit eine weit wichtigere Rolle in unserem Leben, als allgemein angenommen wird. Die das bestreiten wollen, wissen über die menschliche Natur genauso wenig wie über die Geschichte. Tagtäglich sehen Sie immer wieder Menschen, die sich über etwas empören, was sie als Unrecht ansehen. „Das ist nicht richtig“, lautet der instinktive Protest eines Menschen, der sich ungerecht behandelt fühlt. Sicherlich hängt die Auffassung von Recht und Unrecht jedes einzelnen von seiner Tradition, Umgebung und Erziehung ab.

Aber welche Vorstellungen er auch haben mag, ihn lässt sein naturgegebener Instinkt alles ablehnen, was er als falsch und ungerecht ansieht. Auch historisch gesehen bleibt das wahr. Mehr Aufstände und Kriege sind für die Idee von Recht und Unrecht, als aus materiellen Gründen begonnen worden. Marxisten mögen einwenden, dass unsere Ansichten über Recht und Unrecht ebenfalls durch ökonomische Bedingungen geformt werden, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Sinn für Recht und Gerechtigkeit Menschen bis hin zu Heldentum und Selbstaufopferung begeistert hat.

Die Christen und Buddhisten wurden nie von materiellen Überlegungen geleitet, sondern nur von ihrer Hingebung an Recht und Gerechtigkeit. Die Bahnbrecher neuer Ideen haben Verleumdung, Verfolgung und sogar den Tod nicht aus egoistischen Motiven auf sich genommen, sondern weil sie von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt waren. Menschen wie Johann Hus, Luther, Bruno, Savonarola, Galilei und zahllose andere religiöse und dem Sozialismus ergebene Idealisten kämpften und starben für die von ihnen als gerecht erkannte Sache. Ebenso haben Menschen in Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Dichtung und Erziehung von Sokrates bis hin in die moderne Zeit ihr Leben in den Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit gestellt.

Im Bereich des politischen und sozialen Fortschritts haben sich die edelsten Menschen, beginnend mit Moses und Spartakus, Idealen wie Freiheit und Gleichheit geweiht. Die unwiderstehliche Macht eines Idealismus findet sich nicht nur bei herausragenden Individuen. Die Massen wurden dadurch immer schon begeistert. Beispielsweise begann der amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit einer allgemeinen Empörung in den Kolonien über die Ungerechtigkeit einer Besteuerung, die ohne jegliches Mitspracherecht vom Mutterland festgesetzt wurde. Zweihundert Jahre lang versuchten Christen das Heilige Land in Kreuzzügen für die Christenheit zu erobern. Dieses religiöse Ideal begeisterte sechs Millionen Menschen, sogar Armeen von Kindern, die im Namen von Recht und Gerechtigkeit unsagbaren Mühsalen, Seuchen und Tod trotzten. Sogar im letzten Weltkrieg, so kapitalistisch er in Ursache und Ergebnis auch gewesen ist, kämpften Millionen Menschen im tiefen Glauben, dass er für eine gerechte Sache, für Demokratie und zur Beendigung aller Kriege geführt wurde. So hat der Sinn für Gerechtigkeit und Recht die Menschen individuell und kollektiv in ihrer gesamten Geschichte, sowohl der weit zurückliegenden als auch der modernen, zu Taten der Selbstaufopferung und Hingabe begeistert und sie weit über die Eintönigkeit des täglichen Lebens erhoben. Es ist natürlich tragisch, dass dieser Idealismus sich in Verfolgung und Gewalt äußerte, aber die Bösartigkeit und der Egoismus der Könige, Priester und Herrscher, die Unwissenheit und der Fanatismus führte dazu. Trotzdem war der Geist, von dem die Menschen erfüllt waren, der von Recht und Gerechtigkeit. Die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen beweisen, dass dieser Geist immer lebendig bleibt und im gesamten Bereich des menschlichen Lebens einen machtvollen und beherrschenden Faktor darstellt.

“The ABC of Communist Anarchism”, Vorwort von Emma Goldman. New York: Freie Arbeiter Stimme, 1937.

Die gegenwärtigen Zustände schwächen und verfälschen dieses höchst edle Merkmal der Menschen, pervertieren seine Manifestation und verdrehen es in Richtung von Intoleranz, Verfolgung, Hass, und Streit. Aber wenn der Mensch erst einmal von den korrumpierenden Einflüssen materieller Interessen befreit ist, aus Unwissenheit und Klassenfeindschaft herausgeholt wird, dann wird sein angeborener Sinn für Recht und Gerechtigkeit neue Ausdrucksformen finden, Formen, die zu größerer Brüderlichkeit und gutem Willen, zu individuellem Frieden und sozialer Harmonie führen.

Nur in der Anarchie könnte sich diese Geisteshaltung voll entwickeln. Befreit vom herabwürdigenden und brutalisierenden Kampf um unser tägliches Brot würden sich, da alle in gleicher Weise an Arbeit und Wohlstand teilhaben, die besten Qualitäten des menschlichen Wesens und Verstandes entwickeln können und nützliche Anwendung finden. Der Mensch würde dann in der Tat zu dem edlen Werk der Natur werden, das er sich bisher nur in seinen Träumen ausmalen konnte. Aus diesen Gründen ist Anarchie nicht nur das Ideal für einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Klasse, sondern für die ganze Menschheit, weil sie im erweiterten Sinne uns allen dienen würde. Denn Anarchismus ist der Ausdruck für einen universalen, immerwährenden Wunsch der Menschheit. Darum müsste jeder Mann und jede Frau ein vitales Interesse haben, die Anarchie zu verwirklichen. Sie würden es sicherlich tun, wenn sie nur die Schönheit und Gerechtigkeit dieses neuartigen Lebens begreifen könnten. Jedes menschliche Wesen, dem es nicht an Gefühl und gesundem Menschenverstand mangelt, neigt zum Anarchismus. Jeder, der unter Unrecht und Ungerechtigkeit, unter Bösartigkeit, Korruption und Gemeinheit unseres heutigen Lebens leidet, sympathisiert instinktiv mit der Anarchie. Jeder, dessen Herz nicht abgestorben ist im Hinblick auf Güte, Mitleid und Nächstenliebe, muss daran interessiert sein, sie zu fördern. Jeder, der Armut und Elend, Tyrannei und Unterdrückung erduldet, müsste das Herannahen der Anarchie begrüßen. Alle, die Freiheit und Gerechtigkeit lieben, sollten zu ihrer Verwirklichung beitragen.

Allen voran und am stärksten müssten alle Unterworfenen und Unterdrückten in der Welt ein Interesse daran haben. Jene, die Paläste bauen und in Elendshütten leben; jene, die den Tisch des Lebens decken, aber nicht an der Mahlzeit teilnehmen dürfen; jene, die den Reichtum der Welt schaffen und enteignet werden; jene, die das Leben mit Freude und Sonnenschein erfüllen, aber selbst in den Tiefen der Dunkelheit verachtet zurückbleiben; der Samson des Lebens, der seiner Kraft durch Angst und Unwissenheit beraubt ist; der hilflose Riese Arbeiterschaft, das Proletariat der Intelligenz und Muskeln, die Massen in Industrie und Landwirtschaft – sie alle müssten die Anarchie freudig begrüßen. Für sie besitzt der Anarchismus die größte Anziehungskraft; sie sind es, die als erste und an erster Stelle auf den neuen Tag hinarbeiten müssen, der ihnen ihr Erbe zurückgeben und Freiheit und Wohlstand, Freude und Sonnenschein für die ganze Menschheit bringt. „Eine herrliche Sache“, bemerken Sie, „aber wird das funktionieren? Und wie sollen wir das erreichen?“

Quellen:

Alexander Berkman – ABC des Anarchismus. Verlag Klaus Guhl. 1978. S.3-21. USA Originaltitel: “What is Communist Anarchism?”. 1929

ABC des Anarchismus – Teil 1

Free21 stellt in unregelmäßiger Reihenfolge Text vor, die nicht realexistierende Gesellschaftsentwürfe beschreiben, als Anregung zum Denken. Dieser Text von Alexander Berkman, die 1929 in englischer Sprache erschien, stammt von einem der bedeutendsten Theoretiker des Anarchismus, der heute fast in Vergessenheit geraten ist. Sein Text war und ist eine ausgezeichnete Einführung in die Vorstellungswelt der Anarchisten. Er zeichnet sich durch ihre klare, einfache und leicht verständliche Sprache aus. Einen Ausschnitt dieser lesenswerten Schrift stellt Free21 in zwei Teilen vor. iVorschläge für die Rubrik Utopie sind willkommen!

Von Published On: 10. August 2023Kategorien: Utopie

Dieser Text wurde zuerst auf www.anarchismus.at unter der URL <https://www.anarchismus.at/anarchistische-klassiker/alexander-berkman/83-alexander-berkman-abc-des-anarchismus> veröffentlicht. Lizenz: anarchismus.at, CC BY-NC-SA 3.0 DE

Fuck the system – Anarchismus –
(Wikimedia Commons)

Einführung

Ich möchte Ihnen etwas über Anarchismus erzählen. Ich möchte Ihnen sagen, was Anarchismus ist, denn ich glaube, es ist gut, wenn Sie es wissen. Auch deswegen weil so wenig darüber bekannt ist und das, was man im allgemeinen durch Hörensagen weiß meistens falsch ist. Ich möchte Ihnen darüber erzählen, weil ich glaube, dass Anarchismus die schönste und größte Sache ist, die Menschen je erdacht haben; er allein kann Ihnen Freiheit und Wohlstand geben und Frieden und Freude für die Welt bringen.

Ich möchte Ihnen darüber in so einfacher und schlichter Sprache erzählen, dass es keine Missverständnisse geben kann. Große Worte und hochtrabende Sätze verwirren nur. Unkompliziertes Denken verlangt eine einfache Sprache. Aber bevor ich Ihnen erzähle, was Anarchismus ist, möchte ich Ihnen sagen, was er nicht ist. Das ist erforderlich, weil so viele Lügen über den Anarchismus verbreitet worden sind. Sogar intelligente Menschen haben oft völlig falsche Vorstellungen. Manche Leute reden über Anarchismus, ohne auch nur das Geringste darüber zu wissen. Und manche verbreiten Lügen über den Anarchismus, weil sie nicht wollen, dass Sie die Wahrheit darüber erfahren.

Der Anarchismus hat viele Feinde, die natürlich die Wahrheit verschweigen werden. Warum der Anarchismus Feinde hat, und wer sie sind, werden Sie später in diesem Buche erfahren. Ich kann Ihnen aber schon jetzt sagen, dass weder Ihr politischer Führer noch Ihr Arbeitgeber, weder der Kapitalist noch der Polizist aufrichtig mit Ihnen über den Anarchismus sprechen werden. Die meisten von ihnen wissen auch nichts über ihn, aber alle hassen ihn. Ihre Zeitungen und Publikationsorgane – die kapitalistische Presse – sind ebenfalls gegen ihn. Selbst die meisten Sozialisten und Bolschewisten stellten ihn falsch dar. Es ist allerdings wahr, dass die Mehrheit unter ihnen es auch nicht besser weiß. Aber die, die es besser wissen, sagen oft nicht die Wahrheit und setzen Anarchismus mit Aufruhr und Chaos gleich. Sehen Sie selbst, wie unredlich viele in diesem Punkt sind: Die größten Lehrer des Sozialismus – Karl Marx und Friedrich Engels – haben gelehrt, dass der Anarchismus aus dem Sozialismus hervorgeht. Sie sagten, dass erst der Sozialismus kommen muss, aber dass auf den Sozialismus der Anarchismus folgen wird und dass dieser für die menschliche Gesellschaft eine noch freiere und bessere Lebensform darstelle als der Sozialismus. Die Sozialisten, die auf Marx und Engels schwören, beschimpfen den Anarchismus beharrlich als „Chaos und Aufruhr“, all dies zeigt Ihnen, wie ignorant und unredlich sie sind.

Er bedeutet nicht Bomben, Aufruhr oder Chaos. Er bedeutet nicht Raub und Mord. Er bedeutet nicht einen Krieg jeder gegen jeden. Er bedeutet nicht eine Rückkehr zur Barbarei oder in die Anfänge der Menschheit. Anarchismus ist das genaue Gegenteil all dessen. Anarchismus heißt, dass Sie frei sein werden; dass niemand Sie versklaven, Sie herumkommandieren, Sie berauben oder missbrauchen wird. Das bedeutet, dass Sie die Freiheit haben werden, das zu tun, was Sie wollen, und dass Sie nicht gezwungen werden, etwas gegen Ihren Willen zu tun. Das bedeutet, dass Sie die Möglichkeit haben, ohne Einmischung anderer so leben zu können, wie Sie es wünschen.

Das bedeutet, dass Ihr Nachbar die gleiche Freiheit hat wie Sie, dass jeder dieselben Rechte und Freiheiten besitzen wird. Das bedeutet, dass alle Menschen Brüder sind und wie Brüder in Frieden und Harmonie leben werden. Das heißt, dass es keine Kriege geben wird und keine Gewaltanwendung einer Gruppe gegen die andere, kein Monopol, keine Armut, keine Unterdrückung und kein Ausnutzen des Mitmenschen. Kurz gesagt: Anarchismus heißt die Gesellschaftsform, in der alle Männer und Frauen frei sind und in der alle die Vorteile eines geregelten und sinnvollen Lebens genießen. „Ist das überhaupt möglich?“ fragen Sie. „und wie?“ „Nicht bevor wir alle Engel werden“, bemerkt Ihr Freund.

Also sprechen wir es durch! Vielleicht kann ich Ihnen zeigen, dass wir vernünftig sein und wie anständige Leute leben können, ohne dass uns Flügel wachsen müssen. Die Bolschewisten tun dasselbe, obwohl ihr größter Lehrer, Lenin, gesagt hat, dass auf den Bolschewismus der Anarchismus folgen und dass man dann besser und freier leben wird. Darum muss ich Ihnen erst einmal sagen, was Anarchismus auf keinen Fall bedeutet.

Bedeutet Anarchismus
Gewaltanwendung?

Sie haben sicherlich gehört, dass Anarchisten Bomben werfen, dass sie an Gewalt glauben und dass die Anarchie Aufruhr und Chaos bedeutet. Es ist nicht überraschend, wenn Sie so denken sollten. Die Presse, die Kirche und jede andere Autorität hämmern es Ihnen ständig ein. Aber die meisten dieser Institutionen wissen es besser, und sie haben Grund Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Es wird Zeit, dass Sie diese hören. Ich habe die Absicht, mit Ihnen offen und ehrlich zu sprechen, und Sie können mich beim Wort nehmen, denn ich bin zufällig einer jener Anarchisten, die als gewalttätig und zerstörerisch gelten. Ich müsste darüber Bescheid wissen und habe auch keinen Grund etwas zu verbergen.

„Bedeutet Anarchismus nun wirklich Aufruhr und Gewalt?“ fragen Sie. „Nein, mein Freund. Es ist der Kapitalismus und die Regierung, die Unruhe und Gewalt erzeugen: Anarchismus ist das genaue Gegenteil, er ist für Ordnung ohne Regierung und für Frieden ohne Gewalt. „Aber ist so etwas möglich?“ wenden Sie ein. Genau darüber wollen wir sprechen. Aber zuerst wird Ihr Freund wissen wollen, ob Anarchisten nie Bomben geworfen oder Gewalt angewandt haben. Ja, Anarchisten haben Bomben geworfen und manchmal Gewalt angewendet „Na, siehst!“ wird Ihr Freund ausrufen. „Das dachte ich mir.“ Aber lassen Sie uns nicht voreilig sein. Wenn die Anarchisten manchmal Gewalt angewendet haben, heißt das dann unbedingt, dass Anarchismus Gewalt bedeuten muss? Stellen Sie sich selbst diese Frage und versuchen Sie, sie ehrlich zu beantworten.

Wenn ein Bürger eine Soldatenuniform anzieht, dann muss er vielleicht Bomben werfen und Gewalt anwenden. Würden Sie dann sagen, dass Bürgertum für Bomben und Gewalt steht? Diese Unterstellung würden Sie entrüstet von sich weisen. Das heißt, werden Sie antworten, dass ein Mensch unter bestimmten Bedingungen eventuell Gewalt anwenden muss. Dieser Mensch könnte ein Demokrat, ein Monarchist, ein Sozialist, Bolschewist oder Anarchist sein. Sie würden der Meinung sein, dass dieses für alle Menschen und alle Zeiten zutrifft. Brutus tötete Cäsar, weil er befürchtete, sein Freund hätte die Absicht, die Republik zu verraten und König zu werden; nicht darum, weil Brutus „Cäsar nicht liebte, sondern er Rom mehr liebte“. Brutus war kein Anarchist. Er war ein loyaler Republikaner.

Wilhelm Tell, berichtet die Volkskunde, erschoss den Tyrannen, um sein Land von der Unterdrückung zu befreien. Tell hatte nie etwas über Anarchismus gehört. Ich erwähne diese Ereignisse, um auf die Tatsache hinzuweisen, dass seit Urzeiten das Schicksal Despoten in Form einer Gewalttat freiheitsliebender Menschen ereilte, die gegen die Tyrannei rebellierten. Im allgemeinen waren die Attentäter Patrioten, Demokraten oder Republikaner, manchmal Sozialisten oder Anarchisten. Ihre Taten waren eine individuelle Rebellion gegen Unrecht und Ungerechtigkeit. Anarchismus hat damit nichts zu tun.

Es gab Zeiten im alten Griechenland, in denen das Töten eines Despoten als höchste Tugend galt. Das moderne Recht verurteilt solche Taten, aber das menschliche Gefühl scheint sich in dieser Beziehung von früher nicht zu unterscheiden. Das Gewissen der Welt empört sich nicht über Tyrannenmorde. Auch wenn sie öffentlich nicht gebilligt werden, so verzeiht doch die Menschheit im Herzen solche Taten und ist oft insgeheim darüber erfreut. Gab es nicht tausende patriotischer Jugendliche in Amerika, die bereit waren, den deutschen Kaiser zu ermorden, den sie für den Beginn des Ersten Weltkrieges verantwortlich machten? Hat das französische Gericht nicht erst vor kurzem den Mann freigelassen, der Petljura tötete, um Tausende von Männern, Frauen und Kindern zu rächen, die bei Petljuras Judenverfolgungen in Südrussland ermordet wurden?

In jedem Land und zu allen Zeiten hat es schon Tyrannenmorde gegeben; das heißt Männer und Frauen liebten ihr Land so sehr, dass sie bereit waren, ihr Leben dafür zu opfern. Meistens waren es Menschen, die keiner politischen Partei oder Idee anhingen, sondern nur die Tyrannei hassten. Gelegentlich waren es religiöse Fanatiker wie der fromme Katholik Kullmann, der Bismarck zu töten versuchte, oder wie die irregeleitete Schwärmerin Charlotte Corday, die während der französischen Revolution Marat tötete. In den Vereinigten Staaten wurden drei Präsidenten von Einzelgängern ermordet. Lincoln wurde l865 von John Wilkes Booth, einem Demokraten aus den Südstaaten, erschossen; Garfield im Jahre 1888 von dem Republikaner Charles Jules Cuiteau; und McKinley im Jahre 1901 von Leon Czolgosz. Nur einer der drei war Anarchist.

Es ist nur natürlich, dass das Land mit den schlimmsten Tyrannen auch die größte Anzahl von Tyrannenmorden aufweist. Nehmen Sie z. B. Russland. Wegen der totalen Unterdrückung der Redefreiheit und der Presse unter den Zaren konnte das despotische Regime nicht anders gemildert werden, als dass dem Tyrannen „die Furcht vor Gott“ eingejagt wurde. Jene Rächer waren meistens Söhne des Hochadels, idealistische Jugendliche, die die Freiheit und das Volk liebten. Da alle anderen Wege versperrt waren, sahen sie sich gezwungen, zu Pistole und Dynamit Zuflucht zu nehmen, mit der Hoffnung, dadurch die miserablen Zustände in ihrem Land zu mildern. Sie waren bekannt als Nihilisten und Terroristen. Sie waren keine Anarchisten.

In modernen Zeiten sind individuell ausgeführte politische Gewalttaten häufiger als in der Vergangenheit. Die Suf­fragetten in England haben oft darauf zurückgegriffen, um ihre Forderungen nach Gleichberechtigung zu propagieren und durchzusetzen. Seit Ende des Krieges haben in Deutschland Männer mit sehr konservativen Ansichten mit Hilfe solcher Methoden gehofft, die Monarchie wieder einführen zu können. Ein Monarchist hat Karl Erzberger, den preußischen Finanzminister ermordet; auch der Außenminister Walter Rathenau wurde von einem Mann derselben politischen Partei umgebracht.

Die Tat eines serbischen Patrioten, der noch nie etwas von Anarchismus gehört hatte, nämlich die Ermordung des österreichischen Thronfolgers war der eigentliche Grund oder zumindest eine Entschuldigung für den Eintritt in den Weltkrieg. In Deutschland, Ungarn, Spanien, Frankreich, Italien, Portugal und in jedem anderen europäischen Land haben Männer unterschiedlichster politischer Richtungen auf Gewalt zurückgegriffen, ganz zu schweigen von dem politischen Massenterror, der von organisierten Gruppen wie den Faschisten in Italien, dem Ku Klux Klan in Amerika oder der katholischen Kirche in Mexiko praktiziert wird.

Sie sehen also, dass das Monopol der politischen Gewaltanwendung nicht bei den Anarchisten liegt. Der Anteil, der von Anarchisten begangenen Gewalttaten ist vergleichsweise winzig gegenüber dem von Leuten anderer politischer Richtungen. Die Wahrheit ist, dass Gewaltanwendungen seit undenkbaren Zeiten in allen Ländern und in jeder sozialen Bewegung ein Teil des Kampfes gewesen ist. Selbst der Nazarener, der gekommen war, um das Evangelium des Friedens zu predigen, vertrieb die Geldwechsler gewaltsam aus dem Tempel. Wie ich schon sagte, besitzen die Anarchisten nicht das Monopol für Gewalt. Der Anarchismus lehrt im Gegenteil Frieden und Harmonie, Nichteinmischung und Unantastbarkeit des Lebens und der Freiheit. Anarchisten sind ebenso menschlich wie der Rest der Menschheit, vielleicht sogar mehr. Sie empfinden Unrecht und Ungerechtigkeit stärker, entrüsten sich schneller über Unterdrückung und daher ist es zuweilen nicht ausgeschlossen, dass sie in Form einer Gewalttat protestieren. Solche Taten sind aber Ausdruck eines individuellen Temperaments und nicht einer bestimmten Theorie.

Sie werden vielleicht fragen, ob das Festhalten an revolutionären Ideen Menschen nicht zwangsläufig zu Gewalttätigkeit führt. Ich glaube das nicht, denn wir haben gesehen, dass Methoden der Gewalt auch von Leuten mit sehr konservativen Ansichten angewandt worden sind. Wenn Menschen mit genau entgegengesetzten politischen Ansichten in gleicher Weise handeln, dann ist es wenig überzeugend, wenn man Ideen für diese Taten verantwortlich macht.

Gleiche Resultate haben die gleiche Ursache aber man darf diese Ursache sicherlich nicht in den politischen Überzeugungen suchen, sondern eher im individuellen Temperament und im allgemeinen Verhältnis zur Gewalt. „Sie mögen recht haben, was das Temperament betrifft“, sagen Sie. „Es leuchtet mir ein, dass revolutionäre Ideen nicht die Ursache für politische Gewalttaten sind, sonst müsste jeder Revolutionär solche Taten begehen. Aber rechtfertigen diese Ansichten teilweise nicht jene, die solche Taten ausführen?“ Auf den ersten Blick mag es so aussehen. Aber wenn Sie genau darüber nachdenken, dann werden Sie feststellen, dass dieser Gedanke völlig falsch ist. Der beste Beweis dafür ist, dass Anarchisten, die die gleiche Meinung über Regierung und die Notwendigkeit ihrer Abschaffung haben, in der Frage der Gewaltanwendung oft völlig uneinig sind. So verurteilen die auf Tolstoi zurückgehenden Anarchisten und die meisten individualistisch eingestellten Anarchisten politische Gewaltanwendung, während andere Anarchisten sie billigen oder zumindest rechtfertigen.

Darüber hinaus haben viele Anarchisten, die einst an die Gewalt als Propagandamittel glaubten, ihre Meinung geändert und unterstützen diese Methoden nicht mehr. Es gab beispielsweise eine Zeit, in der die Anarchisten individuelle Gewalttaten, bekannt als „Propaganda der Tat“, befürworteten. Sie erwarteten weder, dass Regierung und Kapitalismus durch solche Taten zum Anarchismus bekehrt würden, noch glaubten sie, dass die Beseitigung eines Despoten den Despotismus abschaffen würde. Nein, der Terrorismus wurde als ein Mittel angesehen, das allgemeines Unrecht rächt, dem Feind Angst einflößt und die Aufmerksamkeit auf das Übel lenkt, gegen das der Terrorakt gerichtet war. Doch die meisten Anarchisten glauben heute nicht an die „Propaganda der Tat“ und unterstützen Handlungen dieser Art nicht.

Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass mögen diese Methoden in der Vergangenheit vielleicht auch gerechtfertigt und nützlich gewesen sein, sie unter den heutigen Bedingungen unnötig und für die Verbreitung ihrer Ideen sogar schädlich sind. Da aber ihre Ideen dieselben geblieben sind, heißt das, dass nicht der Anarchismus ihre Einstellung zur Gewalt formte. Das beweist, dass nicht bestimmte Ideen oder „Theorien“ zur Gewalt führen, sondern dass andere Prozesse sie mit sich bringen.

Wir müssen darum an anderer Stelle suchen, um die richtige Erklärung zu finden. Wie wir gesehen haben, wurden politische Gewaltakte nicht nur von Anarchisten, Sozialisten und Revolutionären jeder Schattierung begangen, sondern auch von Patrioten und Nationalisten, von Demokraten und Republikanern, von Suffragetten, von Konservativen und Reaktionären, von Monarchisten und Royalisten und sogar von religiösen Eiferern und frommen Christen.

Wir wissen jetzt, dass nicht eine bestimmte Idee oder „Ismen“ sie zu ihren Handlungen veranlasst hat, denn die unterschiedlichsten Ideen und „Ismen“ haben dieselben Taten hervorgebracht. Als Grund habe ich das individuelle Temperament und das allgemeine Verhältnis zur Gewalt angegeben.

Der französische Anarchist Ravachol war ein Verfechter der Propaganda der Tat durch Gewalt: Als Rache für getötete Demonstranten verübte er Bombenanschläge und wurde dafür guillotiniert.
(Gemeinfrei)

Hier ist der springende Punkt. Wie ist das allgemeine Verhältnis zur Gewalt? Wir werden die Sache nur verstehen, wenn wir diese Frage korrekt beantworten können. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass jeder von uns an Gewalt glaubt und sie auch praktiziert, wenngleich er sie bei anderen auch verurteilen mag. In der Tat basieren sämtliche von uns unterstützten Institutionen und das gesamte Leben der gegenwärtigen Gesellschaft auf Gewalt. Was ist das, was wir Regierung nennen? Ist sie etwas anderes als organisierte Gewalt? Das Gesetz schreibt Ihnen vor, was Sie zu tun oder Sie nicht zu tun haben, und wenn Sie ihm nicht gehorchen, dann werden Sie mit Gewalt dazu gezwungen. Wir diskutieren jetzt nicht, ob es richtig oder falsch ist, ob es so oder nicht so sein sollte. Im Augenblick interessiert uns nur die Tatsache, dass es so ist, dass letzten Endes jede Regierung, alle Gesetze und jede Autorität auf Zwang und Gewalt, auf Bestrafung oder Angst vor Bestrafung beruhen. Sogar die geistige Autorität wie die Amtsgerichte der Kirche und die Autorität Gottes beruhen auf Zwang und Gewalt, denn es ist die Furcht vor Gottes Zorn und Strafe, die Macht auf Sie ausübt, Sie zu Gehorsam und an Dinge zu glauben zwingt, von denen Sie nicht überzeugt sind.

Wohin Sie auch blicken, Sie werden feststellen, dass unser gesamtes Leben auf Gewalt oder der Angst davor aufgebaut ist. Von frühester Kindheit an sind Sie der Gewalt der Eltern oder der Erwachsenen ausgesetzt. Zu Hause, in der Schule, im Büro, in der Fabrik, auf dem Feld oder in der Werkstatt haben Sie immer jemandem gehorsam zu sein, und seine Autorität zwingt Sie, seinen Willen auszuführen. Das Recht, Sie zu zwingen, nennt man Autorität. Angst vor Bestrafung wurde zur Pflicht gemacht und heißt Gehorsam. In dieser Atmosphäre des Zwangs und der Gewalt, der Autorität und des Gehorsams, der Pflicht, Angst und Bestrafung wachsen wir alle auf; wir atmen sie unser ganzes Leben lang ein. Wir sind derart durchtränkt mit dem Geist der Gewalt, dass wir nie innehalten und fragen, ob Gewalt richtig oder falsch ist. Wir fragen nur, ob sie legal ist und ob das Gesetz sie zulässt.

Sie stellen das Recht der Regierung zu töten, zu beschlagnahmen und einzusperren nicht in Frage. Wenn eine Privatperson und nicht die Regierung sich der Dinge schuldig machen würde, so würden Sie diese als Mörder, Dieb und Schurken anprangern. Aber solange die verübte Gewalt „gesetzlich“ ist, billigen Sie sie und unterwerfen sich ihr. Also protestieren Sie in Wirklichkeit nicht gegen die Gewalt, sondern gegen Leute, die Gewalt „ungesetzlich“ anwenden.

Diese erlaubte Gewalt und die Angst vor ihr beherrschen unsere gesamte individuelle und kollektive Existenz. Autorität kontrolliert unser Leben von der Wiege bis zum Grab – elterliche, priesterliche und göttliche, politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Autorität. Welchen Charakter die Autorität auch haben mag, immer derselbe Vollstrecker übt Macht über Sie mittels Angst vor Bestrafung in dieser oder jener Form aus. Sie haben Angst vor Gott und dem Teufel, vor dem Priester und dem Nachbarn, vor Ihrem Arbeitgeber und Vorgesetzten, vor dem Politiker und dem Polizisten, dem Richter und dem Gefängniswärter, vor dem Gesetz und vor der Regierung. Ihr ganzes Leben besteht aus einer langen Kette von Ängsten – Ängsten, die ihren Körper quälen und Ihre Seele zerreißen. Auf diesen Ängsten beruht die Autorität Gottes, der Kirche, der Eltern, der Kapitalisten und der Herrscher. Gehen Sie in sich und prüfen Sie, ob ich die Unwahrheit sage. Wie sollte es sonst möglich sein, dass sogar unter Kindern der zehnjährige Jonny seine jüngeren Geschwister dank seiner größeren physischen Kraft herumkommandiert, genauso, wie Jonnys Vater ihn wiederum auf Grund seiner größeren Kraft und wegen Jonnys Abhängigkeit bezüglich des Unterhalts herumkommandiert. Sie bestehen auf der Autorität der Priester und Prediger, da Sie glauben, dass diese „den Zorn Gottes auf Ihr Haupt lenken“ können. Sie fügen sich dem Willen des Vorgesetzten, des Richters und der Regierung, da diese die Macht haben, Ihnen Ihre Arbeit zu nehmen, Ihr Geschäft zu ruinieren, Sie ins Gefängnis zu werfen – eine Macht übrigens, die Sie Ihnen selbst gegeben haben.

Auf diese Weise regiert Autorität Ihr gesamtes Leben – die Autorität der Vergangenheit und der Gegenwart, der Toten und der Lebenden – und ihr Leben ist dauernder Angriff und Verletzung Ihrer Persönlichkeit, ständige Unterwerfung der Meinung und dem Verlangen anderer.

Sie rächen sich an anderen, über die Sie Herrschaft oder auf die Sie physischen oder moralischen Zwang ausüben können, indem Sie Ihnen Gewalt antun, und sie verletzen genauso wie man mit Ihnen verfährt. Auf diese Weise ist Leben ein scheußliches Flickenmuster aus Autorität, Herrschaft und Ergebenheit, Befehl und Gehorsam, Zwang und Unterwerfung, Herrschen und Beherrschen, Gewalt und Macht in tausend und einer Gestalt geworden. Wundert es Sie da noch, dass sogar Idealisten in dem Netz dieser Gedankenwelt von Autorität und Gewalt gefangen sind und oft durch ihre Gefühle und die Umwelt zu feindlichen Handlungen getrieben werden, die völlig im Widerspruch zu ihren Ideen stehen?

Wir sind immer noch Barbaren, die auf Macht und Gewalt zurückgreifen, um die eigenen Schulden, Schwierigkeiten und Probleme zu bereinigen. Gewalt ist die Methode der Unwissenheit, die Waffe der Schwachen. Diejenigen, die viel menschliche Güte und Verstand besitzen, haben keine Gewalt nötig, da sie unwiderstehlich sind aufgrund ihrer Überzeugung richtig zu handeln. Je weiter wir uns vom Urmenschen und vom Zeitalter des Handbeils entfernen, desto weniger werden wir auf Macht und Gewalt zurückgreifen. Je aufgeklärter der Mensch wird, desto weniger wird er Druck und Zwang ausüben. Er wird sich aus dem Staub erheben und aufrecht stehen: Er wird sich vor keinem Zaren im Himmel oder auf der Erde verbeugen. Er wird erst dann vollkommen menschlich sein, wenn er zu herrschen verschmäht und sich weigert beherrscht zu werden. Er wird erst wirklich frei sein, wenn es keine Herren mehr gibt.

Anarchismus ist das Ideal eines solchen Zustands; einer Gesellschaft ohne Gewalt und Zwang, in der alle Menschen gleich sein und in Freiheit, Frieden und Harmonie leben werden. Das Wort Anarchie stammt aus dem Griechischen und bedeutet ohne Macht, ohne Gewalt oder Regierung, weil Regierung der Urquell für Gewalt, Einschränkung und Zwang ist. Anarchie*(=* Anarchie bezieht sich auf den Zustand. Anarchismus ist die Theorie oder Lehre darüber.) bedeutet daher nicht Aufruhr und Chaos, wie Sie anfangs dachten. Sie ist geradezu das Gegenteil davon: Sie bedeutet keine Regierung, also Freiheit und Unabhängigkeit. Aufruhr ist ein Produkt von Autorität und Zwang. Freiheit ist der Quell der Ordnung. „Eine sehr schöne Idee“, werden Sie sagen, „aber nur Engel sind dafür geschaffen“. Dann lassen Sie uns abwarten, ob wir uns die Flügel wachsen lassen können, die wir für diese ideale Gesellschaftsform brauchen.

Was ist Anarchismus?

„Können Sie mir kurz erklären“, fragt Ihr Freund, „was Anarchismus ist?“ Ich werde es versuchen. Kurz gesagt, der Anarchismus lehrt, dass wir in einer Gesellschaft frei von Zwang irgendwelcher Art leben können.

Ein Leben ohne Zwang bedeutet natürlich Freiheit; das heißt frei zu sein von Druck und Zwang, die Möglichkeit so zu leben, wie es Ihnen gefällt. Solch ein Leben können Sie aber nicht führen, bevor Sie nicht die Institutionen abschaffen, die Ihre Freiheit einschränken und in Ihr Leben eingreifen, sowie die Zustände, die Sie anders handeln lassen, als Sie eigentlich wollen.

Welche Institutionen und Zustände sind das? Lassen Sie uns prüfen, was wir abschaffen müssen, um ein freies und harmonisches Leben führen zu können. Wenn wir erst einmal wissen, was abgeschafft und durch was es ersetzt werden muss, dann werden wir auch einen Weg zur Verwirklichung finden. Was muss also abgeschafft werden, um die Freiheit zu erlangen?

Zuerst natürlich einmal das, was am meisten in Ihr Leben eingreift, was Ihre Handlungsfreiheit stört oder einschränkt; das, was Ihnen die Freiheit nimmt und anders zu leben zwingt, als Sie es nach eigener Wahl tun würden.

Das ist die Regierung. Wenn Sie sie genau überprüfen, werden Sie erkennen, dass die Regierung der schlimmste Störenfried ist; mehr als das, der größte Verbrecher, den die Menschen je gekannt haben. Sie füllt die Welt mit Gewalt, Betrug und Täuschung, mit Unterdrückung und Elend aus. Wie ein großer Philosoph einmal sagte: „Ihr Atem ist Gift.“ Sie verdirbt alles, was sie anfasst. „Ja, die Regierung bedeutet Gewalt und ist ein Übel“, geben Sie zu, „aber können wir ohne sie auskommen?“

Genau darüber wollen wir diskutieren. Wenn ich Sie jetzt frage, ob Sie eine Regierung brauchen, so bin ich sicher, dass Sie nein sagen würden, aber dass die anderen sie brauchen. Aber wenn Sie einen der „anderen“ fragen, wird er wie Sie antworten: Er wird sagen, dass er sie nicht braucht, aber dass sie „für die anderen“ notwendig ist. Warum glaubt jeder, dass er auch ohne Polizist anständig genug ist, aber dass der Knüppel „für andere“ benötigt wird?

„Die Menschen würden einander berauben und ermorden, wenn es keine Regierung und kein Gesetz gäbe“, sagen Sie. Wenn sie es wirklich tun würden, warum wäre das so? Würden sie es einfach um des Vergnügens willen oder aus einem bestimmten Grund tun? Wenn wir ihre Beweggründe untersuchen, dann werden wir vielleicht ein Heilmittel entdecken.

Stellen Sie sich vor, dass Sie, ich und ein paar andere Schiffbruch erlitten hätten und uns auf einer Insel voll von Früchten aller Art wiederfinden. Natürlich würden wir erst einmal gemeinsam Nahrung sammeln. Aber angenommen, einer von uns würde erklären, dass alles ihm gehöre und keiner nur einen Bissen bekommt, bevor er ihm nicht einen Tribut gezahlt hätte. Wir wären entrüstet, nicht wahr? Wir würden über seine Ansprüche lachen. Wenn er versuchen sollte, deswegen Schwierigkeiten zu machen, würden wir ihn vielleicht ins Meer werfen, und geschähe ihm recht, nicht wahr? Nehmen Sie weiterhin an, dass, wir selbst und unsere Vorväter eine Insel kultiviert und mit allem versehen hätten, was zu Leben und Wohlstand notwendig ist, und dann käme einer daher und würde behaupten, dass alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihn ignorieren, nicht wahr? Vielleicht würden wir ihm sagen, dass er seinen Beitrag leisten und sich an der Arbeit beteiligen kann. Aber angenommen, dass er auf seinem Eigentumsrecht besteht und ein Stück Papier vorzeigt und nachweist, dass alles ihm gehöre. Was würden wir sagen? Wir würden ihm sagen, dass er verrückt ist, und wieder unserer Arbeit nachgehen.

Aber wenn er eine Regierung hinter sich stehen hätte, dann würde er sie zum Schutz „seiner Rechte“ anrufen, und die Regierung würde Polizisten und Soldaten entsenden, die uns vertreiben und dem „rechtmäßigen Eigentümer“ seinen Besitz zurückgeben würden.

Das ist die Funktion der Regierung, dafür ist sie da und so handelt sie ständig. Glauben Sie nun immer noch, dass wir uns ohne dieses Ding, das sich Regierung nennt, gegenseitig berauben und ermorden würden? Ist es nicht eher so, dass wir mit einer Regierung rauben und morden? Weil die Regierung unseren rechtmäßigen Besitz nicht schützt, sondern – im Gegenteil – ihn uns sogar zum Vorteil derer wegnimmt, die kein Recht darauf haben, wie wir schon in früheren Kapiteln gesehen haben. Wenn Sie morgen Früh aufwachen und erfahren sollten, dass es keine Regierung mehr gibt, würde dann Ihr erster Gedanke sein, auf die Straße zu stürzen und jemand umzubringen? Nein, Sie wissen, dass das Unsinn ist. Wir sprechen über gesunde, normale Menschen. Kranke gehören in die Obhut von Ärzten und Psychiatern und sollten in Krankenhäuser gebracht und behandelt werden. Wenn Sie oder Herr Johnson aufwachen und keine Regierung mehr vorfinden, so wird es eher so sein, dass Sie beide sich eifrig bemühen werden, Ihr Leben den neuen Bedingungen anzupassen.

Es ist natürlich auch sehr gut möglich, dass Sie Essen fordern werden, wenn Sie Menschen sehen, die sich vollstopfen, während Sie hungrig sind; und Sie würden damit vollkommen recht haben. Genauso würde es jeder andere tun. Das heißt, dass die Menschen nicht für jemanden eintreten würden, der all die guten Dinge des Lebens an sich reißt. Sie möchten daran Anteil haben. Das heißt auch, dass die Armen sich weigern würden, weiterhin in Armut zu leben, während die anderen in Luxus schwelgen. Das heißt, der Bauer wird nicht zulassen, dass tausende Hektar Land brachliegen, während er nicht über genug Boden verfügt, um sich und seine Familie zu ernähren. Das heißt, das keinem erlaubt wird, das Monopol an Land oder an den Produktionsmitteln an sich zu reißen. Das heißt, dass privates Eigentum an den Lebensgrundlagen nicht mehr länger toleriert würde. Es würde als das größte Verbrechen angesehen, wenn einige mehr besäßen als sie selbst in mehreren Leben verbrauchen können, während ihre Nachbarn nicht genug Brot für ihre Kinder haben. Das heißt, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben und beitragen, diesen Reichtum zu schaffen. Das heißt nichts weiter, als dass zum ersten Mal in der Geschichte Recht, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung statt des Gesetzes siegen würden. Sie sehen also, die Abschaffung der Regierung hat auch die Beseitigung von Monopol und Privateigentum an den Produktions- und Vertriebsmitteln zur Folge.

Daraus folgt, mit der Abschaffung der Regierung verschwinden auch Lohnsklaverei und Kapitalismus, da sie ohne Unterstützung und Schutz der Regierung nicht bestehen können. Ähnlich wie der verrückte Anspruch des Mannes, von dem ich vorher sprach, der ein Monopol auf der Insel ohne Hilfe der Regierung nicht durchsetzen konnte. Der Zustand, in dem Freiheit eine Regierung ersetzt, wäre Anarchie. Und dort, wo gleichberechtigte Nutznießung an die Stelle von Privateigentum tritt, wäre Kommunismus. Es wäre ein kommunistischer Anarchismus.

„Oh, Kommunismus“, ruft Ihr Freund aus, „aber Sie sagten doch, Sie wären kein Bolschewist!“ Nein, ich bin kein Bolschewist, denn ein Bolschewist will eine starke Regierung oder einen mächtigen Staat, wogegen der Anarchist Staat oder Regierung ganz und gar abschaffen will. „Aber sind die Bolschewisten keine Kommunisten?“ fragen Sie. Doch, die Bolschewisten sind Kommunisten, aber sie brauchen ihre Diktatur, ihre Regierung, um die Menschen zu zwingen, im Kommunismus zu leben. Anarchistischer Kommunismus ist dagegen ein freiwilliger Kommunismus, ein Kommunismus aus freier Wahl.„Ich verstehe den Unterschied, das wäre natürlich wunderbar“, gibt Ihr Freund zu. „Aber halten Sie das wirklich für möglich?“

Ist Anarchie möglich?

„Es wäre nur möglich“, sagen Sie, „wenn wir ohne Regierung leben könnten. Aber geht das?“ Vielleicht können wir Ihre Frage am besten beantworten, wenn wir Ihr eigenes Leben untersuchen.

Welche Rolle spielt die Regierung in Ihrem Leben? Hilft sie Ihnen leben? Ernährt, kleidet und beherbergt sie Sie? Brauchen Sie sie als Hilfe bei der Arbeit oder beim Spiel? Wenn Sie krank sind, rufen Sie dann den Arzt oder die Polizei? Kann Ihnen die Regierung größere Fähigkeiten geben, als Sie bereits von Natur aus besitzen?

Betrachten Sie Ihr tägliches Leben und Sie werden feststellen, dass die Regierung in Wirklichkeit keine Rolle darin spielt, außer, wenn es darum geht sich in Ihre ureigenen Angelegenheiten einzumischen, Sie zu gewissen Dingen zu zwingen oder Ihnen andere zu verbieten. Sie zwingt Sie zum Beispiel, Steuern zu zahlen und sie zu unterstützen, ob Sie wollen oder nicht. Sie zwingt Sie, eine Uniform anzulegen und in die Armee einzutreten. Sie greift in Ihr persönliches Leben ein, kommandiert Sie herum, übt Zwang auf Sie aus, schreibt Ihnen Ihr Verhalten vor und behandelt Sie im allgemeinen so, wie es ihr gefällt. Sie sagt Ihnen sogar, was Sie glauben müssen und straft Sie, wenn Sie anders denken oder handeln. Sie bestimmt, was Sie essen und trinken dürfen und verhaftet oder erschießt Sie bei Ungehorsam. Sie befiehlt Ihnen und beherrscht jeden Schritt in Ihrem Leben. Sie behandelt Sie wie ein unartiges, unmündiges Kind, das die strenge Hand eines Behüters braucht. Aber wenn Sie ungehorsam sind, dann werden Sie trotzdem von ihr verantwortlich gemacht.

Wir werden später auf die Einzelheiten eines Lebens in der Anarchie eingehen und sehen, welche Bedingungen und Institutionen in einer solchen Gesellschaftsform bestehen, wie sie funktionieren und welche Auswirkungen sie wahrscheinlich auf den Menschen haben werden.

Jetzt wollen wir erst einmal sicherstellen, ob solch ein Zustand möglich und ob Anarchie praktizierbar ist. Wie verläuft das Leben eines Durchschnittsmenschen heute? Die meiste Zeit verbringen Sie damit, Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Verdienen des Lebensunterhalts beansprucht Sie so sehr, dass Ihnen kaum Zeit bleibt zu leben – und das Leben zu genießen. Weder die Zeit noch das Geld. Sie haben Glück, wenn Sie überhaupt eine Unterhaltsquelle, einen Job, haben. Ab und zu kommt eine Flaute: Dann gibt es Arbeitslosigkeit, und Tausende werden entlassen – jedes Jahr, in jedem Land.

Diese Zeit bedeutet: Kein Einkommen, keine Löhne. Ihre Folgen sind Sorgen und Entbehrung, Krankheit, Verzweiflung und Selbstmord. Armut und Kriminalität breiten sich aus. Um die Armut zu mildern, bauen wir Wohlfahrtsheime, Armenhäuser, freie Krankenhäuser, die Sie mit Ihren Steuern unterhalten. Um Verbrechen zu verhindern und Kriminelle zu bestrafen, sind Sie es wieder, die Polizei, Detektive, Staatstruppen, Richter, Rechtsanwälte, Gefängnisse und Gefängniswärter finanzieren müssen. Können Sie sich etwas Unsinnigeres und etwas Unpraktischeres vorstellen? Die Gesetzgeber beschließen Gesetze, die Richter interpretieren sie, die verschiedenen Beamten führen sie aus, die Polizei verfolgt und verhaftet den Kriminellen und schließlich kommt er in den Gewahrsam des Gefängniswärters. Zahllose Personen und Institutionen sind eifrig damit beschäftigt, den arbeitslosen Mann vom Stehlen abzuhalten und ihn zu bestrafen, wenn er es doch versucht. Dann wird er mit den zum Leben nötigen Dingen versorgt, deren Mangel aber überhaupt erst dazu führt, dass er das Gesetz übertrat. Nach kürzerer oder längerer Zeit wird er wieder freigelassen. Falls es ihm nicht gelingt Arbeit zu finden, beginnt derselbe Kreislauf von Diebstahl, Verhaftung, Gerichtsverhandlung und Gefängnis wieder von vorn.

Dies ist zwar eine grobe aber doch treffende Beschreibung der unsinnigen Beschaffenheit unseres Systems; dumm und ineffektiv. Und Gesetz und Regierung schützen dieses System. Ist es nicht merkwürdig, dass die meisten Menschen glauben, nicht ohne Regierung auskommen zu können, wo doch in Wirklichkeit unser Leben überhaupt keine Verbindung mit ihr und keinen Bedarf an ihr hat und nur dann in Konflikt gerät, wenn das Gesetz und die Regierung in Erscheinung treten?

Anarchist Alexander Berkman spricht auf dem Union Square, NYC 1. Mai1914, (Gemeinfrei)

„Aber werden wir Sicherheit und öffentliche Ordnung“, wenden Sie ein, „ohne Gesetz und Regierung haben? Wer wird uns gegen Kriminelle schützen?“ In Wahrheit stellt in Wirklichkeit das, was man „Gesetz und Ordnung“ nennt, die größte Unordnung dar, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben. Das bisschen Ordnung und Frieden, das wir haben, verdanken wir dem gesunden Menschenverstand, den die Menschen meist trotz Regierung in gemeinsamen Bemühungen entwickeln. Brauchen Sie etwa eine Regierung, die Ihnen sagt, nicht vor ein fahrendes Auto zu laufen? Muss Sie Ihnen vorschreiben, nicht von der Brooklyn-Brücke oder dem Eiffelturm zu springen?

Der Mensch ist ein soziales Wesen: Er kann nicht allein existieren; er lebt in Gemeinden oder Gesellschaften. Gemeinsame Bedürfnisse und gemeinsame Interessen führen zu bestimmten Ordnungen, die uns Sicherheit und Wohlbefinden bieten. Eine solche Zusammenarbeit ist frei, freiwillig; sie bedarf keines Zwanges durch irgendeine Regierung. Sie treten einem Sport- oder Gesangverein bei, weil Ihre Neigungen in dieser Richtung liegen, und Sie arbeiten mit anderen Mitgliedern zusammen, ohne dass Sie jemand dazu zwingt. Der Wissenschaftler, der Schriftsteller, der Künstler und der Erfinder suchen ihresgleichen zur Anregung und gemeinsamen Arbeit: Die Einmischung irgendeiner Regierung oder Autorität kann ihre Vorhaben nur behindern.

Ihr ganzes Leben lang erfahren Sie, dass ihre Bedürfnisse und Neigungen die Menschen zu Vereinigungen, gegenseitigem Schutz und Hilfeleistungen führen. Das ist der Unterschied zwischen Dingen regeln und Menschen regieren, zwischen etwas freiwillig oder aus Zwang tun. Es macht den Unterschied zwischen Freiheit und Zwang aus, zwischen Anarchismus und Regierung, denn Anarchismus bedeutet freiwillige Zusammenarbeit anstatt erzwungener Teilnahme. Er meint Harmonie und Ordnung anstelle von Einmischung und Unordnung.

„Aber wer wird uns vor Verbrechen und Verbrechern schützen?“ fragen Sie. Fragen Sie sich lieber, ob uns die Regierung wirklich davor schützt. Schafft und hält die Regierung nicht selbst die Zustände aufrecht, die das Verbrechen fördern? Kultivieren nicht Einmischung und Gewalt, worauf alle Regierungen beruhen, den Geist der Intoleranz und Verfolgung, des Hasses und von noch mehr Gewalt? Steigt das Verbrechen nicht mit dem Anwachsen der durch die Regierung verursachten Armut und Ungerechtigkeit an? Ist die Regierung nicht selbst die größte Ungerechtigkeit und das größte Verbrechen? Kriminalität ist das Ergebnis wirtschaftlicher Bedingungen, sozialer Ungerechtigkeit, von Unrecht und Übel, deren Eltern Regierung und Monopol sind.

Die Regierung und das Gesetz kann den Kriminellen nur strafen. Durch sie wird ein Verbrechen weder gutgemacht noch verhindert. Das einzig richtige Heilmittel gegen Kriminalität wäre die Beseitigung ihrer Ursachen, aber gerade das kann die Regierung niemals tun, denn sie ist ja dazu da, die dafür verantwortlichen Bedingungen zu bewahren. Kriminalität kann nur dadurch ausgemerzt werden, dass man die sie hervorrufenden Zustände abschafft. Eine Regierung kann das nicht.

Anarchismus beseitigt die Zustände. Kriminalität als Ergebnis von Regierung, von ausgeübter Unterdrückung und Ungerechtigkeit, von Ungleichheit und Armut, wird unter einer Anarchie verschwinden. Diese Punkte bedingen den bei weitem größten Prozentsatz des Verbrechens. Gewisse andere Verbrechen werden noch einige Zeit fortbestehen, und zwar solche, die auf Eifersucht, Leidenschaft und dem heute die Welt beherrschenden Geist von Zwang und Gewalt beruhen. Aber diese Abkömmlinge von Gewalt und Besitzanspruch werden unter gesunden Verhältnissen gleichzeitig mit dem Vergehen der sie fördernden Atmosphäre auch allmählich verschwinden.

Anarchie wird daher weder Kriminalität züchten, noch den Boden für ihr Gedeihen bereiten. Gelegentlich vorkommende antisoziale Handlungen werden als Überbleibsel der früheren Zustände und Verhaltensweisen betrachtet werden und eher wie ein krankhafter Geisteszustand als wie ein Verbrechen behandelt. Die Anarchie würde den „Kriminellen“ zuallererst verpflegen und ihm Arbeit verschaffen, anstatt ihn zuerst zu beobachten, zu verhaften, vor Gericht zu bringen und einzusperren, um ihn dann endlich zu verpflegen und zusätzlich auch noch die vielen anderen, die ihn beobachten und verpflegen müssen. Sicherlich zeigt gerade dieses Beispiel, wie viel empfindsamer und unkomplizierter das Leben im Anarchismus als das heute wäre.

Die Wahrheit ist, dass die gegenwärtige Lebensweise unpraktisch, kompliziert, verwirrend und in jeder Hinsicht unbefriedigend ist. Darum gibt es so viel Elend und Unzufriedenheit. Der Arbeiter ist unzufrieden, auch der Boss ist nicht glücklich, denn er lebt in ständiger Angst vor „schlechten Zeiten“, die den Verlust seines Besitzes und seiner Macht mit sich bringen können. Das Gespenst der Angst vor der Zukunft verfolgt die Schritte der Armen genauso wie die der Reichen. Der Arbeiter hat sicherlich durch eine Umwandlung des Zustands mit Regierung und Kapitalismus in einen ohne Regierung, d.h. Anarchie, nichts zu verlieren. Die Mittelklassen sind in ihrer Existenz fast genauso bedroht wie die Arbeiterschaft. Sie sind auf den guten Willen der Hersteller und Großhändler, der großen Industriekonzerne und des Kapitals angewiesen und deswegen ständig von Bankrott und Ruin bedroht.

Selbst der große Kapitalist hat bei einem Wechsel des gegenwärtigen Systems in ein anarchistisches wenig zu verlieren, da darin Leben und Wohlstand eines jeden garantiert werden; die Angst vor dem Wettbewerb würde mit der Abschaffung des Privateigentums verschwinden. Jedem einzelnen würde es unbehindert möglich sein, sein Leben entsprechend seiner Möglichkeiten bis zum äußersten auszuschöpfen und zu genießen. Hinzu kommt noch das Bewusstsein von Frieden und Harmonie, das Gefühl, das mit der Unabhängigkeit von finanziellen und materiellen Sorgen entsteht; die Erkenntnis, dass Sie in einer freundlichen Welt ohne Neid oder Geschäftsrivalitäten leben, die Ihre Gedanken stören; in einer Welt von Brüdern; in einer Atmosphäre der Freiheit und des allgemeinen Wohlstands.

Es ist fast unmöglich, sich all die großartigen Möglichkeiten auszudenken, die sich den Menschen in einer Gesellschaft des kommunistischen Anarchismus eröffnen würden. Der Wissenschaftler könnte sich völlig seiner geliebten Forschung widmen, ohne sich um sein tägliches Brot sorgen zu müssen. Dem Erfinder würde jede Anlage zur Verfügung stehen, um mit seinen Entdeckungen und Erfindungen die Menschlichkeit zu fördern. Der Schriftsteller, der Dichter, der Künstler – sie alle würden auf den Flügeln der Freiheit und gesellschaftlichen Harmonie zu größeren Leistungen getragen.

Erst dann würden Gerechtigkeit und Recht zu dem werden, was sie eigentlich sein sollen. Unterschätzen sie nicht die Rolle dieser Empfindungen im Leben eines Menschen oder eines Volkes. Wir leben nicht von Brot allein. Richtig, nur wenn wir unsere körperlichen Bedürfnisse befriedigen können, ist unsere Existenz gesichert. Aber deren Befriedigung macht nur einen Teil des Lebens aus. Unser gegenwärtiges Kultursystem hat, indem es Millionen ausstößt, den Bauch sozusagen zum Mittelpunkt des Universums gemacht. Da eine vernünftige Gesellschaftsform so geartet ist, dass alle reichlich versorgt werden, stellt die Erhaltung der bloßen Existenz definitionsgemäß kein Problem dar, d.h. der gesicherte Unterhalt ist so selbstverständlich und frei verfügbar wie die Luft zum Atmen. Die Gefühle menschlicher Sympathie, für Gerechtigkeit und Recht würden sich entwickeln können, befriedigt werden, sich erweitern und wachsen können. Sogar heute ist der Sinn für Gerechtigkeit und Fairness in den Herzen der Menschen, trotz jahrhundertelanger Repression und Perversion noch lebendig. Er ist nicht ausgerottet worden und kann auch nicht ausgerottet werden, weil er dem Menschen wie ein Instinkt angeboren ist, so stark wie der Selbsterhaltungstrieb und genauso wichtig für unser Glück ist. Denn nicht alles Elend auf der heutigen Welt ist durch Fehlen von materiellem Wohlstand bedingt. Die Menschen können Hunger eher ertragen als das Wissen um Ungerechtigkeit. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, wird sie genauso schnell und vielleicht noch schneller zu Protest und Rebellion treiben als Hunger. Hunger kann die unmittelbare Ursache für eine Rebellion oder einen Aufstand sein, aber dahinter steht die schlummernde Feindschaft und der Hass der Massen gegen jene, durch deren Hand sie Ungerechtigkeit und Unrecht erleiden müssen. In Wahrheit spielen Recht und Gerechtigkeit eine weit wichtigere Rolle in unserem Leben, als allgemein angenommen wird. Die das bestreiten wollen, wissen über die menschliche Natur genauso wenig wie über die Geschichte. Tagtäglich sehen Sie immer wieder Menschen, die sich über etwas empören, was sie als Unrecht ansehen. „Das ist nicht richtig“, lautet der instinktive Protest eines Menschen, der sich ungerecht behandelt fühlt. Sicherlich hängt die Auffassung von Recht und Unrecht jedes einzelnen von seiner Tradition, Umgebung und Erziehung ab.

Aber welche Vorstellungen er auch haben mag, ihn lässt sein naturgegebener Instinkt alles ablehnen, was er als falsch und ungerecht ansieht. Auch historisch gesehen bleibt das wahr. Mehr Aufstände und Kriege sind für die Idee von Recht und Unrecht, als aus materiellen Gründen begonnen worden. Marxisten mögen einwenden, dass unsere Ansichten über Recht und Unrecht ebenfalls durch ökonomische Bedingungen geformt werden, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Sinn für Recht und Gerechtigkeit Menschen bis hin zu Heldentum und Selbstaufopferung begeistert hat.

Die Christen und Buddhisten wurden nie von materiellen Überlegungen geleitet, sondern nur von ihrer Hingebung an Recht und Gerechtigkeit. Die Bahnbrecher neuer Ideen haben Verleumdung, Verfolgung und sogar den Tod nicht aus egoistischen Motiven auf sich genommen, sondern weil sie von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt waren. Menschen wie Johann Hus, Luther, Bruno, Savonarola, Galilei und zahllose andere religiöse und dem Sozialismus ergebene Idealisten kämpften und starben für die von ihnen als gerecht erkannte Sache. Ebenso haben Menschen in Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Dichtung und Erziehung von Sokrates bis hin in die moderne Zeit ihr Leben in den Dienst der Wahrheit und Gerechtigkeit gestellt.

Im Bereich des politischen und sozialen Fortschritts haben sich die edelsten Menschen, beginnend mit Moses und Spartakus, Idealen wie Freiheit und Gleichheit geweiht. Die unwiderstehliche Macht eines Idealismus findet sich nicht nur bei herausragenden Individuen. Die Massen wurden dadurch immer schon begeistert. Beispielsweise begann der amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit einer allgemeinen Empörung in den Kolonien über die Ungerechtigkeit einer Besteuerung, die ohne jegliches Mitspracherecht vom Mutterland festgesetzt wurde. Zweihundert Jahre lang versuchten Christen das Heilige Land in Kreuzzügen für die Christenheit zu erobern. Dieses religiöse Ideal begeisterte sechs Millionen Menschen, sogar Armeen von Kindern, die im Namen von Recht und Gerechtigkeit unsagbaren Mühsalen, Seuchen und Tod trotzten. Sogar im letzten Weltkrieg, so kapitalistisch er in Ursache und Ergebnis auch gewesen ist, kämpften Millionen Menschen im tiefen Glauben, dass er für eine gerechte Sache, für Demokratie und zur Beendigung aller Kriege geführt wurde. So hat der Sinn für Gerechtigkeit und Recht die Menschen individuell und kollektiv in ihrer gesamten Geschichte, sowohl der weit zurückliegenden als auch der modernen, zu Taten der Selbstaufopferung und Hingabe begeistert und sie weit über die Eintönigkeit des täglichen Lebens erhoben. Es ist natürlich tragisch, dass dieser Idealismus sich in Verfolgung und Gewalt äußerte, aber die Bösartigkeit und der Egoismus der Könige, Priester und Herrscher, die Unwissenheit und der Fanatismus führte dazu. Trotzdem war der Geist, von dem die Menschen erfüllt waren, der von Recht und Gerechtigkeit. Die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen beweisen, dass dieser Geist immer lebendig bleibt und im gesamten Bereich des menschlichen Lebens einen machtvollen und beherrschenden Faktor darstellt.

“The ABC of Communist Anarchism”, Vorwort von Emma Goldman. New York: Freie Arbeiter Stimme, 1937.

Die gegenwärtigen Zustände schwächen und verfälschen dieses höchst edle Merkmal der Menschen, pervertieren seine Manifestation und verdrehen es in Richtung von Intoleranz, Verfolgung, Hass, und Streit. Aber wenn der Mensch erst einmal von den korrumpierenden Einflüssen materieller Interessen befreit ist, aus Unwissenheit und Klassenfeindschaft herausgeholt wird, dann wird sein angeborener Sinn für Recht und Gerechtigkeit neue Ausdrucksformen finden, Formen, die zu größerer Brüderlichkeit und gutem Willen, zu individuellem Frieden und sozialer Harmonie führen.

Nur in der Anarchie könnte sich diese Geisteshaltung voll entwickeln. Befreit vom herabwürdigenden und brutalisierenden Kampf um unser tägliches Brot würden sich, da alle in gleicher Weise an Arbeit und Wohlstand teilhaben, die besten Qualitäten des menschlichen Wesens und Verstandes entwickeln können und nützliche Anwendung finden. Der Mensch würde dann in der Tat zu dem edlen Werk der Natur werden, das er sich bisher nur in seinen Träumen ausmalen konnte. Aus diesen Gründen ist Anarchie nicht nur das Ideal für einen bestimmten Menschen oder eine bestimmte Klasse, sondern für die ganze Menschheit, weil sie im erweiterten Sinne uns allen dienen würde. Denn Anarchismus ist der Ausdruck für einen universalen, immerwährenden Wunsch der Menschheit. Darum müsste jeder Mann und jede Frau ein vitales Interesse haben, die Anarchie zu verwirklichen. Sie würden es sicherlich tun, wenn sie nur die Schönheit und Gerechtigkeit dieses neuartigen Lebens begreifen könnten. Jedes menschliche Wesen, dem es nicht an Gefühl und gesundem Menschenverstand mangelt, neigt zum Anarchismus. Jeder, der unter Unrecht und Ungerechtigkeit, unter Bösartigkeit, Korruption und Gemeinheit unseres heutigen Lebens leidet, sympathisiert instinktiv mit der Anarchie. Jeder, dessen Herz nicht abgestorben ist im Hinblick auf Güte, Mitleid und Nächstenliebe, muss daran interessiert sein, sie zu fördern. Jeder, der Armut und Elend, Tyrannei und Unterdrückung erduldet, müsste das Herannahen der Anarchie begrüßen. Alle, die Freiheit und Gerechtigkeit lieben, sollten zu ihrer Verwirklichung beitragen.

Allen voran und am stärksten müssten alle Unterworfenen und Unterdrückten in der Welt ein Interesse daran haben. Jene, die Paläste bauen und in Elendshütten leben; jene, die den Tisch des Lebens decken, aber nicht an der Mahlzeit teilnehmen dürfen; jene, die den Reichtum der Welt schaffen und enteignet werden; jene, die das Leben mit Freude und Sonnenschein erfüllen, aber selbst in den Tiefen der Dunkelheit verachtet zurückbleiben; der Samson des Lebens, der seiner Kraft durch Angst und Unwissenheit beraubt ist; der hilflose Riese Arbeiterschaft, das Proletariat der Intelligenz und Muskeln, die Massen in Industrie und Landwirtschaft – sie alle müssten die Anarchie freudig begrüßen. Für sie besitzt der Anarchismus die größte Anziehungskraft; sie sind es, die als erste und an erster Stelle auf den neuen Tag hinarbeiten müssen, der ihnen ihr Erbe zurückgeben und Freiheit und Wohlstand, Freude und Sonnenschein für die ganze Menschheit bringt. „Eine herrliche Sache“, bemerken Sie, „aber wird das funktionieren? Und wie sollen wir das erreichen?“

Quellen:

Alexander Berkman – ABC des Anarchismus. Verlag Klaus Guhl. 1978. S.3-21. USA Originaltitel: “What is Communist Anarchism?”. 1929