Von „faulen Griechen“ und „fleißigen Deutschen“
Was steckt eigentlich hinter dem Denken vom „Wir“ und „den Anderen“, das aktuell unter anderem in der Rede von „faulen Griechen“ und „fleißigen Deutschen“ kumuliert? Eine Art „fiktiver Kollektividentität“, die stets anfällig für Feindbildprojektionen ist, meint der Soziologe und Publizist Rainer Schreiber im Gespräch mit Jens Wernicke.
von Jens Wernicke
Jens Wernicke: Herr Schreiber, in einer aktuellen Publikation wenden Sie sich gegen, wie Sie es nennen, „das Identitätsgetue“. Damit machen Sie sich sicher nicht viele Freunde. Identität braucht der Mensch doch?
Rainer Schreiber: In einem sehr allgemeinen Sinn trifft dies zweifellos zu – Menschen definieren sich als Personen über ihre Eigenschaften, Interessen, Werte und Überzeugungen; insofern haben sie nicht eine, sondern viele Identitäten, die sie selbst gewichten, hervorheben, aber auch verändern und ablegen können: Aus dem katholischen Schüler, der sich mit Religionskritik beschäftigt, wird unter Umständen ein Agnostiker; der muslimisch-türkische Facharbeiter, der in Deutschland lebt, kann zu einer liberaleren Auffassung von Religion gelangen; und beide können etwa ihre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wichtiger finden als ihre Herkunft usw. usf.
Problematisch und zum „Getue“ wird Identität aber dann, wenn übersehen wird, dass diese Persönlichkeitselemente nicht mit einer eingebildeten Natur verwachsen, sondern selbst Resultat zufälliger Entwicklungen, die von Ort und Zeit der Geburt bis zu besonderen familiären Einflüssen reichen, sind. Dass man ohne Identität nicht leben kann, heißt eben nicht, dass dafür genau jenes – und deshalb nur dieses! – spezielle Sammelsurium an Ansichten, Symbolen und Überzeugungen unabdingbar notwendig ist, das einem aus seiner zufälligen biographischen Situation heraus gerade anhaftet. Unsere Überzeugungen und Vorstellungswelten sind vielmehr immer auch Resultat unserer Lebensweise, zufälligen Herkunft, politischen Sozialisation, Interessenlage etc. – und damit grundsätzlich diskutier-, veränder-, kritisierbar.
„Die griechischen
,Normalbürger‘ sind
dabei ebenso wie die deutschen diejenigen, die die Zeche der Krise zu bezahlen haben, obwohl sie weder zu den Nutz-
nießern des ganzen finanzkapitalistischen Zirkus gehörten noch
jemals darüber zu
befinden hatten.“
Wenn man das weiß und verstanden hat, blickt man auf die eigene und fremde Identität nicht mehr mit der abgrenzenden Absolutheit, die üblicherweise religiösen und nationalistischen Fanatikern eigen ist. Vor allem die Zugehörigkeit zu nationalen Kollektiven ist eine von der politischen Herrschaft, den Staaten selbst vorgenommene Etikettierung, die man sich nicht einfach so ausgesucht hat und die herzlich wenig über wirkliche Gemeinsamkeiten mit anderen aussagt, die ebenfalls zufällig in derselben Nation geboren worden sind.
Kurzum: Nichts an der von der politischen Rechten so hoch-geschätzten religiösen, kulturellen oder nationalen Identität ist einfach Gott- oder naturgegeben und damit sakrosankt. Mit niemandem gerät man wegen der schieren Differenz der Herkunft, der Hautfarbe oder der Sitten und Gebräuche in einen Gegensatz, der nach Ab- und Ausgrenzung schreit. Darum geht es mir mit meiner Kritik.
JW: Können Sie das vielleicht anhand eines Beispiels ausführen? Zielt das etwa darauf ab, dass, um aktuell gegen Griechenland Stimmung zu machen und dort die Linke sowie vor allem die Demokratie zu beschädigen, regelrecht nationalistisch Stimmung gemacht und eine Art deutsche Kollektividentität heraufbeschworen wird – stets verbunden mit der Behauptung, für „uns“ wäre das gut? Ich meine, um einmal Marx zu paraphrasieren: Die Krise hier offenbart ja, dass die Grenzen offenbar nur im Rahmen identitären Denkens zwischen den Völkern verlaufen, in Wahrheit jedoch zwischen Oben und Unten und dem diesbezüglich üblicherweise unsichtbar gemachten Interessengegensatz…
RS: Um gleich bei Ihrem letzten Punkt anzufangen: Die gegenwärtige Anti-Griechen-Hetze in den deutschen „Qualitätsmedien“ setzt sich einfach darüber hinweg, dass eine unheilvolle Allianz aus griechischen Staatseliten, Milliardären und Banken auf der einen Seite und– insbesondere – deutscher und französischer Banken, deutscher Rüstungsfirmen, ja der „internationalen Investorengemeinde“ insgesamt auf der anderen Seite der gemeinsame Nutznießer des politisch allseits geförderten Systems war, auf Basis des Euro Schulden aller Euro-Staaten in anerkannte, rentierliche Vermögenstitel zu verwandeln, weshalb es ja auch nicht genug davon geben konnte – bis sich in der Weltfinanzkrise die Unhaltbarkeit dieser Strategie erwies.
Die griechischen „Normalbürger“ sind dabei ebenso wie die deutschen diejenigen, die die Zeche der Krise zu bezahlen haben, obwohl sie weder zu den Nutznießern des ganzen finanzkapitalistischen Zirkus gehörten noch jemals darüber zu befinden hatten. Stattdessen müssen sie nun mit ihrem Lebensunterhalt für Interessen, Entscheidungen und Schulden büßen, die nie die ihren waren.
Zur Legitimation und ideologischen Verschleierung von genau derlei taugt die von mir thematisierte Kollektividentität wunderbar: Es werden „Griechen“ und „Deutsche“ einander gegenüber gestellt, die in dieser Krise als solche gar nicht unterwegs waren, wie ich gerade zu erläutern versuchte. Das, noch bebildert mit kontrafaktischen Lügen wie einem faulen „Volkscharakter“ der Griechen und dem entgegengesetzten „Fleiß“ der Deutschen, bringt die Staatsvölker dann als solche in einen erfundenen Gegensatz zueinander, obwohl sie niemals die Akteure des europäischen Schuldenzirkus darstellten, sondern in ihrer Mehrheit die Ereignisse selbst den Medien entnehmen mussten.
Der identitäre Unsinn vom „Volkscharakter“ und der völkischen Identität lenkt damit vom „Oben“ und „Unten“ der modernen Klassengesellschaften, ihren ökonomischen und politischen Interessengegensätzen ab, die, da stimme ich Ihnen zu, nicht zwischen Staatsgrenzen, sondern quer durch alle Länder hindurch verlaufen.
Dieser Standpunkt stellt damit ein breit einsetzbares „Opium des Volkes“ dar, mit dem aus dunkelhäutigen Flüchtlingen wegen ihres zufällig etwas anderen Aussehens – selbst das muss man übrigens konstruieren: warum nimmt man wohl beispielsweise nicht die Körpergröße?! – eine Bedrohung der deutschen Volksidentität stilisiert wird, obwohl alle Bürger moderner Staaten ein Resultat endloser Wanderungsbewegungen darstellen und von natürlichen „Volkscharakteren“ schon von daher keine Rede sein kann. Was etwa ist „ein Spanier“? Im heutigen Spanien lebten bereits Keltiberer, Griechen, Phönizier, Römer, aber auch Goten, Vandalen, Alanen – ein persisches Reitervolk! -, Sueben, und schließlich fast 800 Jahre Araber. Was also ist ein Spanier, wenn nicht – und lediglich – der Staatsbürger Spaniens?
Das Gerede von der völkischen Identität ist also doppelt falsch: Erstens existiert nirgendwo ein quasi natürlicher Volkscharakter – die kulturellen Besonderheiten diverser Regionen und Staaten sind selbst historisches, insofern zufälliges und damit veränderliches Resultat unterschiedlichster geographischer, politischer, sozialer und religiöser Einflüsse. Und zweitens stellen die Staatsbürger eines Landes eben keine homogene, durch eine ominöse „Volksseele“ bestimmte Masse dar, sondern differenzieren sich in eine Vielzahl sozialer und kultureller Gruppen.
„Da werden die griechischen Rentner, Studenten, Bauern, Apotheker etc. für die Entscheidungen ihres Staates und seiner politischen Kontrahenten aus den sogenannten
„Institutionen“ – was schon kafkaesk genug klingt – haftbar gemacht, die sie selber wohl nur aus der Zeitung mitbekommen haben.“
Zudem gehören sie in kapitalistischen Gesellschaften eben auch unterschiedlichen Gesellschaftsklassen mit zuweilen gegensätzlichen Interessen an. Und diese ökonomischen Interessengegensätze und die daran geknüpften politischen Strukturen und Maßnahmen bestimmen den Gang der internationalen Wirtschaft über die Ländergrenzen hinweg – was die klassische Arbeiterbewegung übrigens durchaus einmal gewusst hat.
Nicht vergessen werden sollte dabei auch, dass in der fiktiven Volksidentität und also -gemeinschaft zwischen Mächtigen und Arbeitsvolk, zwischen Armen und Reichen eine reale Härte liegt, wenn sie wirklich wahrgemacht wird: Da werden die griechischen Rentner, Studenten, Bauern, Apotheker etc. für die Entscheidungen ihres Staates und seiner politischen Kontrahenten aus den sogenannten „Institutionen“ – was schon kafkaesk genug klingt – haftbar gemacht, die sie selber wohl nur aus der Zeitung mitbekommen haben. Falsche Abstraktionen praktisch wahr zu machen, das erfordert immer einen Akt der Gewalt, wie Hegel schon wusste…
JW: Beobachten Sie aktuell denn auch eine Art „deutsche Re-Nationalisierung“ im Rahmen zunehmender Kollektividentität? Und woran macht sich diese Entwicklung fest?
RS: In der Außenpolitik versucht der deutsche Staat, seine im Rahmen der Eurokrise auf Kosten der „Krisenverlierer“ gewachsene ökonomische Macht in eine Ausweitung seiner politischen Entscheidungshoheit zu überführen – das Verhalten der deutschen Regierungsvertreter gegenüber Varoufakis und Tsipras spricht da Bände und macht ein neues herrschaftliches Selbstbewusstsein als „führende“ Nation der EU geltend.
Gleichzeitig scheinen Teile der Bevölkerung dieses neudeutsche Selbstbewusstsein auf ihre ganz private Weise aufzugreifen und auf radikale identitäre Abgrenzung etwa von den als fremdartig wahrgenommenen Zuwanderern zu drängen; der „Islam“ von dem man dafür nichts zu wissen braucht, steht dabei unbegriffen für die behauptete Fremdheit der „Anderen“. Da wird schnell vergessen, dass viele deutsche Politiker Nachfahren von Zuwanderern sind, dass das Christentum, aus dem Nahen Osten stammend, einst hier auch übernommen wurde und, vor allem, dass die schiere Religionszugehörigkeit noch nichts über die Interessen, Denkweisen und Motivationen eines Menschen aussagt – die meisten sind doch einfach bei diesem oder einen anderen religiösen Verein dabei, der in ihrem jeweiligen Herkunftsland dominiert; die Fanatiker einer politisierten Religiosität sind hingegen eher selten und resultieren in ihrer gegenwärtigen Hochphase aus politischen Entwicklungen, die der sogenannte „Freie Westen“ selbst mitinitiiert hat. Doch das steht auf einem anderen Blatt….
JW: Hätten Sie vielleicht ein, zwei konkrete Beispiele für die entsprechende „Mentalität“? Und was genau sind die Probleme hieran?
RS: PEGIDA gibt für den eben bezeichneten Standpunkt ein vortreffliches Beispiel ab: Die PEGIDA-Anhänger rechnen sich als „echte“ Deutsche eine unverbrüchliche deutsche, deshalb abendländische Identität zu, die sie – und andere „abendländische“ Europäer – angeblich von vornherein, unabhängig von der bunten Vielfalt von Menschen hier wie dort, als gleichsam „reine“, hier geborene Volksdeutsche von den Muslimen unterscheidet, seien diese nun eingesessene deutsche Bürger oder gerade zugewanderte Flüchtlinge – was ja, wie gerade betont, auch noch nichts darüber aussagt, was die konkreten einzelnen Menschen so tun und meinen.
Und was das Problem dabei ist? Nun, das Problem nennt sich Rassismus: Es wird eine völkische Identität als Basis der erträumten homogenen Volksgemeinschaft angenommen, die durch Albernheiten wie die liebgewonnenen traditionellen Bezeichnungen von Weihnachtsmärkten, Christstollen etc. bebildert wird, die angeblich in Gefahr seien, was die deutsch-romantische Gartenzwerg-Idylle der „Völkischen“ durcheinanderbringen könnte.
„Der Grundtenor von PEGIDA ist das beleidigte natürliche Vorrecht der – ich sage das bewusst – „Volksdeutschen“ gegenüber den Zuwanderern, deren Andersartigkeit durch das Herumhacken auf dem Islam bebildert wird. Und gerade weil diese Islam-Kritik weit von jeder rationellen Auseinandersetzung mit Religionen entfernt ist, braucht sie sich um Argumente und Fakten auch gar nicht zu kümmern.“
Nicht anders verlief einst die Abgrenzung vom angeblich typisch „jüdischen Wesen“: Spezifische Regeln einer Religionsgemeinschaft, so private Dinge wie Speise- und Bekleidungssitten betreffend, oft nur behauptete, typische Äußerlichkeiten oder vorgebliche Charakterzüge werden zum unhintergehbaren Unterscheidungsmerkmal aufgeladen, besser: aufgeblasen. Bei solch völkischen Identitätsstiftungen lugt als Potential de facto immer der Faschismus um die Ecke. Ich habe das in meinem Buch „Religion, Volk, Identität?“ am Beispiel des Antisemitismus und der Nahost-Problematik ausführlicher untersucht.
Der Knackpunkt daran ist, dass die PEGIDA-Leute von einer schroffen Entgegensetzung von „uns Deutschen“ und den – islamisch gedachten – Zuwanderern ausgehen: Während „unsere“ Rentner oft nicht genug zum Leben hätten, bekämen diese alles hinterhergeworfen; auf einem Plakat stand: „Wir sind das Volk“. Das macht schon deutlich: Der Grundtenor von PEGIDA ist das beleidigte natürliche Vorrecht der – ich sage das bewusst – „Volksdeutschen“ gegenüber den Zuwanderern, deren Andersartigkeit durch das Herumhacken auf dem Islam bebildert wird. Und gerade weil diese Islam-Kritik weit von jeder rationellen Auseinandersetzung mit Religionen entfernt ist, braucht sie sich um Argumente und Fakten auch gar nicht zu kümmern – da spielt es dann keine Rolle mehr, wieviel Muslime wirklich unter den aktuellen Migranten sind und ob diese überhaupt über einen Kamm geschert werden können; oder ob für alle muslimischen Einwanderer deren Religionsausübung jene eminent politische und ausschließliche Bedeutung hat, wie es bei den radikalen Islamisten der Fall ist. Oder eben, wem um alles in der Welt in diesem Land nichts hinterhergeworfen wird, wenn man nicht als „too big to fail“ eingestuft wird usw. usf.
Insofern ist das Strickmuster der völkisch-identitären Propaganda, die von PEGIDA ausgeht, das immer gleiche, das diesen Bewegungen qua Ideologie eigen ist: Die Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen oder persönlichen Lage wird auf „fremdartige“ Schuldige projiziert, die dem guten eigenen Volk die Lebenschancen verdürben und dabei von skrupellosen Politikern und Medien unterstützt würden.
Rechte Bewegungen konstruieren immer ein fakten- und argumentresistentes Gesamtbild einer „Verschwörung“ gegen das treue Staatsvolk, dem die Regierung schon wegen dessen „Volksnatur“ jedoch zu Diensten sein müsse, weshalb alle gegenläufigen Interessen, die die Regierung vertritt oder bedient, an „Verrat“ grenzten. Wahr ist ein solches Phantasiekonstrukt jedoch gerade in modernen Klassengesellschaften, die derzeit immer schroffer zwischen „arm“ und „reich“ unterscheiden und deren Trennlinien und Problemfelder im ökonomisch-sozialen Bereich verlaufen, niemals – um nicht zu sagen: es ist geradezu absurd.
JW: Und fällt so etwas denn vom Himmel? Ist es neu? Wie bewerten Sie das?
RS: Wenn man beobachtet, wie die „offizielle“ Politik tausende von Flüchtlingen regelmäßig im Meer ersaufen lässt und man sich europaweit vor allem mit der Frage beschäftigt, wie man die Leute daran hindern könnte, hierher zu kommen, und, wenn sie mal da sind, wer diese ungeliebte Menschengruppe aufnehmen müsse, wenn man liest, wie die bayerische Regierungspartei offiziell ankündigt, es den Flüchtlingen in Bayern so ungemütlich wie möglich machen zu wollen – dann braucht man sich über die alltäglichen Faschistereien nicht mehr zu wundern.
Auf der Klaviatur des völkischen Nationalismus spielen insbesondere konservative Politiker in Krisenzeiten sehr gern – sind sie sich der Gefolgschaft ihrer Stammwähler in dieser Frage doch sicher …
Und wer die bodenlosen Griechenland-Debatten, die permanente Begutachtung der griechischen Volksnatur als faul bis rätselhaft fast in der gesamten Presse verfolgt hat, wundert sich eher, dass nicht noch mehr passiert. Nur so lassen sich aber Leute, die nicht den blassesten Dunst von den Zusammenhängen der Euro-Schuldenkrise haben, dazu aufhetzen, Sprüche gegen „die Griechen“ in die Kamera zu halten und sich auch noch gut dabei zu fühlen. Etwas Besseres kann den Politikern gar nicht passieren: Nicht die eigene Politik wird kritisiert, sondern die angebliche „Faulheit“ irgendwelcher weit entfernt wohnender Menschen, die plötzlich den Euro gefährden sollen und „unser“ Geld verprassen.
Wobei die modernen Rechten ihren identitären Unsinn übrigens scheinbar moderat und damit massentauglicher formulieren: Man hat ja gar nichts gegen die „Eigenart“ der fremden Volksnaturen; nur müssten diese ja nicht unbedingt hier sein oder unsere Euros verplempern. „Der Grieche“ mit Sirtaki, Ouzo und Souvlaki, mit Drachme und viel Sonne in Griechenland – das geht schon okay, da fahren wir dann vielleicht sogar wieder mal hin…. Diese ethnopluralistische Verkleidung des Rassismus geht vor allem auf den neurechten Theoretiker Alain Benoist zurück und spiegelt eine Anerkennung der „Andersartigen“ vor, solange diese sich in dem ihrer Natur entsprechenden Elend einhausen, bleiben wo sie sind und „uns“ nicht mit Ansprüchen nerven.
01-1Wernicke-Schreiber-Interview-TH 02-1Wernicke-Schreiber-Interview-TH 03-1Wernicke-Schreiber-Interview-THJW: Die Vermutung liegt nahe, dass diese Unterscheidung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ äußerst nützlich zur Konstruktion etwa von Feindbildern ist …
Ich würde sogar noch weiter gehen: Die Unterscheidung von „Wir“ und „die Anderen“, die nicht nur das pure Faktum der Differenz, zufälliger regionaler, religiöser oder kultureller Unterschiede bezeichnet, sondern diese Unterschiede zu fixen Identitäten oder „Volksnaturen“ aufbläst, steht der Logik nach immer mit einem Fuß im Feindbild: Es braucht dann nur noch ein politisches Interesse, diese vermeintliche Identität, die ja von Natur aus so sei, als „unseren Interessen“ oder „Werten“ schädlich darzustellen. Mehr braucht es nicht für einen Feind: Er ist gegen uns, weil er so ist – und zwar durch das, was er ist. Punkt.
JW: Aber … gibt es denn „den Deutschen“ gar nicht, oder wie verstehe ich Sie?
RS: „Den Deutschen“ als imaginäres, homogenes Kollektivsubjekt gibt es wirklich nicht – deshalb haben die Nazis in ihrem rassistischen Wahn stets von „dem Juden“, „dem Polen“ usw. gesprochen. Im Singular wird die rassistische Homogenitätsbehauptung versinnbildlicht. Insofern lassen Sprüche wie „Der Grieche nervt langsam“, wie kürzlich von einem CSU-Politiker kolportiert, tief blicken….
„Die Deutschen“ als Oberbegriff für die Bürger eines bestimmten europäischen Staates gibt es natürlich schon. Mehr ist dann aber über sie auch nicht gewusst.
JW: Und was kann man dem entgegensetzen? Was tun wir gegen dieses, wie Sie es nennen, identitäre Bewusstsein – gerade in der heutigen, sich zunehmend militarisierenden Zeit? Wenn Sie gefragt würden: Was rieten Sie?
RS: Was ich immer schon geraten habe: Man muss diesen Gedankenwelten argumentativ, sachlich, begründet sowie mit Fakten und Beispielen bewaffnet entgegentreten, wann immer es geht; angesichts der allseitigen medialen Präsenz des identitären Standpunkts und seiner nationalistischen Sichtweisen ist es ja alles andere als verwunderlich, dass viele Leute diesen Vorstellungen Glauben schenken.
Hinzu kommt eine tiefe Verunsicherung der Mittelschichten in Krisenzeiten, die deshalb für Versprechungen der Besitzstandswahrung auf Kosten fiktiver „Anderer“ oder wohl eher „Schuldiger“ immer schon empfänglich waren; das muss man in der Argumentation so weit als möglich berücksichtigen und die Versprechungen der Politik widerlegen: Kein „Normalbürger“ stellt sich besser in Deutschland, wenn „die Griechen“ ihren oft nicht einmal mehr vorhandenen Gürtel enger schnallten. Es dürfte wohl sogar vielmehr das Gegenteil der Fall werden: Wenn es dem Kapitalismus in Griechenland gelingt, die Armen noch mehr in die Armut zu treiben, dürften andere Länder sich hieran ein Beispiel nehmen…
Die aufgeregten Emotionen bei solchen Diskussionen sollte man dabei getrost der Gegenseite überlassen.
JW: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Von „faulen Griechen“ und „fleißigen Deutschen“
Was steckt eigentlich hinter dem Denken vom „Wir“ und „den Anderen“, das aktuell unter anderem in der Rede von „faulen Griechen“ und „fleißigen Deutschen“ kumuliert? Eine Art „fiktiver Kollektividentität“, die stets anfällig für Feindbildprojektionen ist, meint der Soziologe und Publizist Rainer Schreiber im Gespräch mit Jens Wernicke.
von Jens Wernicke
Jens Wernicke: Herr Schreiber, in einer aktuellen Publikation wenden Sie sich gegen, wie Sie es nennen, „das Identitätsgetue“. Damit machen Sie sich sicher nicht viele Freunde. Identität braucht der Mensch doch?
Rainer Schreiber: In einem sehr allgemeinen Sinn trifft dies zweifellos zu – Menschen definieren sich als Personen über ihre Eigenschaften, Interessen, Werte und Überzeugungen; insofern haben sie nicht eine, sondern viele Identitäten, die sie selbst gewichten, hervorheben, aber auch verändern und ablegen können: Aus dem katholischen Schüler, der sich mit Religionskritik beschäftigt, wird unter Umständen ein Agnostiker; der muslimisch-türkische Facharbeiter, der in Deutschland lebt, kann zu einer liberaleren Auffassung von Religion gelangen; und beide können etwa ihre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wichtiger finden als ihre Herkunft usw. usf.
Problematisch und zum „Getue“ wird Identität aber dann, wenn übersehen wird, dass diese Persönlichkeitselemente nicht mit einer eingebildeten Natur verwachsen, sondern selbst Resultat zufälliger Entwicklungen, die von Ort und Zeit der Geburt bis zu besonderen familiären Einflüssen reichen, sind. Dass man ohne Identität nicht leben kann, heißt eben nicht, dass dafür genau jenes – und deshalb nur dieses! – spezielle Sammelsurium an Ansichten, Symbolen und Überzeugungen unabdingbar notwendig ist, das einem aus seiner zufälligen biographischen Situation heraus gerade anhaftet. Unsere Überzeugungen und Vorstellungswelten sind vielmehr immer auch Resultat unserer Lebensweise, zufälligen Herkunft, politischen Sozialisation, Interessenlage etc. – und damit grundsätzlich diskutier-, veränder-, kritisierbar.
„Die griechischen
,Normalbürger‘ sind
dabei ebenso wie die deutschen diejenigen, die die Zeche der Krise zu bezahlen haben, obwohl sie weder zu den Nutz-
nießern des ganzen finanzkapitalistischen Zirkus gehörten noch
jemals darüber zu
befinden hatten.“
Wenn man das weiß und verstanden hat, blickt man auf die eigene und fremde Identität nicht mehr mit der abgrenzenden Absolutheit, die üblicherweise religiösen und nationalistischen Fanatikern eigen ist. Vor allem die Zugehörigkeit zu nationalen Kollektiven ist eine von der politischen Herrschaft, den Staaten selbst vorgenommene Etikettierung, die man sich nicht einfach so ausgesucht hat und die herzlich wenig über wirkliche Gemeinsamkeiten mit anderen aussagt, die ebenfalls zufällig in derselben Nation geboren worden sind.
Kurzum: Nichts an der von der politischen Rechten so hoch-geschätzten religiösen, kulturellen oder nationalen Identität ist einfach Gott- oder naturgegeben und damit sakrosankt. Mit niemandem gerät man wegen der schieren Differenz der Herkunft, der Hautfarbe oder der Sitten und Gebräuche in einen Gegensatz, der nach Ab- und Ausgrenzung schreit. Darum geht es mir mit meiner Kritik.
JW: Können Sie das vielleicht anhand eines Beispiels ausführen? Zielt das etwa darauf ab, dass, um aktuell gegen Griechenland Stimmung zu machen und dort die Linke sowie vor allem die Demokratie zu beschädigen, regelrecht nationalistisch Stimmung gemacht und eine Art deutsche Kollektividentität heraufbeschworen wird – stets verbunden mit der Behauptung, für „uns“ wäre das gut? Ich meine, um einmal Marx zu paraphrasieren: Die Krise hier offenbart ja, dass die Grenzen offenbar nur im Rahmen identitären Denkens zwischen den Völkern verlaufen, in Wahrheit jedoch zwischen Oben und Unten und dem diesbezüglich üblicherweise unsichtbar gemachten Interessengegensatz…
RS: Um gleich bei Ihrem letzten Punkt anzufangen: Die gegenwärtige Anti-Griechen-Hetze in den deutschen „Qualitätsmedien“ setzt sich einfach darüber hinweg, dass eine unheilvolle Allianz aus griechischen Staatseliten, Milliardären und Banken auf der einen Seite und– insbesondere – deutscher und französischer Banken, deutscher Rüstungsfirmen, ja der „internationalen Investorengemeinde“ insgesamt auf der anderen Seite der gemeinsame Nutznießer des politisch allseits geförderten Systems war, auf Basis des Euro Schulden aller Euro-Staaten in anerkannte, rentierliche Vermögenstitel zu verwandeln, weshalb es ja auch nicht genug davon geben konnte – bis sich in der Weltfinanzkrise die Unhaltbarkeit dieser Strategie erwies.
Die griechischen „Normalbürger“ sind dabei ebenso wie die deutschen diejenigen, die die Zeche der Krise zu bezahlen haben, obwohl sie weder zu den Nutznießern des ganzen finanzkapitalistischen Zirkus gehörten noch jemals darüber zu befinden hatten. Stattdessen müssen sie nun mit ihrem Lebensunterhalt für Interessen, Entscheidungen und Schulden büßen, die nie die ihren waren.
Zur Legitimation und ideologischen Verschleierung von genau derlei taugt die von mir thematisierte Kollektividentität wunderbar: Es werden „Griechen“ und „Deutsche“ einander gegenüber gestellt, die in dieser Krise als solche gar nicht unterwegs waren, wie ich gerade zu erläutern versuchte. Das, noch bebildert mit kontrafaktischen Lügen wie einem faulen „Volkscharakter“ der Griechen und dem entgegengesetzten „Fleiß“ der Deutschen, bringt die Staatsvölker dann als solche in einen erfundenen Gegensatz zueinander, obwohl sie niemals die Akteure des europäischen Schuldenzirkus darstellten, sondern in ihrer Mehrheit die Ereignisse selbst den Medien entnehmen mussten.
Der identitäre Unsinn vom „Volkscharakter“ und der völkischen Identität lenkt damit vom „Oben“ und „Unten“ der modernen Klassengesellschaften, ihren ökonomischen und politischen Interessengegensätzen ab, die, da stimme ich Ihnen zu, nicht zwischen Staatsgrenzen, sondern quer durch alle Länder hindurch verlaufen.
Dieser Standpunkt stellt damit ein breit einsetzbares „Opium des Volkes“ dar, mit dem aus dunkelhäutigen Flüchtlingen wegen ihres zufällig etwas anderen Aussehens – selbst das muss man übrigens konstruieren: warum nimmt man wohl beispielsweise nicht die Körpergröße?! – eine Bedrohung der deutschen Volksidentität stilisiert wird, obwohl alle Bürger moderner Staaten ein Resultat endloser Wanderungsbewegungen darstellen und von natürlichen „Volkscharakteren“ schon von daher keine Rede sein kann. Was etwa ist „ein Spanier“? Im heutigen Spanien lebten bereits Keltiberer, Griechen, Phönizier, Römer, aber auch Goten, Vandalen, Alanen – ein persisches Reitervolk! -, Sueben, und schließlich fast 800 Jahre Araber. Was also ist ein Spanier, wenn nicht – und lediglich – der Staatsbürger Spaniens?
Das Gerede von der völkischen Identität ist also doppelt falsch: Erstens existiert nirgendwo ein quasi natürlicher Volkscharakter – die kulturellen Besonderheiten diverser Regionen und Staaten sind selbst historisches, insofern zufälliges und damit veränderliches Resultat unterschiedlichster geographischer, politischer, sozialer und religiöser Einflüsse. Und zweitens stellen die Staatsbürger eines Landes eben keine homogene, durch eine ominöse „Volksseele“ bestimmte Masse dar, sondern differenzieren sich in eine Vielzahl sozialer und kultureller Gruppen.
„Da werden die griechischen Rentner, Studenten, Bauern, Apotheker etc. für die Entscheidungen ihres Staates und seiner politischen Kontrahenten aus den sogenannten
„Institutionen“ – was schon kafkaesk genug klingt – haftbar gemacht, die sie selber wohl nur aus der Zeitung mitbekommen haben.“
Zudem gehören sie in kapitalistischen Gesellschaften eben auch unterschiedlichen Gesellschaftsklassen mit zuweilen gegensätzlichen Interessen an. Und diese ökonomischen Interessengegensätze und die daran geknüpften politischen Strukturen und Maßnahmen bestimmen den Gang der internationalen Wirtschaft über die Ländergrenzen hinweg – was die klassische Arbeiterbewegung übrigens durchaus einmal gewusst hat.
Nicht vergessen werden sollte dabei auch, dass in der fiktiven Volksidentität und also -gemeinschaft zwischen Mächtigen und Arbeitsvolk, zwischen Armen und Reichen eine reale Härte liegt, wenn sie wirklich wahrgemacht wird: Da werden die griechischen Rentner, Studenten, Bauern, Apotheker etc. für die Entscheidungen ihres Staates und seiner politischen Kontrahenten aus den sogenannten „Institutionen“ – was schon kafkaesk genug klingt – haftbar gemacht, die sie selber wohl nur aus der Zeitung mitbekommen haben. Falsche Abstraktionen praktisch wahr zu machen, das erfordert immer einen Akt der Gewalt, wie Hegel schon wusste…
JW: Beobachten Sie aktuell denn auch eine Art „deutsche Re-Nationalisierung“ im Rahmen zunehmender Kollektividentität? Und woran macht sich diese Entwicklung fest?
RS: In der Außenpolitik versucht der deutsche Staat, seine im Rahmen der Eurokrise auf Kosten der „Krisenverlierer“ gewachsene ökonomische Macht in eine Ausweitung seiner politischen Entscheidungshoheit zu überführen – das Verhalten der deutschen Regierungsvertreter gegenüber Varoufakis und Tsipras spricht da Bände und macht ein neues herrschaftliches Selbstbewusstsein als „führende“ Nation der EU geltend.
Gleichzeitig scheinen Teile der Bevölkerung dieses neudeutsche Selbstbewusstsein auf ihre ganz private Weise aufzugreifen und auf radikale identitäre Abgrenzung etwa von den als fremdartig wahrgenommenen Zuwanderern zu drängen; der „Islam“ von dem man dafür nichts zu wissen braucht, steht dabei unbegriffen für die behauptete Fremdheit der „Anderen“. Da wird schnell vergessen, dass viele deutsche Politiker Nachfahren von Zuwanderern sind, dass das Christentum, aus dem Nahen Osten stammend, einst hier auch übernommen wurde und, vor allem, dass die schiere Religionszugehörigkeit noch nichts über die Interessen, Denkweisen und Motivationen eines Menschen aussagt – die meisten sind doch einfach bei diesem oder einen anderen religiösen Verein dabei, der in ihrem jeweiligen Herkunftsland dominiert; die Fanatiker einer politisierten Religiosität sind hingegen eher selten und resultieren in ihrer gegenwärtigen Hochphase aus politischen Entwicklungen, die der sogenannte „Freie Westen“ selbst mitinitiiert hat. Doch das steht auf einem anderen Blatt….
JW: Hätten Sie vielleicht ein, zwei konkrete Beispiele für die entsprechende „Mentalität“? Und was genau sind die Probleme hieran?
RS: PEGIDA gibt für den eben bezeichneten Standpunkt ein vortreffliches Beispiel ab: Die PEGIDA-Anhänger rechnen sich als „echte“ Deutsche eine unverbrüchliche deutsche, deshalb abendländische Identität zu, die sie – und andere „abendländische“ Europäer – angeblich von vornherein, unabhängig von der bunten Vielfalt von Menschen hier wie dort, als gleichsam „reine“, hier geborene Volksdeutsche von den Muslimen unterscheidet, seien diese nun eingesessene deutsche Bürger oder gerade zugewanderte Flüchtlinge – was ja, wie gerade betont, auch noch nichts darüber aussagt, was die konkreten einzelnen Menschen so tun und meinen.
Und was das Problem dabei ist? Nun, das Problem nennt sich Rassismus: Es wird eine völkische Identität als Basis der erträumten homogenen Volksgemeinschaft angenommen, die durch Albernheiten wie die liebgewonnenen traditionellen Bezeichnungen von Weihnachtsmärkten, Christstollen etc. bebildert wird, die angeblich in Gefahr seien, was die deutsch-romantische Gartenzwerg-Idylle der „Völkischen“ durcheinanderbringen könnte.
„Der Grundtenor von PEGIDA ist das beleidigte natürliche Vorrecht der – ich sage das bewusst – „Volksdeutschen“ gegenüber den Zuwanderern, deren Andersartigkeit durch das Herumhacken auf dem Islam bebildert wird. Und gerade weil diese Islam-Kritik weit von jeder rationellen Auseinandersetzung mit Religionen entfernt ist, braucht sie sich um Argumente und Fakten auch gar nicht zu kümmern.“
Nicht anders verlief einst die Abgrenzung vom angeblich typisch „jüdischen Wesen“: Spezifische Regeln einer Religionsgemeinschaft, so private Dinge wie Speise- und Bekleidungssitten betreffend, oft nur behauptete, typische Äußerlichkeiten oder vorgebliche Charakterzüge werden zum unhintergehbaren Unterscheidungsmerkmal aufgeladen, besser: aufgeblasen. Bei solch völkischen Identitätsstiftungen lugt als Potential de facto immer der Faschismus um die Ecke. Ich habe das in meinem Buch „Religion, Volk, Identität?“ am Beispiel des Antisemitismus und der Nahost-Problematik ausführlicher untersucht.
Der Knackpunkt daran ist, dass die PEGIDA-Leute von einer schroffen Entgegensetzung von „uns Deutschen“ und den – islamisch gedachten – Zuwanderern ausgehen: Während „unsere“ Rentner oft nicht genug zum Leben hätten, bekämen diese alles hinterhergeworfen; auf einem Plakat stand: „Wir sind das Volk“. Das macht schon deutlich: Der Grundtenor von PEGIDA ist das beleidigte natürliche Vorrecht der – ich sage das bewusst – „Volksdeutschen“ gegenüber den Zuwanderern, deren Andersartigkeit durch das Herumhacken auf dem Islam bebildert wird. Und gerade weil diese Islam-Kritik weit von jeder rationellen Auseinandersetzung mit Religionen entfernt ist, braucht sie sich um Argumente und Fakten auch gar nicht zu kümmern – da spielt es dann keine Rolle mehr, wieviel Muslime wirklich unter den aktuellen Migranten sind und ob diese überhaupt über einen Kamm geschert werden können; oder ob für alle muslimischen Einwanderer deren Religionsausübung jene eminent politische und ausschließliche Bedeutung hat, wie es bei den radikalen Islamisten der Fall ist. Oder eben, wem um alles in der Welt in diesem Land nichts hinterhergeworfen wird, wenn man nicht als „too big to fail“ eingestuft wird usw. usf.
Insofern ist das Strickmuster der völkisch-identitären Propaganda, die von PEGIDA ausgeht, das immer gleiche, das diesen Bewegungen qua Ideologie eigen ist: Die Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen oder persönlichen Lage wird auf „fremdartige“ Schuldige projiziert, die dem guten eigenen Volk die Lebenschancen verdürben und dabei von skrupellosen Politikern und Medien unterstützt würden.
Rechte Bewegungen konstruieren immer ein fakten- und argumentresistentes Gesamtbild einer „Verschwörung“ gegen das treue Staatsvolk, dem die Regierung schon wegen dessen „Volksnatur“ jedoch zu Diensten sein müsse, weshalb alle gegenläufigen Interessen, die die Regierung vertritt oder bedient, an „Verrat“ grenzten. Wahr ist ein solches Phantasiekonstrukt jedoch gerade in modernen Klassengesellschaften, die derzeit immer schroffer zwischen „arm“ und „reich“ unterscheiden und deren Trennlinien und Problemfelder im ökonomisch-sozialen Bereich verlaufen, niemals – um nicht zu sagen: es ist geradezu absurd.
JW: Und fällt so etwas denn vom Himmel? Ist es neu? Wie bewerten Sie das?
RS: Wenn man beobachtet, wie die „offizielle“ Politik tausende von Flüchtlingen regelmäßig im Meer ersaufen lässt und man sich europaweit vor allem mit der Frage beschäftigt, wie man die Leute daran hindern könnte, hierher zu kommen, und, wenn sie mal da sind, wer diese ungeliebte Menschengruppe aufnehmen müsse, wenn man liest, wie die bayerische Regierungspartei offiziell ankündigt, es den Flüchtlingen in Bayern so ungemütlich wie möglich machen zu wollen – dann braucht man sich über die alltäglichen Faschistereien nicht mehr zu wundern.
Auf der Klaviatur des völkischen Nationalismus spielen insbesondere konservative Politiker in Krisenzeiten sehr gern – sind sie sich der Gefolgschaft ihrer Stammwähler in dieser Frage doch sicher …
Und wer die bodenlosen Griechenland-Debatten, die permanente Begutachtung der griechischen Volksnatur als faul bis rätselhaft fast in der gesamten Presse verfolgt hat, wundert sich eher, dass nicht noch mehr passiert. Nur so lassen sich aber Leute, die nicht den blassesten Dunst von den Zusammenhängen der Euro-Schuldenkrise haben, dazu aufhetzen, Sprüche gegen „die Griechen“ in die Kamera zu halten und sich auch noch gut dabei zu fühlen. Etwas Besseres kann den Politikern gar nicht passieren: Nicht die eigene Politik wird kritisiert, sondern die angebliche „Faulheit“ irgendwelcher weit entfernt wohnender Menschen, die plötzlich den Euro gefährden sollen und „unser“ Geld verprassen.
Wobei die modernen Rechten ihren identitären Unsinn übrigens scheinbar moderat und damit massentauglicher formulieren: Man hat ja gar nichts gegen die „Eigenart“ der fremden Volksnaturen; nur müssten diese ja nicht unbedingt hier sein oder unsere Euros verplempern. „Der Grieche“ mit Sirtaki, Ouzo und Souvlaki, mit Drachme und viel Sonne in Griechenland – das geht schon okay, da fahren wir dann vielleicht sogar wieder mal hin…. Diese ethnopluralistische Verkleidung des Rassismus geht vor allem auf den neurechten Theoretiker Alain Benoist zurück und spiegelt eine Anerkennung der „Andersartigen“ vor, solange diese sich in dem ihrer Natur entsprechenden Elend einhausen, bleiben wo sie sind und „uns“ nicht mit Ansprüchen nerven.
01-1Wernicke-Schreiber-Interview-TH 02-1Wernicke-Schreiber-Interview-TH 03-1Wernicke-Schreiber-Interview-THJW: Die Vermutung liegt nahe, dass diese Unterscheidung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ äußerst nützlich zur Konstruktion etwa von Feindbildern ist …
Ich würde sogar noch weiter gehen: Die Unterscheidung von „Wir“ und „die Anderen“, die nicht nur das pure Faktum der Differenz, zufälliger regionaler, religiöser oder kultureller Unterschiede bezeichnet, sondern diese Unterschiede zu fixen Identitäten oder „Volksnaturen“ aufbläst, steht der Logik nach immer mit einem Fuß im Feindbild: Es braucht dann nur noch ein politisches Interesse, diese vermeintliche Identität, die ja von Natur aus so sei, als „unseren Interessen“ oder „Werten“ schädlich darzustellen. Mehr braucht es nicht für einen Feind: Er ist gegen uns, weil er so ist – und zwar durch das, was er ist. Punkt.
JW: Aber … gibt es denn „den Deutschen“ gar nicht, oder wie verstehe ich Sie?
RS: „Den Deutschen“ als imaginäres, homogenes Kollektivsubjekt gibt es wirklich nicht – deshalb haben die Nazis in ihrem rassistischen Wahn stets von „dem Juden“, „dem Polen“ usw. gesprochen. Im Singular wird die rassistische Homogenitätsbehauptung versinnbildlicht. Insofern lassen Sprüche wie „Der Grieche nervt langsam“, wie kürzlich von einem CSU-Politiker kolportiert, tief blicken….
„Die Deutschen“ als Oberbegriff für die Bürger eines bestimmten europäischen Staates gibt es natürlich schon. Mehr ist dann aber über sie auch nicht gewusst.
JW: Und was kann man dem entgegensetzen? Was tun wir gegen dieses, wie Sie es nennen, identitäre Bewusstsein – gerade in der heutigen, sich zunehmend militarisierenden Zeit? Wenn Sie gefragt würden: Was rieten Sie?
RS: Was ich immer schon geraten habe: Man muss diesen Gedankenwelten argumentativ, sachlich, begründet sowie mit Fakten und Beispielen bewaffnet entgegentreten, wann immer es geht; angesichts der allseitigen medialen Präsenz des identitären Standpunkts und seiner nationalistischen Sichtweisen ist es ja alles andere als verwunderlich, dass viele Leute diesen Vorstellungen Glauben schenken.
Hinzu kommt eine tiefe Verunsicherung der Mittelschichten in Krisenzeiten, die deshalb für Versprechungen der Besitzstandswahrung auf Kosten fiktiver „Anderer“ oder wohl eher „Schuldiger“ immer schon empfänglich waren; das muss man in der Argumentation so weit als möglich berücksichtigen und die Versprechungen der Politik widerlegen: Kein „Normalbürger“ stellt sich besser in Deutschland, wenn „die Griechen“ ihren oft nicht einmal mehr vorhandenen Gürtel enger schnallten. Es dürfte wohl sogar vielmehr das Gegenteil der Fall werden: Wenn es dem Kapitalismus in Griechenland gelingt, die Armen noch mehr in die Armut zu treiben, dürften andere Länder sich hieran ein Beispiel nehmen…
Die aufgeregten Emotionen bei solchen Diskussionen sollte man dabei getrost der Gegenseite überlassen.
JW: Ich bedanke mich für das Gespräch.