Wider die Identitätspolitik

Von Published On: 2. Februar 2018Kategorien: Allgemein

Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen mit der größten Selbstverständlichkeit in Armut und Aussichtslosigkeit getrieben werden und in der man zugleich Erwachsene vor Erwachsenensprache warnt. Das eine hängt offenkundig mit dem anderen zusammen: Denn es sind dieselben Mächte, die das eine und das andere vorantreiben“, gibt der Philosoph Robert Pfaller zu Protokoll. Und tatsächlich: Könnte es nicht vielleicht sein, dass die ganze Antidiskriminierungs-, Gleichstellungs-, Gender- und Queer-Politik ein riesiges Ablenkungsmanöver ist? Eine Verschwörung der Profiteure von Neoliberalismus und Austeritätspolitik?

 

Robert Pfaller: Mein Ausgangspunkt war, dass ich nicht weiter zusehen wollte, wie eine immer blasser werdende Linke gegen die populistische Rechte verliert – wie zuletzt in den USA. Meine These dazu lautet, kurz gesagt: die Linke hat es verabsäumt, in ihrer ökonomischen Politik etwas anderes zu machen als das neoliberale Programm der Rechten. Deshalb war sie gezwungen, auf der kulturellen Ebene Zeichen zu setzen, um einen Unterschied zu markieren oder zu simulieren. Daher die meist auf der Ebene der Sprache und der Symbole angesiedelten Maßnahmen der „Anerkennung“ marginaler Gruppen, wie zum Beispiel Hillary Clintons ständige Betonung der sogenannten „LGTB+“-Agenda. Das aber wurde von der großen Mehrheit der verarmenden Bevölkerungsgruppen als ein elitäres, hauptsächlich weißes Programm empfunden. Auf der anderen Seite genügt es Politikern wie Trump, sprachlich bloß ein bißchen vulgär zu sein, um schon als „Mann des Volkes“ wahrgenommen zu werden – auch wenn er natürlich in seiner ökonomischen Politik alles andere ist.

 

Angesichts dieser Lage habe ich gesagt: Wir brauchen wieder eine Politik, die auf wirkliche Gleichheit zielt; und nicht eine Pseudopolitik der Diversität, bei der alle nur angehalten werden, ihre Empfindlichkeiten zu kultivieren. Wir brauchen eine Sprache im öffentlichen Raum, die von Zugehörigkeit, Herkunft, sexueller Orientierung und anderen Besonderheiten absieht, damit wir uns wieder vernünftig verständigen und solidarisieren können. Hören wir mit dem elenden, heuchlerischen Moralisieren auf und holen wir das freche, schonungslose Reden zurück, denn das ist traditionell eine Sache der Linken gewesen, um Kritik zu üben und Mißstände zu benennen. Und machen wir endlich eine andere ökonomische Politik, die für ein erträgliches Leben für alle und für Zukunftsperspektiven sorgt. Ich habe wenig Angst, dafür Applaus von der Rechten zu bekommen. Der ist bisher auch ausgeblieben. Die neoliberale Pseudolinke freilich kritisiert mich in einem Spektrum, das von kleinen, gedankenlosen Mißverständnissen bis hin zu den großen Keulen aktueller hegemonialer Propaganda reicht: dem „Querfront“-Vorwurf und den billigen Diagnosen „Verschwörungstheorie“ und „Paranoia“. Genau das aber hatte ich als typischen Mechanismus dieses Diskurses ohnehin bereits in meinem Buch beschrieben. Wohl in kaum einer anderen Wissenschaft kommen einem gerade die Kritiker so sehr bei der Verifikation der eigenen Thesen zu Hilfe.

 

Matthias Burchardt: Ein Leitmotiv Deiner Überlegungen bildet der Hinweis auf das Missverhältnis zwischen unserem politisch-korrekten Sprechen und den realen Abgründen, die sich im Schatten dieses Sprechens auftun: Kriege, gescheiterte Staaten, globale Armut, Demokratieabbau. „Sprecht wie Mimosen! Handelt wie Bestien“ lautet ein Vortragstitel von Dir. „Über die zartfühlende Begleitung der brutalen Entsolidarisierung“, heißt es im Klappentext. Sind dies tragische Parallelphänomene oder besteht ein Zusammenhang zwischen der moralisierten Sprache und der ruinösen neoliberalen Politik?

 

Robert Pfaller: Wie gesagt, fungierte das behutsame Sprechen zunächst vor allem als Feigenblatt für eine rücksichtslose Politik. Das Binnen-I zum Beispiel kam genau in dem Moment zu vorrangiger Prominenz, als man sich von der Einrichtung eines umfassenden Sozialstaats, wie er für die Gleichberechtigung von Frauen unabdingbar ist, still zu verabschieden begann.

 

„In den letzten Jahren ist mir, zum Beispiel in der Berichterstattung über den Krieg in Syrien oder in der Ukraine, erschreckend deutlich geworden, wie sehr offenbar auch die liberaleren deutschen Medien geprägt sind von einer NATO-lastigen Sichtweise.

 

Darüber hinaus aber kann man erkennen, dass die verschärfte Rücksicht auf die angebliche Verletzbarkeit von Gefühlen auch selbst einen aktiven Beitrag zur Umverteilung darstellt. Das zarte, postmoderne Sprechen leistet auf kultureller Ebene genau dasselbe wie die neoliberalen Privatisierungen auf jener der Ökonomie: es zerstört nämlich den öffentlichen Raum – jenen Raum, in dem mündige Menschen einander ohne Ansehen ihrer Person, Herkunft etc. begegnen, Argumente austauschen und Gleichheit mindestens als Fiktion praktizieren können. Letzteres ist notwendig, um ein Minimum an realer Gleichheit in der Gesellschaft herzustellen.

 

Matthias Burchardt: Ich kenne viele Menschen mit lauteren Motiven, die große Hoffnungen in die Normierung des Sprechens über Geschlecht und Herkunft usf. setzen, weil sie auf diesem Wege einen gesellschaftlichen Bewußtseinswandel anstreben, aus dem dann zwangsläufig auch eine gerechtere, bessere Welt entstehen wird. Wie könnte man denen gegenüber argumentieren? Letztlich laufen sie doch Gefahr, in bester Absicht zu Erfüllungsgehilfen einer neoliberalen Agenda zu werden, oder?

 

Robert Pfaller: Ich fürchte, genau so verhält es sich. Die Normierung des Sprechens bringt nicht nur nichts; sie schadet vielmehr selbst noch zusätzlich.

 

Denn sie führt dazu, dass die Leute ständig auf ihre sogenannte Identität achten und nicht erkennen, dass ihre entscheidenden Probleme und Interessen meist anderswo liegen. Dadurch erkennen sie auch nicht, worin das Gemeinsame zwischen ihnen und diversen anderen Identitäten besteht, die dieselben Interessen haben.

 

Die Frage sozialer Benachteiligung wird durch die Sprechnormierung verdreht in die ganz andere Frage der Verletzbarkeit von Gefühlen, und letztere in erster Linie zu einem Problem des Sprechens „sublimiert“. Dabei kommt es zu einer Umverteilung des Leids und seiner Anerkennung von den unteren Klassen der Gesellschaft zu den Eliten.

 

Matthias Burchardt: Du analysierst, was beim Austausch von Ausdrücken mit Diskriminierungspotential durch vermeintlich unverfängliche Wörter eigentlich geschieht. Zum einen klingt in der korrekten immer noch die inkorrekte Vokabel mit und es entsteht eine signifikante Pause oder Unterbrechung. Damit werden aber nicht nur die ‚bösen Diskriminierer’ mundtot gemacht, sondern auch die wohlmeinenden und engagierten Menschen in ihrer Artikulation gehemmt. Ich erinnere mich noch an das Jahr 2015 als im Zuge der „Willkommenskultur“ Helfer erst einmal belehrt wurden, dass „Flüchtling“ aufgrund des Suffixes „-ling“ ein diskriminierender Ausdruck sei. Interessant waren auch die Mutationen des „refugees welcome“-Logos, das zunächst nur die Silhouetten von laufenden Menschen zeigt, die dann noch um Rohstuhlfahrende und sexuell diverse Typen ergänzt wurden.

 

Robert Pfaller: Es handelt sich ganz offenkundig um einen internen Distinktionswettbewerb unter Wohlmeinenden. Die Leute, die flüchten mussten, haben mit Sicherheit andere Sorgen.

 

Matthias Burchardt: Woher stammt eigentlich das PC-Programm? Auf welchem Wege konnte es als Machtform etabliert werden? Woraus bezieht es seine regulierende und kontrollierende Wirkung? Wieso kann so etwas überhaupt Macht über uns haben?

 

Robert Pfaller: Bei diesem Programm handelt es sich eben nicht nur um einen Irrtum, sondern um eine Ideologie. Letztere existiert, wie Louis Althusser gelehrt hat, immer in Apparaten. Und dort sitzen Leute, die von ihren Fehlern leben. Der Neoliberalismus hat eine ganze Klasse von Kontrollbürokraten ins Leben gerufen.

 

Matthias Burchardt: Wenn wir diese Hintergründe verstehen, ergeben sich daraus Möglichkeiten, diese Macht zu unterlaufen oder gar zu brechen?

 

Robert Pfaller: Die Linke hat gar keine andere Wahl. Wenn sie nicht brav weiter verlieren will, muss sie diese Kinderkrankheiten ablegen. Man wird sich wieder ansehen müssen, welche objektive Funktion solche repressiven Apparate erfüllen, anstatt nur gebannt darauf zu schauen, im Namen welcher angeblicher Opfer sie sprechen.

 

Matthias Burchardt: Im Zuge der #metoo-Debatte ist das Phänomen sexualisierter Gewalt im Internet, aber auch in den sog. Qualitätsmedien verstärkt diskutiert worden. Schweden reagiert darauf, indem es sexuelle Handlungen per Gesetz explizit zustimmungspflichtig machen möchte. Ideal wäre vermutlich ein schriftlicher Kontrakt, in dem alle Details ausgehandelt werden. Was zeigt sich an diesem Phänomen?

 

Robert Pfaller: Metoo täuscht durch seinen geradezu nostalgischen, vergangenheitsbezogenen Aspekt ein wenig über die tatsächliche gegenwärtige Lage hinweg – zum Beispiel darüber, dass derzeit an den US-Universitäten unter dem Vorwand sexueller Belästigung offenbar schon regelrechte Hexenjagden gegen liberale Professoren, feministische Professorinnen und Studierende veranstaltet werden. Das Buch „Unwanted Advances“ der Filmtheoretikerin Laura Kipnis zeigt das sehr gut auf.

 

Während Frauen der unteren Klassen – etwa Kellnerinnen im fast-food-Bereich – immer noch schlecht gegen Übergriffe geschützt sind, hat sich bei den Eliten in vielen Bereichen das Kräfteverhältnis inzwischen geradezu umgedreht. Diverse neue Einrichtungen und Verfahren mit merkwürdigen, bedenklichen Rechtsstandards machen es möglich, dass Beschuldigte, selbst wenn ihre Unschuld erwiesen ist, oft ihre Arbeitsstätten verlassen müssen und keine neue Arbeit mehr finden. Ich glaube, es ist ein schwerer politischer Fehler, in einer so undifferenzierten Expressivitätswelle, wie sie die hashtag-Bewegungen hervorrufen, einen Gewinn für die Sache der Frauen zu sehen. Hier entsteht nicht Bewusstsein oder Sensibilisierung, sondern Stimmung – eine sehr zwiespältige Waffe, die gegen alles Mögliche gerichtet werden kann und der bezeichnenderweise derzeit fast immer gerade fortschrittliche Kräfte, linke Politiker und exponierte Wissenschaftlerinnen, zum Opfer fallen. Die französischen Kritikerinnen rund um Cathérine Millet haben das meines Erachtens gut erkannt.

 

Das neue schwedische Gesetz – dessen bekanntester, umstrittener Punkt über die Notwendigkeit ausdrücklicher Zustimmung übrigens von der Regierung aus dem Entwurf gar nicht zur Umsetzung übernommen wurde – bedeutet nur eine kosmetische Änderung bisheriger Formulierungen, ohne an den Tatbeständen oder der Beweislast etwas Entscheidendes zu verändern. Dieses neue Gesetz soll nach Absicht seiner Verfasser lediglich erzieherische Wirkungen haben. Und es soll wohl davon ablenken, dass die schwedische Polizei angesichts einer drastisch gestiegenen Zahl von Gewaltverbrechen offenbar nicht mehr genügend Ressourcen hat, um auch nur die bereits bestehenden Gesetze gegen sexuelle Gewalt durchzusetzen. Bestürzende Fälle von unterbliebener Strafverfolgung selbst bei erdrückender Beweislage, bezeichnenderweise aus den unteren Gesellschaftsklassen, belegen das. Das neue Gesetz dagegen bedient offenbar eher die Mittelklasse, die das Problem hat, nach den typischen skandinavischen Wochenendbesäufnissen öfters mit fremden Personen im Bett zu landen, ohne sich dabei an eigene Absichten erinnern zu können.

 

Matthias Burchardt: Ich finde es bemerkenswert, dass Du Lebenskunst und politische Verantwortung nicht gegeneinander ausspielst. Das neoliberale Regime beraubt uns systematisch aller Lebensquellen, aus denen wir Kraft und Erfüllung schöpfen könnten: „Alles, was das Leben lohnend macht, […] soll beseitigt werden.“, schreibst Du. Ist Genuss inzwischen ein subversiver Akt?

 

Robert Pfaller: Naja, indirekt. Wie ich in meinen früheren Büchern gezeigt habe, besitzt alles, wofür es sich zu leben lohnt, eine ungute Seite. Kein Genuss, den wir kennen, ist ohne Vorbehalt: Trinken macht Kopfweh, Sex ist eklig und sozial anstößig, Feiern kostet Schlaf und Geld, selbst Spazierengehen erfordert die Bereitschaft, Zeit zu verschwenden.

 

Über dieses Ungute nun können sich Individuen alleine meist kaum hinwegsetzen. Alleine zu trinken macht den wenigsten Freude; manche wollen da nicht einmal essen. Was aber hilft, ist ein kleiner, geselliger Anstoß: Wenn die Kollegin mit der Sektflasche kommt, weil jemand in der Firma Geburtstag hat, dann sind alle Vorbehalte schnell überwunden. Dann gelingt es uns, aus dem Unguten des Trinkens oder Feierns etwas Großartiges, Sublimes zu machen. Nur wenn wir gesellig und solidarisch sind, können wir genießen. Diese Geselligkeit wird von Neoliberalismus und Postmoderne zerstört. Darum erscheinen den Menschen heute die Genussmöglichkeiten wie Alkohol, Tabak, Sex etc. zunehmend abstoßend und bedrohlich.

 

Matthias Burchardt: Erwachsenheit wäre ein Schritt, den auch der Einzelne gehen sollte, denn es gibt kein Recht darauf, ein Idiot zu sein. Dadurch gewinnt er selbst einen anderen Rang und ermöglicht auch andere Modelle von Beziehung und Gemeinschaft. Was bedeutet es, „erwachsen“ zu sein?

 

Robert Pfaller: Erstens die Fähigkeit, seine Befindlichkeiten ein Stück weit hinter sich zu lassen und anderen wenigstens fiktiv als Gleichen zu begegnen, um das verbindende Allgemeine in den Blick zu bekommen. Und zweitens die Erkenntnis, dass bestimmte Unannehmlichkeiten eben zum Leben gehören und nicht traumatisch sind und dass wir eben darum auch imstande sind, mit ihnen umzugehen. Ausgehend von dieser Ethik wird eine politische Haltung möglich: Wir werden fähig, unsere spontanen Erregungen klein zu halten – um uns in der Folge dann eben über dasjenige aufregen zu können, was uns klein hält.

 

Matthias Burchardt: Noch einmal zur Lage der parlamentarischen Demokratie: Eine Abgrenzung von sozialdemokratischer, grüner oder sogar linker Parteipolitik zur neoliberalen Agenda wird zunehmend schwierig, wenn nicht unmöglich. Symbolpolitische Aktionen und Signalvokabeln, wie „Gerechtigkeit“, „Vielfalt“ und „Inklusion“ bilden dann Wahlkampfköder, durch die eigene Klientel dann ins Kraftfeld des neoliberalen Modell gezogen werden sollen. Du beziehst Dich in dieser Frage auf Nancy Fraser Begriff des „Progressiven Neoliberalismus“. Was ist damit gemeint?

 

Robert Pfaller: Eben dass die scheinbar progressive linke Mitte ihre ökonomische Politik in den 1980er Jahren aufgegeben hat und von da an genau dieselben neoliberalen Programme verfolgt hat wie ihre Gegner: Privatisierungen, Sozialabbau, Sparpakete, Austeritätspolitik etc. Um sich aber doch irgendwie von der Rechten abzugrenzen, hat man sich symbolische Programme auf die Fahnen geschrieben: immer kleiner werdende Engagements für immer kleinere marginale Gruppen. Wenn man aber Probleme der Ökonomie und der Klassen nicht auf ihrer eigenen Ebene, sondern stattdessen auf der Ebene der Kultur und der Identitäten zu lösen versucht, löst man nicht nur nichts, sondern bewirkt auf der kulturellen Ebene sogar noch zusätzlichen Schaden. Die scheinbar fortschrittliche kulturelle Politik ist zu einer Distinktionswaffe geworden, mit der die urbanen Eliten sich von allen übrigen abgegrenzt haben. Das hat die verarmenden vorstädtischen und ländlichen Klassen umso mehr ins Lager der Rechten getrieben.

 

Matthias Burchardt: Am Ende des Buches gibst Du einen Ausblick auf zwei gleichermaßen unerfreuliche Alternativen: Entweder droht die Herrschaft der populistischen Rechten oder eine Machtverfestigung des Neoliberalismus durch ”medial inszeniertes Kasperltheater gerade mit Hilfe des rechtspopulistischen ‚Krokodils’“ Im Grunde profitieren also beide Bewegungen voneinander. Was könnte man Menschen raten, die aus Enttäuschung oder Protest mit der Rechten flirten? Warum ist die Rechte keine Alternative? Und: was wäre die wirkliche Alternative?

 

Robert Pfaller: Ganz klar: wir brauchen dringend ein neues politisches Lager, das sich deutlich links von dieser Alternative positioniert. Nichts versuchen die beiden vorhandenen Komplizen ja so sehr zu verhindern wie das. Und die Rechte ist klarerweise keine Alternative. Sie macht ja dieselbe Politik (gepfeffert vielleicht mit einigen zusätzlichen, kulturellen Rückständen). Die aktuelle österreichische Rechts-Rechts-Regierung zum Beispiel will gerade das Hartz-IV-Programm der neoliberalen deutschen Sozialdemokratie kopieren.

 

Matthias Burchardt: Abschließend eine Frage in eigener Sache: Welchen Beitrag könnte ein Internet-Magazin wie der Rubikon zur Verwirklichung dieser Alternative leisten?

 

Robert Pfaller: In den letzten Jahren ist mir, zum Beispiel in der Berichterstattung über den Krieg in Syrien oder in der Ukraine, erschreckend deutlich geworden, wie sehr offenbar auch die liberaleren deutschen Medien geprägt sind von einer NATO-lastigen Sichtweise. Es wurde zum Beispiel immer wieder erklärt, in Mossul bekämpften die Amerikaner mit ihren Verbündeten „den Islamischen Staat“; in Aleppo dagegen bekämpften die Russen und die syrische Regierung „Rebellen“. Merkel „sagte“, Putin „behauptete“ etc. Um die dringenden gesellschaftlichen und politischen Probleme der Gegenwart in unseren Ländern zu lösen, brauchen wir eine Gegenöffentlichkeit, deren Diskurs nicht auf solchen Stereotypen aufbaut.

 

Matthias Burchardt: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dieser Text wurde zuerst am 27. Januar 2018 auf rubikon.news unter der URL <https://www.rubikon.news/artikel/wider-die-identitatspolitik> veröffentlicht. (Lizenz: Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH, CC BY-NC-ND 4.0)

Wider die Identitätspolitik

Von Published On: 2. Februar 2018Kategorien: Allgemein

Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Menschen mit der größten Selbstverständlichkeit in Armut und Aussichtslosigkeit getrieben werden und in der man zugleich Erwachsene vor Erwachsenensprache warnt. Das eine hängt offenkundig mit dem anderen zusammen: Denn es sind dieselben Mächte, die das eine und das andere vorantreiben“, gibt der Philosoph Robert Pfaller zu Protokoll. Und tatsächlich: Könnte es nicht vielleicht sein, dass die ganze Antidiskriminierungs-, Gleichstellungs-, Gender- und Queer-Politik ein riesiges Ablenkungsmanöver ist? Eine Verschwörung der Profiteure von Neoliberalismus und Austeritätspolitik?

 

Robert Pfaller: Mein Ausgangspunkt war, dass ich nicht weiter zusehen wollte, wie eine immer blasser werdende Linke gegen die populistische Rechte verliert – wie zuletzt in den USA. Meine These dazu lautet, kurz gesagt: die Linke hat es verabsäumt, in ihrer ökonomischen Politik etwas anderes zu machen als das neoliberale Programm der Rechten. Deshalb war sie gezwungen, auf der kulturellen Ebene Zeichen zu setzen, um einen Unterschied zu markieren oder zu simulieren. Daher die meist auf der Ebene der Sprache und der Symbole angesiedelten Maßnahmen der „Anerkennung“ marginaler Gruppen, wie zum Beispiel Hillary Clintons ständige Betonung der sogenannten „LGTB+“-Agenda. Das aber wurde von der großen Mehrheit der verarmenden Bevölkerungsgruppen als ein elitäres, hauptsächlich weißes Programm empfunden. Auf der anderen Seite genügt es Politikern wie Trump, sprachlich bloß ein bißchen vulgär zu sein, um schon als „Mann des Volkes“ wahrgenommen zu werden – auch wenn er natürlich in seiner ökonomischen Politik alles andere ist.

 

Angesichts dieser Lage habe ich gesagt: Wir brauchen wieder eine Politik, die auf wirkliche Gleichheit zielt; und nicht eine Pseudopolitik der Diversität, bei der alle nur angehalten werden, ihre Empfindlichkeiten zu kultivieren. Wir brauchen eine Sprache im öffentlichen Raum, die von Zugehörigkeit, Herkunft, sexueller Orientierung und anderen Besonderheiten absieht, damit wir uns wieder vernünftig verständigen und solidarisieren können. Hören wir mit dem elenden, heuchlerischen Moralisieren auf und holen wir das freche, schonungslose Reden zurück, denn das ist traditionell eine Sache der Linken gewesen, um Kritik zu üben und Mißstände zu benennen. Und machen wir endlich eine andere ökonomische Politik, die für ein erträgliches Leben für alle und für Zukunftsperspektiven sorgt. Ich habe wenig Angst, dafür Applaus von der Rechten zu bekommen. Der ist bisher auch ausgeblieben. Die neoliberale Pseudolinke freilich kritisiert mich in einem Spektrum, das von kleinen, gedankenlosen Mißverständnissen bis hin zu den großen Keulen aktueller hegemonialer Propaganda reicht: dem „Querfront“-Vorwurf und den billigen Diagnosen „Verschwörungstheorie“ und „Paranoia“. Genau das aber hatte ich als typischen Mechanismus dieses Diskurses ohnehin bereits in meinem Buch beschrieben. Wohl in kaum einer anderen Wissenschaft kommen einem gerade die Kritiker so sehr bei der Verifikation der eigenen Thesen zu Hilfe.

 

Matthias Burchardt: Ein Leitmotiv Deiner Überlegungen bildet der Hinweis auf das Missverhältnis zwischen unserem politisch-korrekten Sprechen und den realen Abgründen, die sich im Schatten dieses Sprechens auftun: Kriege, gescheiterte Staaten, globale Armut, Demokratieabbau. „Sprecht wie Mimosen! Handelt wie Bestien“ lautet ein Vortragstitel von Dir. „Über die zartfühlende Begleitung der brutalen Entsolidarisierung“, heißt es im Klappentext. Sind dies tragische Parallelphänomene oder besteht ein Zusammenhang zwischen der moralisierten Sprache und der ruinösen neoliberalen Politik?

 

Robert Pfaller: Wie gesagt, fungierte das behutsame Sprechen zunächst vor allem als Feigenblatt für eine rücksichtslose Politik. Das Binnen-I zum Beispiel kam genau in dem Moment zu vorrangiger Prominenz, als man sich von der Einrichtung eines umfassenden Sozialstaats, wie er für die Gleichberechtigung von Frauen unabdingbar ist, still zu verabschieden begann.

 

„In den letzten Jahren ist mir, zum Beispiel in der Berichterstattung über den Krieg in Syrien oder in der Ukraine, erschreckend deutlich geworden, wie sehr offenbar auch die liberaleren deutschen Medien geprägt sind von einer NATO-lastigen Sichtweise.

 

Darüber hinaus aber kann man erkennen, dass die verschärfte Rücksicht auf die angebliche Verletzbarkeit von Gefühlen auch selbst einen aktiven Beitrag zur Umverteilung darstellt. Das zarte, postmoderne Sprechen leistet auf kultureller Ebene genau dasselbe wie die neoliberalen Privatisierungen auf jener der Ökonomie: es zerstört nämlich den öffentlichen Raum – jenen Raum, in dem mündige Menschen einander ohne Ansehen ihrer Person, Herkunft etc. begegnen, Argumente austauschen und Gleichheit mindestens als Fiktion praktizieren können. Letzteres ist notwendig, um ein Minimum an realer Gleichheit in der Gesellschaft herzustellen.

 

Matthias Burchardt: Ich kenne viele Menschen mit lauteren Motiven, die große Hoffnungen in die Normierung des Sprechens über Geschlecht und Herkunft usf. setzen, weil sie auf diesem Wege einen gesellschaftlichen Bewußtseinswandel anstreben, aus dem dann zwangsläufig auch eine gerechtere, bessere Welt entstehen wird. Wie könnte man denen gegenüber argumentieren? Letztlich laufen sie doch Gefahr, in bester Absicht zu Erfüllungsgehilfen einer neoliberalen Agenda zu werden, oder?

 

Robert Pfaller: Ich fürchte, genau so verhält es sich. Die Normierung des Sprechens bringt nicht nur nichts; sie schadet vielmehr selbst noch zusätzlich.

 

Denn sie führt dazu, dass die Leute ständig auf ihre sogenannte Identität achten und nicht erkennen, dass ihre entscheidenden Probleme und Interessen meist anderswo liegen. Dadurch erkennen sie auch nicht, worin das Gemeinsame zwischen ihnen und diversen anderen Identitäten besteht, die dieselben Interessen haben.

 

Die Frage sozialer Benachteiligung wird durch die Sprechnormierung verdreht in die ganz andere Frage der Verletzbarkeit von Gefühlen, und letztere in erster Linie zu einem Problem des Sprechens „sublimiert“. Dabei kommt es zu einer Umverteilung des Leids und seiner Anerkennung von den unteren Klassen der Gesellschaft zu den Eliten.

 

Matthias Burchardt: Du analysierst, was beim Austausch von Ausdrücken mit Diskriminierungspotential durch vermeintlich unverfängliche Wörter eigentlich geschieht. Zum einen klingt in der korrekten immer noch die inkorrekte Vokabel mit und es entsteht eine signifikante Pause oder Unterbrechung. Damit werden aber nicht nur die ‚bösen Diskriminierer’ mundtot gemacht, sondern auch die wohlmeinenden und engagierten Menschen in ihrer Artikulation gehemmt. Ich erinnere mich noch an das Jahr 2015 als im Zuge der „Willkommenskultur“ Helfer erst einmal belehrt wurden, dass „Flüchtling“ aufgrund des Suffixes „-ling“ ein diskriminierender Ausdruck sei. Interessant waren auch die Mutationen des „refugees welcome“-Logos, das zunächst nur die Silhouetten von laufenden Menschen zeigt, die dann noch um Rohstuhlfahrende und sexuell diverse Typen ergänzt wurden.

 

Robert Pfaller: Es handelt sich ganz offenkundig um einen internen Distinktionswettbewerb unter Wohlmeinenden. Die Leute, die flüchten mussten, haben mit Sicherheit andere Sorgen.

 

Matthias Burchardt: Woher stammt eigentlich das PC-Programm? Auf welchem Wege konnte es als Machtform etabliert werden? Woraus bezieht es seine regulierende und kontrollierende Wirkung? Wieso kann so etwas überhaupt Macht über uns haben?

 

Robert Pfaller: Bei diesem Programm handelt es sich eben nicht nur um einen Irrtum, sondern um eine Ideologie. Letztere existiert, wie Louis Althusser gelehrt hat, immer in Apparaten. Und dort sitzen Leute, die von ihren Fehlern leben. Der Neoliberalismus hat eine ganze Klasse von Kontrollbürokraten ins Leben gerufen.

 

Matthias Burchardt: Wenn wir diese Hintergründe verstehen, ergeben sich daraus Möglichkeiten, diese Macht zu unterlaufen oder gar zu brechen?

 

Robert Pfaller: Die Linke hat gar keine andere Wahl. Wenn sie nicht brav weiter verlieren will, muss sie diese Kinderkrankheiten ablegen. Man wird sich wieder ansehen müssen, welche objektive Funktion solche repressiven Apparate erfüllen, anstatt nur gebannt darauf zu schauen, im Namen welcher angeblicher Opfer sie sprechen.

 

Matthias Burchardt: Im Zuge der #metoo-Debatte ist das Phänomen sexualisierter Gewalt im Internet, aber auch in den sog. Qualitätsmedien verstärkt diskutiert worden. Schweden reagiert darauf, indem es sexuelle Handlungen per Gesetz explizit zustimmungspflichtig machen möchte. Ideal wäre vermutlich ein schriftlicher Kontrakt, in dem alle Details ausgehandelt werden. Was zeigt sich an diesem Phänomen?

 

Robert Pfaller: Metoo täuscht durch seinen geradezu nostalgischen, vergangenheitsbezogenen Aspekt ein wenig über die tatsächliche gegenwärtige Lage hinweg – zum Beispiel darüber, dass derzeit an den US-Universitäten unter dem Vorwand sexueller Belästigung offenbar schon regelrechte Hexenjagden gegen liberale Professoren, feministische Professorinnen und Studierende veranstaltet werden. Das Buch „Unwanted Advances“ der Filmtheoretikerin Laura Kipnis zeigt das sehr gut auf.

 

Während Frauen der unteren Klassen – etwa Kellnerinnen im fast-food-Bereich – immer noch schlecht gegen Übergriffe geschützt sind, hat sich bei den Eliten in vielen Bereichen das Kräfteverhältnis inzwischen geradezu umgedreht. Diverse neue Einrichtungen und Verfahren mit merkwürdigen, bedenklichen Rechtsstandards machen es möglich, dass Beschuldigte, selbst wenn ihre Unschuld erwiesen ist, oft ihre Arbeitsstätten verlassen müssen und keine neue Arbeit mehr finden. Ich glaube, es ist ein schwerer politischer Fehler, in einer so undifferenzierten Expressivitätswelle, wie sie die hashtag-Bewegungen hervorrufen, einen Gewinn für die Sache der Frauen zu sehen. Hier entsteht nicht Bewusstsein oder Sensibilisierung, sondern Stimmung – eine sehr zwiespältige Waffe, die gegen alles Mögliche gerichtet werden kann und der bezeichnenderweise derzeit fast immer gerade fortschrittliche Kräfte, linke Politiker und exponierte Wissenschaftlerinnen, zum Opfer fallen. Die französischen Kritikerinnen rund um Cathérine Millet haben das meines Erachtens gut erkannt.

 

Das neue schwedische Gesetz – dessen bekanntester, umstrittener Punkt über die Notwendigkeit ausdrücklicher Zustimmung übrigens von der Regierung aus dem Entwurf gar nicht zur Umsetzung übernommen wurde – bedeutet nur eine kosmetische Änderung bisheriger Formulierungen, ohne an den Tatbeständen oder der Beweislast etwas Entscheidendes zu verändern. Dieses neue Gesetz soll nach Absicht seiner Verfasser lediglich erzieherische Wirkungen haben. Und es soll wohl davon ablenken, dass die schwedische Polizei angesichts einer drastisch gestiegenen Zahl von Gewaltverbrechen offenbar nicht mehr genügend Ressourcen hat, um auch nur die bereits bestehenden Gesetze gegen sexuelle Gewalt durchzusetzen. Bestürzende Fälle von unterbliebener Strafverfolgung selbst bei erdrückender Beweislage, bezeichnenderweise aus den unteren Gesellschaftsklassen, belegen das. Das neue Gesetz dagegen bedient offenbar eher die Mittelklasse, die das Problem hat, nach den typischen skandinavischen Wochenendbesäufnissen öfters mit fremden Personen im Bett zu landen, ohne sich dabei an eigene Absichten erinnern zu können.

 

Matthias Burchardt: Ich finde es bemerkenswert, dass Du Lebenskunst und politische Verantwortung nicht gegeneinander ausspielst. Das neoliberale Regime beraubt uns systematisch aller Lebensquellen, aus denen wir Kraft und Erfüllung schöpfen könnten: „Alles, was das Leben lohnend macht, […] soll beseitigt werden.“, schreibst Du. Ist Genuss inzwischen ein subversiver Akt?

 

Robert Pfaller: Naja, indirekt. Wie ich in meinen früheren Büchern gezeigt habe, besitzt alles, wofür es sich zu leben lohnt, eine ungute Seite. Kein Genuss, den wir kennen, ist ohne Vorbehalt: Trinken macht Kopfweh, Sex ist eklig und sozial anstößig, Feiern kostet Schlaf und Geld, selbst Spazierengehen erfordert die Bereitschaft, Zeit zu verschwenden.

 

Über dieses Ungute nun können sich Individuen alleine meist kaum hinwegsetzen. Alleine zu trinken macht den wenigsten Freude; manche wollen da nicht einmal essen. Was aber hilft, ist ein kleiner, geselliger Anstoß: Wenn die Kollegin mit der Sektflasche kommt, weil jemand in der Firma Geburtstag hat, dann sind alle Vorbehalte schnell überwunden. Dann gelingt es uns, aus dem Unguten des Trinkens oder Feierns etwas Großartiges, Sublimes zu machen. Nur wenn wir gesellig und solidarisch sind, können wir genießen. Diese Geselligkeit wird von Neoliberalismus und Postmoderne zerstört. Darum erscheinen den Menschen heute die Genussmöglichkeiten wie Alkohol, Tabak, Sex etc. zunehmend abstoßend und bedrohlich.

 

Matthias Burchardt: Erwachsenheit wäre ein Schritt, den auch der Einzelne gehen sollte, denn es gibt kein Recht darauf, ein Idiot zu sein. Dadurch gewinnt er selbst einen anderen Rang und ermöglicht auch andere Modelle von Beziehung und Gemeinschaft. Was bedeutet es, „erwachsen“ zu sein?

 

Robert Pfaller: Erstens die Fähigkeit, seine Befindlichkeiten ein Stück weit hinter sich zu lassen und anderen wenigstens fiktiv als Gleichen zu begegnen, um das verbindende Allgemeine in den Blick zu bekommen. Und zweitens die Erkenntnis, dass bestimmte Unannehmlichkeiten eben zum Leben gehören und nicht traumatisch sind und dass wir eben darum auch imstande sind, mit ihnen umzugehen. Ausgehend von dieser Ethik wird eine politische Haltung möglich: Wir werden fähig, unsere spontanen Erregungen klein zu halten – um uns in der Folge dann eben über dasjenige aufregen zu können, was uns klein hält.

 

Matthias Burchardt: Noch einmal zur Lage der parlamentarischen Demokratie: Eine Abgrenzung von sozialdemokratischer, grüner oder sogar linker Parteipolitik zur neoliberalen Agenda wird zunehmend schwierig, wenn nicht unmöglich. Symbolpolitische Aktionen und Signalvokabeln, wie „Gerechtigkeit“, „Vielfalt“ und „Inklusion“ bilden dann Wahlkampfköder, durch die eigene Klientel dann ins Kraftfeld des neoliberalen Modell gezogen werden sollen. Du beziehst Dich in dieser Frage auf Nancy Fraser Begriff des „Progressiven Neoliberalismus“. Was ist damit gemeint?

 

Robert Pfaller: Eben dass die scheinbar progressive linke Mitte ihre ökonomische Politik in den 1980er Jahren aufgegeben hat und von da an genau dieselben neoliberalen Programme verfolgt hat wie ihre Gegner: Privatisierungen, Sozialabbau, Sparpakete, Austeritätspolitik etc. Um sich aber doch irgendwie von der Rechten abzugrenzen, hat man sich symbolische Programme auf die Fahnen geschrieben: immer kleiner werdende Engagements für immer kleinere marginale Gruppen. Wenn man aber Probleme der Ökonomie und der Klassen nicht auf ihrer eigenen Ebene, sondern stattdessen auf der Ebene der Kultur und der Identitäten zu lösen versucht, löst man nicht nur nichts, sondern bewirkt auf der kulturellen Ebene sogar noch zusätzlichen Schaden. Die scheinbar fortschrittliche kulturelle Politik ist zu einer Distinktionswaffe geworden, mit der die urbanen Eliten sich von allen übrigen abgegrenzt haben. Das hat die verarmenden vorstädtischen und ländlichen Klassen umso mehr ins Lager der Rechten getrieben.

 

Matthias Burchardt: Am Ende des Buches gibst Du einen Ausblick auf zwei gleichermaßen unerfreuliche Alternativen: Entweder droht die Herrschaft der populistischen Rechten oder eine Machtverfestigung des Neoliberalismus durch ”medial inszeniertes Kasperltheater gerade mit Hilfe des rechtspopulistischen ‚Krokodils’“ Im Grunde profitieren also beide Bewegungen voneinander. Was könnte man Menschen raten, die aus Enttäuschung oder Protest mit der Rechten flirten? Warum ist die Rechte keine Alternative? Und: was wäre die wirkliche Alternative?

 

Robert Pfaller: Ganz klar: wir brauchen dringend ein neues politisches Lager, das sich deutlich links von dieser Alternative positioniert. Nichts versuchen die beiden vorhandenen Komplizen ja so sehr zu verhindern wie das. Und die Rechte ist klarerweise keine Alternative. Sie macht ja dieselbe Politik (gepfeffert vielleicht mit einigen zusätzlichen, kulturellen Rückständen). Die aktuelle österreichische Rechts-Rechts-Regierung zum Beispiel will gerade das Hartz-IV-Programm der neoliberalen deutschen Sozialdemokratie kopieren.

 

Matthias Burchardt: Abschließend eine Frage in eigener Sache: Welchen Beitrag könnte ein Internet-Magazin wie der Rubikon zur Verwirklichung dieser Alternative leisten?

 

Robert Pfaller: In den letzten Jahren ist mir, zum Beispiel in der Berichterstattung über den Krieg in Syrien oder in der Ukraine, erschreckend deutlich geworden, wie sehr offenbar auch die liberaleren deutschen Medien geprägt sind von einer NATO-lastigen Sichtweise. Es wurde zum Beispiel immer wieder erklärt, in Mossul bekämpften die Amerikaner mit ihren Verbündeten „den Islamischen Staat“; in Aleppo dagegen bekämpften die Russen und die syrische Regierung „Rebellen“. Merkel „sagte“, Putin „behauptete“ etc. Um die dringenden gesellschaftlichen und politischen Probleme der Gegenwart in unseren Ländern zu lösen, brauchen wir eine Gegenöffentlichkeit, deren Diskurs nicht auf solchen Stereotypen aufbaut.

 

Matthias Burchardt: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dieser Text wurde zuerst am 27. Januar 2018 auf rubikon.news unter der URL <https://www.rubikon.news/artikel/wider-die-identitatspolitik> veröffentlicht. (Lizenz: Initiative zur Demokratisierung der Meinungsbildung gGmbH, CC BY-NC-ND 4.0)