Burgfrieden 2023:

SPD für Aufrüstung und Wehrpflicht

In der Bundestagsdebatte am 25. Januar 2023 leistete sich Olaf Scholz eine Reihe blamabler Dreistigkeiten, an deren Spitze wohl die Abwertung der „Halbierung der Bundeswehr und die Abschaffung der Wehrpflicht” stehen. Dabei untergegangen sind u.a. das „Bekenntnis” des Olaf Scholz, „dass Deutschland eine Führungsrolle übernehmen…und die stärkste Armee in Europa stellen soll”. Wie Mark Twain so schön sagte, die Geschichte wiederhole sich nicht, aber die Ereignisse reimen sich.

Von Published On: 11. April 2023Kategorien: Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 30.01.2023 auf www.tkp.at unter der URL <https://tkp.at/2023/01/30/burgfrieden-2023-spd-fuer-aufruestung-und-wehrpflicht/> veröffentlicht. Lizenz: Prof. Dr. Stephan Sander-Faes

(Timo Klostermeier, CC-BY 2.0)

Hier erst einmal ein Tweet von „George Orwell 3”, der die erwähnte Aussage zeigt: [1]

Olaf Scholz bezeichnete die Abschaffung der Wehrpflicht als Fehler. (Twitter)

Die eingangs und in Folge zitierten Aussagen können Sie im Plenarprotokoll des Deutschen Bundestags aus der 81. Sitzung der 20. Legislaturperiode nachlesen [2].

„Wer hat uns verraten –
Sozialdemokraten”

Der erwähnte Spruch ist in etwa so alt wie dessen Ursache und grauenvollen Folgen: entstanden im Kontext des 1. Weltkriegs (1914-18/19) und der darauf folgenden Verwerfungen um die deutsche Novemberrevolution (1918/19), die Weimarer Republik (1919-33), das nationalsozialistische „Tausendjährige Reich” (1933-45) und die damit verbundenen Gräueltaten.

Angesichts der immer wiederkehrenden Aufschreie über die Ausrichtung der SPD ist auch diese Formulierung dieser Tage erneut unter Beschuss – und zwar, wenig überraschend, vonseiten der Parteigänger von Olaf Scholz. So rückte Walter Mühlhausen den Kampfspruch erst 2021 – passender Weise im SPD-Blatt Vorwärts – in einen ehrenrührigen Kontext. „Schon im Kaiserreich, von rechten Antidemokrat*innen” sei dieser „auch bei linken Demonstrationen” oftmals eingesetzte Kampfbegriff entstanden [3]:

„Der Verratsvorwurf kam im 1871 aus der Taufe gehobenen Deutschen Kaiserreich nicht von links, sondern eher schon von rechts, ja bis weit hinein aus der bürgerlichen Mitte: Sozialdemokrat*innen galten über die schändlichen Sozialistengesetze (1878–1890) hinaus als pestverdächtige Brunnenvergifter*innen des deutschen Wesens, als vaterlandslose Gesell*innen, gar als ˏLandesverräter´. Unter diesen Anschuldigungen wurden Arbeiter*innen auf die Straße gesetzt, Sozialdemokrat*innen des Ortes verwiesen oder ins Gefängnis gesteckt.”

Wir lernen: obwohl die Arbeiterbewegung bis 1890 weitgehend unterdrückt wurde und der Vorwurf des Verrats „eher schon von rechts” kam, betraf dieser kaum die SPD.

Noch abenteuerlicher ist jedoch der konkrete Hinweis von Mühlhausen – nomen est omen – auf die unmittelbaren Folgen des verlorenen 1. Weltkriegs:

„Die antidemokratische Rechte sah im November 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, durch Revolution und Republikgründung nun das bestätigt, was sie seit den Anfangstagen des Kaiserreichs glauben wollte: Die verräterische Sozialdemokratie wurde verantwortlich gemacht für die Kriegsniederlage und den daraus resultierenden schmachvollen Versailler Vertrag. Die unselige Dolchstoßlüge wurde zum probaten Transporteur dieses Irrglaubens: Der von den Sozialdemokrat*innen angezettelte Verrat in der Heimat habe dem tapferen Soldaten das Weiterkämpfen unmöglich gemacht, schließlich das Reich um den sicher geglaubten Sieg gebracht.”

Wie weit diese Interpretation von der Realität entfernt ist, zeigt übrigens Winfried Wolf in einer dreiteiligen, quellen- und verweisgesättigten „Serie über die Novemberrevolution” auf. Erschienen in den „Nachdenkseiten” sei Ihnen diese in jedem Fall ans Herz gelegt, wenn Sie an einer faktenbasierten Darstellung der von Mühlhausen verzerrten Geschichte interessiert sind: Teil 1 [4], Teil 2 [5], Teil 3 [6].

Kurz gefasst („sogar” Wikipedia ist hierbei übrigens korrekter als Mühlhausen und der „Vorwärts” [7]): die neue SPD-geführte Reichsregierung unter Friedrich Ebert verband sich mit der Obersten Heeresleitung unter General Wilhelm Groener, um just die soziale Transformation zu verhindern, nach der die Arbeiterbewegung vorgeblich strebte.

Offizielle Erklärung des Kriegszustandes an die Bevölkerung von Berlin “Unter den Linden” am 31. Juli 1914 nachmittags 5 Uhr durch Leutnant von Viebahn, belgeitet von einer Abteilung Soldaten des Alexander-Garde-Grenadier-Regiments (wikipedia, gemeinfrei)

Burgfrieden 1914

Unerwähnt in Mühlhausens revisionistischem Beitrag verbleibt dabei just die unglaubliche rasche „Konversion” der SPD in der Julikrise 1914, die im sogenannten „Burgfrieden” mündete [8]. Dieser bezeichnete die Zustimmung der bis anhin in Opposition befindlichen SPD zu der Kriegspolitik Wilhelms II., als ursächlich am Ausbruch des 1. Weltkriegs beteiligt – und leistete den vielfachen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts Vorschub.

Am 25. Juli 1914 noch hieß es etwa im „Vorwärts”:

„Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!”

Eine Woche später, am 31. Juli 1914, hieß es ebenda:

„Noch immer ausgehend von der Überzeugung, man führe einen Verteidigungskrieg gegen die Aggression Russlands, hieß es am 31. Juli im Vorwärts: ˏWenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen´.“

Ein Schelm, wer ob dieser Auslassung Mühlhausens im „Vorwärts” Böses denkt.

Burgfrieden 2023

Sowohl das bereits aufgelegte „Sondervermögen” von 100 Mrd. Euro für die Aufrüstung Deutschlands als auch die eingangs ausgewiesenen Aussagen von Bundeskanzler Scholz legen nahe, dass die SPD dieser Tage erneut Teil eines Burgfriedens ist. Diesmal übrigens unter Führung der Sozialdemokratie (sic), die sich – wie auch die Grünen – in bester Tradition zu der von Schröder und Fischer in den 1990er Jahren mitgetragenen Aggression gegen Jugoslawien somit vollends von der Antikriegslinie der Linken verabschiedet haben.

Dazu Olaf Scholz am 25. Januar 2023 im Bundestag:

„Das Errichtungsgesetz macht die klare Vorgabe, dass wir im Mittel der Jahre 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben sollen. Und ich sage: Ich bekenne mich dazu…Mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen haben wir die Grundlage dafür geschaffen, diesen Pfadwechsel auch zu organisieren, und zwar, ohne uns von lauten Rufen rechts und links davon abbringen zu lassen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.”

Wer profitiert davon? Erneut Scholz (meine Hervorhebungen):

„Was wir jetzt brauchen, sind konkrete Entscheidungen für konkrete Systeme. Einige sind schon getroffen, etwa für die F-35, was die nukleare Teilhabe betrifft, und für die Transporthubschrauber. Andere sind unmittelbar bevorstehend. Es sind dann immer sehr langfristige Verträge über eine Produktion, deren Aufbau manchmal Jahre dauert, und über Munitions- und Ersatzteillieferungen. Und wir müssen alle in den letzten Jahrzehnten Praxis gewordenen Fehler beseitigen, die die Verteidigungsminister der CDU/CSU gemacht haben.”

Was Herr Scholz hier anführt ist die bevorstehende Anschaffung schwerer Waffen, aller Voraussicht nach zugunsten der US-Rüstungskonglomerate. Deutschland – und der Rest Europas – zahlt die Zeche, allfällige Investitionen fallen in den USA an. Kann man dies noch „Investition” nennen oder handelt es sich hierbei um Tributzahlungen?

Der Seitenhieb auf die CDU/CSU-Verteidigungsminister unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (2005-21) empörte zwar die Unionsparteien, stellt aber angesichts der (mutmaßlichen) Verfehlungen von u.a. Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin und ihrer erwiesenen Inkompetenz als deutsche Verteidigungsministerin (2013-19) den Sachverhalt korrekt, wenn auch ausgesprochen knapp dar.

Deutschland: Entwicklung des Verteidigungshaushalts (Soll-Etat) von 2017 bis 2022
und Sondervermögen der Bundeswehr zum Vergleich (in Milliarden Euro), (Statista)

Die Geister, die Olaf Scholz rief

Besonders skurril aber wurde es einen Moment später. So zählte Scholz just die Fehler der Vorgängerregierungen – der er übrigens als Finanzminister angehörte – auf (meine Hervorhebungen):

„Dazu zählen ja nicht nur die Halbierung der Bundeswehr und die Abschaffung der Wehrpflicht; sondern dazu zählt auch das größte Sparprogramm für die Bundeswehr, das jemals stattgefunden hat, unter der Verantwortung von konservativen Politikern. Es gehört selbstverständlich dazu, dass wir all diese Fehler korrigieren: keine langfristigen Verträge, keine Ersatzteile in ausreichender Vorrätigkeit, keine laufende Produktion, keine ausreichende Munition, die ständig nachproduziert wird.

Während die ersten Zeilen klarer Revisionismus sind, so zeigen die letzten Zeilen, wie arg es um die Kampfbereitschaft der Bundeswehr bestellt ist. Zum Glück, muss man da schon fast anfügen, denn man will sich nicht ausmalen, wie katastrophal ein SPD-geführter Krieg gegen Russland aussehen würde.

Allem Anschein nach ist es kaum besser um die übrigen europäischen NATO- und EU-Staaten bzw. deren Militärwesen bestellt. Zum Glück, denn außer massiven Verlusten und katastrophalen Opferzahlen ist unter diesen Voraussetzungen nichts zu holen, von einem raschen und totalen Sieg über Russland ganz zu schweigen. Es steht vielmehr zu fragen, ob Deutschland – oder die „hirntote” (Emmanuel Macron) NATO – überhaupt zu mehr in der Lage wäre, denn als US-Anhängsel auf Gedeih und Verderb Kanonenfutter zu mimen.

Falls es zu einer weiteren Eskalation – etwa der Lieferung von Kampfjets, U-Booten oder NATO-Bodentruppen – kommen sollte, bleibt uns lediglich der Trost, dass wohl alles recht schnell vorbei ist. Mit dem Wiederaufbau haben wir ja Erfahrung, nicht wahr?

Wider die Schreibtischrevolutionäre und Tastaturkrieger

Wer aber ist dabei, den Frieden und die völkerübergreifende Solidarität – erneut – zu verraten?

Erneut sind hierbei die Sozialdemokraten an vorderster Front anzutreffen, wenn auch nur „im übertragenen Sinne”. Dabei sind Olaf Scholz und Konsorten übrigens nicht nur in „bester” gegenwärtiger Gesellschaft der Kriegstreiber in Gelb (FDP) und Grün.

Angesicht dessen, was aktuell im Bundestag geschieht, sei dieser Beitrag mit einigen Worten Max Webers beschlossen, die dieser anlässlich des Mannheimer SPD-Parteitages im Jahr 1906 tätigte. Dieser Parteikongress ist insofern für das Verständnis des 1. Weltkriegs und der darauf folgenden Ereignisse bedeutsam, da die SPD offiziell der sozioökonomischen Revolution abschwor und sich in das Gefüge des „bürgerlich-repräsentativen Parlamentarismus” einfügte; was ohne diesen Richtungsentscheid im Juli 1914 geschehen wäre, steht zwar in den Sternen, aber Webers Worte sind m.E. in jedem Fall als „zeitlos” zu bezeichnen (meine Hervorhebungen) [9]:

„Ich hätte gern unsere deutschen Fürsten auf dem Mannheimer Parteitage oben auf die Tribüne führen und ihnen zeigen mögen, wie unten die Versammlung sich ausnahm. Ich hatte den Eindruck, daß die russischen Sozialisten, die dort als Zuschauer saßen, die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen beim Anblick dieser Partei, die sie für ˏrevolutionär´ in ihrem ernsthaft gemeinten Sinne hielten, die sie anbeteten als die gewaltigste Kulturerrungenschaft Deutschlands und als die Trägerin einer ungeheuren revolutionären Zukunft der ganzen Welt – und in welcher nun das behäbige Gastwirtsgesicht, die kleinbürgerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend hervortrat: von revolutionärem Enthusiasmus keine Rede, und ein lahmes, phrasenhaft nörgelndes und klagendes Debattieren und Raisonnieren an Stelle jener katilinarischen Energie des Glaubens, die sie von ihren Versammlungen gewöhnt waren.”

Es ist nie verfehlt, für Frieden und Völkerverständigung einzutreten. Dies – und die „Lehren des 20. Jahrhunderts” – sei der von Olaf Scholz geführten deutschen (!) Bundesregierung in Erinnerung gerufen.

Quellen:

[1] Twitter, am 27.1.2023, <https://twitter.com/george_orwell3/status/1619059777950351360>
[2] Deutscher Bundestag, „Plenarprotokoll 20/81“, am 25.1.2023, <https://dserver.bundestag.de/btp/20/20081.pdf>
[3] Vorwärts, Walter Mühlhausen, „„Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ – woher kommt der Ruf?, am 28.12.2021, <https://www.vorwaerts.de/artikel/hat-uns-verraten-sozialdemokraten-kommt-ruf>
[4] Nachdenkseiten, Winfried Wolf, „Serie zur Novemberrevolution – Teil 1“, am 1.12.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=47551>
[5] Nachdenkseiten, Winfried Wolf, „Serie zur Novemberrevolution – Teil 2“, am 4.12.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=47597>
[6] Nachdenkseiten, Winfriede Wolf, „Serie zur Novemberrevolution ­– Teil 3“, am 7.12.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=47668>
[7] Wikipedia, „Friedrich Ebert“,<https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Ebert#Novemberrevolution>
[8] Wikipedia, „Burgfriedenspolitik“, <https://de.wikipedia.org/wiki/Burgfriedenspolitik
[9] zit.n. dessen „Diskussionsrede bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Magdeburg 1907 über Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte”, in Marianne Weber (Hg.), Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1988, S. 407-412, hier S. 410

Burgfrieden 2023:

SPD für Aufrüstung und Wehrpflicht

In der Bundestagsdebatte am 25. Januar 2023 leistete sich Olaf Scholz eine Reihe blamabler Dreistigkeiten, an deren Spitze wohl die Abwertung der „Halbierung der Bundeswehr und die Abschaffung der Wehrpflicht” stehen. Dabei untergegangen sind u.a. das „Bekenntnis” des Olaf Scholz, „dass Deutschland eine Führungsrolle übernehmen…und die stärkste Armee in Europa stellen soll”. Wie Mark Twain so schön sagte, die Geschichte wiederhole sich nicht, aber die Ereignisse reimen sich.

Von Published On: 11. April 2023Kategorien: Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 30.01.2023 auf www.tkp.at unter der URL <https://tkp.at/2023/01/30/burgfrieden-2023-spd-fuer-aufruestung-und-wehrpflicht/> veröffentlicht. Lizenz: Prof. Dr. Stephan Sander-Faes

(Timo Klostermeier, CC-BY 2.0)

Hier erst einmal ein Tweet von „George Orwell 3”, der die erwähnte Aussage zeigt: [1]

Olaf Scholz bezeichnete die Abschaffung der Wehrpflicht als Fehler. (Twitter)

Die eingangs und in Folge zitierten Aussagen können Sie im Plenarprotokoll des Deutschen Bundestags aus der 81. Sitzung der 20. Legislaturperiode nachlesen [2].

„Wer hat uns verraten –
Sozialdemokraten”

Der erwähnte Spruch ist in etwa so alt wie dessen Ursache und grauenvollen Folgen: entstanden im Kontext des 1. Weltkriegs (1914-18/19) und der darauf folgenden Verwerfungen um die deutsche Novemberrevolution (1918/19), die Weimarer Republik (1919-33), das nationalsozialistische „Tausendjährige Reich” (1933-45) und die damit verbundenen Gräueltaten.

Angesichts der immer wiederkehrenden Aufschreie über die Ausrichtung der SPD ist auch diese Formulierung dieser Tage erneut unter Beschuss – und zwar, wenig überraschend, vonseiten der Parteigänger von Olaf Scholz. So rückte Walter Mühlhausen den Kampfspruch erst 2021 – passender Weise im SPD-Blatt Vorwärts – in einen ehrenrührigen Kontext. „Schon im Kaiserreich, von rechten Antidemokrat*innen” sei dieser „auch bei linken Demonstrationen” oftmals eingesetzte Kampfbegriff entstanden [3]:

„Der Verratsvorwurf kam im 1871 aus der Taufe gehobenen Deutschen Kaiserreich nicht von links, sondern eher schon von rechts, ja bis weit hinein aus der bürgerlichen Mitte: Sozialdemokrat*innen galten über die schändlichen Sozialistengesetze (1878–1890) hinaus als pestverdächtige Brunnenvergifter*innen des deutschen Wesens, als vaterlandslose Gesell*innen, gar als ˏLandesverräter´. Unter diesen Anschuldigungen wurden Arbeiter*innen auf die Straße gesetzt, Sozialdemokrat*innen des Ortes verwiesen oder ins Gefängnis gesteckt.”

Wir lernen: obwohl die Arbeiterbewegung bis 1890 weitgehend unterdrückt wurde und der Vorwurf des Verrats „eher schon von rechts” kam, betraf dieser kaum die SPD.

Noch abenteuerlicher ist jedoch der konkrete Hinweis von Mühlhausen – nomen est omen – auf die unmittelbaren Folgen des verlorenen 1. Weltkriegs:

„Die antidemokratische Rechte sah im November 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, durch Revolution und Republikgründung nun das bestätigt, was sie seit den Anfangstagen des Kaiserreichs glauben wollte: Die verräterische Sozialdemokratie wurde verantwortlich gemacht für die Kriegsniederlage und den daraus resultierenden schmachvollen Versailler Vertrag. Die unselige Dolchstoßlüge wurde zum probaten Transporteur dieses Irrglaubens: Der von den Sozialdemokrat*innen angezettelte Verrat in der Heimat habe dem tapferen Soldaten das Weiterkämpfen unmöglich gemacht, schließlich das Reich um den sicher geglaubten Sieg gebracht.”

Wie weit diese Interpretation von der Realität entfernt ist, zeigt übrigens Winfried Wolf in einer dreiteiligen, quellen- und verweisgesättigten „Serie über die Novemberrevolution” auf. Erschienen in den „Nachdenkseiten” sei Ihnen diese in jedem Fall ans Herz gelegt, wenn Sie an einer faktenbasierten Darstellung der von Mühlhausen verzerrten Geschichte interessiert sind: Teil 1 [4], Teil 2 [5], Teil 3 [6].

Kurz gefasst („sogar” Wikipedia ist hierbei übrigens korrekter als Mühlhausen und der „Vorwärts” [7]): die neue SPD-geführte Reichsregierung unter Friedrich Ebert verband sich mit der Obersten Heeresleitung unter General Wilhelm Groener, um just die soziale Transformation zu verhindern, nach der die Arbeiterbewegung vorgeblich strebte.

Offizielle Erklärung des Kriegszustandes an die Bevölkerung von Berlin “Unter den Linden” am 31. Juli 1914 nachmittags 5 Uhr durch Leutnant von Viebahn, belgeitet von einer Abteilung Soldaten des Alexander-Garde-Grenadier-Regiments (wikipedia, gemeinfrei)

Burgfrieden 1914

Unerwähnt in Mühlhausens revisionistischem Beitrag verbleibt dabei just die unglaubliche rasche „Konversion” der SPD in der Julikrise 1914, die im sogenannten „Burgfrieden” mündete [8]. Dieser bezeichnete die Zustimmung der bis anhin in Opposition befindlichen SPD zu der Kriegspolitik Wilhelms II., als ursächlich am Ausbruch des 1. Weltkriegs beteiligt – und leistete den vielfachen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts Vorschub.

Am 25. Juli 1914 noch hieß es etwa im „Vorwärts”:

„Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!”

Eine Woche später, am 31. Juli 1914, hieß es ebenda:

„Noch immer ausgehend von der Überzeugung, man führe einen Verteidigungskrieg gegen die Aggression Russlands, hieß es am 31. Juli im Vorwärts: ˏWenn die verhängnisvolle Stunde schlägt, werden die vaterlandslosen Gesellen ihre Pflicht erfüllen und sich darin von den Patrioten in keiner Weise übertreffen lassen´.“

Ein Schelm, wer ob dieser Auslassung Mühlhausens im „Vorwärts” Böses denkt.

Burgfrieden 2023

Sowohl das bereits aufgelegte „Sondervermögen” von 100 Mrd. Euro für die Aufrüstung Deutschlands als auch die eingangs ausgewiesenen Aussagen von Bundeskanzler Scholz legen nahe, dass die SPD dieser Tage erneut Teil eines Burgfriedens ist. Diesmal übrigens unter Führung der Sozialdemokratie (sic), die sich – wie auch die Grünen – in bester Tradition zu der von Schröder und Fischer in den 1990er Jahren mitgetragenen Aggression gegen Jugoslawien somit vollends von der Antikriegslinie der Linken verabschiedet haben.

Dazu Olaf Scholz am 25. Januar 2023 im Bundestag:

„Das Errichtungsgesetz macht die klare Vorgabe, dass wir im Mittel der Jahre 2 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgeben sollen. Und ich sage: Ich bekenne mich dazu…Mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen haben wir die Grundlage dafür geschaffen, diesen Pfadwechsel auch zu organisieren, und zwar, ohne uns von lauten Rufen rechts und links davon abbringen zu lassen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.”

Wer profitiert davon? Erneut Scholz (meine Hervorhebungen):

„Was wir jetzt brauchen, sind konkrete Entscheidungen für konkrete Systeme. Einige sind schon getroffen, etwa für die F-35, was die nukleare Teilhabe betrifft, und für die Transporthubschrauber. Andere sind unmittelbar bevorstehend. Es sind dann immer sehr langfristige Verträge über eine Produktion, deren Aufbau manchmal Jahre dauert, und über Munitions- und Ersatzteillieferungen. Und wir müssen alle in den letzten Jahrzehnten Praxis gewordenen Fehler beseitigen, die die Verteidigungsminister der CDU/CSU gemacht haben.”

Was Herr Scholz hier anführt ist die bevorstehende Anschaffung schwerer Waffen, aller Voraussicht nach zugunsten der US-Rüstungskonglomerate. Deutschland – und der Rest Europas – zahlt die Zeche, allfällige Investitionen fallen in den USA an. Kann man dies noch „Investition” nennen oder handelt es sich hierbei um Tributzahlungen?

Der Seitenhieb auf die CDU/CSU-Verteidigungsminister unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (2005-21) empörte zwar die Unionsparteien, stellt aber angesichts der (mutmaßlichen) Verfehlungen von u.a. Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin und ihrer erwiesenen Inkompetenz als deutsche Verteidigungsministerin (2013-19) den Sachverhalt korrekt, wenn auch ausgesprochen knapp dar.

Deutschland: Entwicklung des Verteidigungshaushalts (Soll-Etat) von 2017 bis 2022
und Sondervermögen der Bundeswehr zum Vergleich (in Milliarden Euro), (Statista)

Die Geister, die Olaf Scholz rief

Besonders skurril aber wurde es einen Moment später. So zählte Scholz just die Fehler der Vorgängerregierungen – der er übrigens als Finanzminister angehörte – auf (meine Hervorhebungen):

„Dazu zählen ja nicht nur die Halbierung der Bundeswehr und die Abschaffung der Wehrpflicht; sondern dazu zählt auch das größte Sparprogramm für die Bundeswehr, das jemals stattgefunden hat, unter der Verantwortung von konservativen Politikern. Es gehört selbstverständlich dazu, dass wir all diese Fehler korrigieren: keine langfristigen Verträge, keine Ersatzteile in ausreichender Vorrätigkeit, keine laufende Produktion, keine ausreichende Munition, die ständig nachproduziert wird.

Während die ersten Zeilen klarer Revisionismus sind, so zeigen die letzten Zeilen, wie arg es um die Kampfbereitschaft der Bundeswehr bestellt ist. Zum Glück, muss man da schon fast anfügen, denn man will sich nicht ausmalen, wie katastrophal ein SPD-geführter Krieg gegen Russland aussehen würde.

Allem Anschein nach ist es kaum besser um die übrigen europäischen NATO- und EU-Staaten bzw. deren Militärwesen bestellt. Zum Glück, denn außer massiven Verlusten und katastrophalen Opferzahlen ist unter diesen Voraussetzungen nichts zu holen, von einem raschen und totalen Sieg über Russland ganz zu schweigen. Es steht vielmehr zu fragen, ob Deutschland – oder die „hirntote” (Emmanuel Macron) NATO – überhaupt zu mehr in der Lage wäre, denn als US-Anhängsel auf Gedeih und Verderb Kanonenfutter zu mimen.

Falls es zu einer weiteren Eskalation – etwa der Lieferung von Kampfjets, U-Booten oder NATO-Bodentruppen – kommen sollte, bleibt uns lediglich der Trost, dass wohl alles recht schnell vorbei ist. Mit dem Wiederaufbau haben wir ja Erfahrung, nicht wahr?

Wider die Schreibtischrevolutionäre und Tastaturkrieger

Wer aber ist dabei, den Frieden und die völkerübergreifende Solidarität – erneut – zu verraten?

Erneut sind hierbei die Sozialdemokraten an vorderster Front anzutreffen, wenn auch nur „im übertragenen Sinne”. Dabei sind Olaf Scholz und Konsorten übrigens nicht nur in „bester” gegenwärtiger Gesellschaft der Kriegstreiber in Gelb (FDP) und Grün.

Angesicht dessen, was aktuell im Bundestag geschieht, sei dieser Beitrag mit einigen Worten Max Webers beschlossen, die dieser anlässlich des Mannheimer SPD-Parteitages im Jahr 1906 tätigte. Dieser Parteikongress ist insofern für das Verständnis des 1. Weltkriegs und der darauf folgenden Ereignisse bedeutsam, da die SPD offiziell der sozioökonomischen Revolution abschwor und sich in das Gefüge des „bürgerlich-repräsentativen Parlamentarismus” einfügte; was ohne diesen Richtungsentscheid im Juli 1914 geschehen wäre, steht zwar in den Sternen, aber Webers Worte sind m.E. in jedem Fall als „zeitlos” zu bezeichnen (meine Hervorhebungen) [9]:

„Ich hätte gern unsere deutschen Fürsten auf dem Mannheimer Parteitage oben auf die Tribüne führen und ihnen zeigen mögen, wie unten die Versammlung sich ausnahm. Ich hatte den Eindruck, daß die russischen Sozialisten, die dort als Zuschauer saßen, die Hände über dem Kopfe zusammenschlugen beim Anblick dieser Partei, die sie für ˏrevolutionär´ in ihrem ernsthaft gemeinten Sinne hielten, die sie anbeteten als die gewaltigste Kulturerrungenschaft Deutschlands und als die Trägerin einer ungeheuren revolutionären Zukunft der ganzen Welt – und in welcher nun das behäbige Gastwirtsgesicht, die kleinbürgerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend hervortrat: von revolutionärem Enthusiasmus keine Rede, und ein lahmes, phrasenhaft nörgelndes und klagendes Debattieren und Raisonnieren an Stelle jener katilinarischen Energie des Glaubens, die sie von ihren Versammlungen gewöhnt waren.”

Es ist nie verfehlt, für Frieden und Völkerverständigung einzutreten. Dies – und die „Lehren des 20. Jahrhunderts” – sei der von Olaf Scholz geführten deutschen (!) Bundesregierung in Erinnerung gerufen.

Quellen:

[1] Twitter, am 27.1.2023, <https://twitter.com/george_orwell3/status/1619059777950351360>
[2] Deutscher Bundestag, „Plenarprotokoll 20/81“, am 25.1.2023, <https://dserver.bundestag.de/btp/20/20081.pdf>
[3] Vorwärts, Walter Mühlhausen, „„Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“ – woher kommt der Ruf?, am 28.12.2021, <https://www.vorwaerts.de/artikel/hat-uns-verraten-sozialdemokraten-kommt-ruf>
[4] Nachdenkseiten, Winfried Wolf, „Serie zur Novemberrevolution – Teil 1“, am 1.12.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=47551>
[5] Nachdenkseiten, Winfried Wolf, „Serie zur Novemberrevolution – Teil 2“, am 4.12.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=47597>
[6] Nachdenkseiten, Winfriede Wolf, „Serie zur Novemberrevolution ­– Teil 3“, am 7.12.2018, <https://www.nachdenkseiten.de/?p=47668>
[7] Wikipedia, „Friedrich Ebert“,<https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Ebert#Novemberrevolution>
[8] Wikipedia, „Burgfriedenspolitik“, <https://de.wikipedia.org/wiki/Burgfriedenspolitik
[9] zit.n. dessen „Diskussionsrede bei den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Magdeburg 1907 über Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte”, in Marianne Weber (Hg.), Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1988, S. 407-412, hier S. 410