Wettrüsten im Informationskrieg
Noch während der Weimarer Republik hatte das Reichsgericht den pazifistischen Publizisten und Herausgeber der Zeitschrift „Die Weltbühne“, Carl von Ossietzky, zu anderthalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: wegen des Verrats militärischer Geheimnisse. Das war 1931. Die Weltbühne hatte den heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe, der nach dem Versailler Vertrag völkerrechtlich strikt untersagt war, enthüllt. Der justizielle Angriff auf die Pressefreiheit, der spektakuläre politische Weltbühne-Prozeß und die anschließende Verurteilung der Militärkritiker erregten deshalb auch großes Aufsehen im In- und Ausland. von Dr. Rolf Gössner
Carl von Ossietzky war ein couragierter Publizist, der einem Luftfahrtexperten – heute würde man wohl sagen: einem Whistleblower – dazu verhalf, seine Erkenntnisse über die Luftwaffe in der Weltbühne öffentlich darzulegen.
Autor war der Flugzeugkonstrukteur und Pazifist Walter Kreiser (unter Pseudonym: Heinz Jäger), der deshalb zusammen mit Ossietzky wegen Geheimnisverrats vor dem Reichsgericht angeklagt worden war und 1931 ebenfalls verurteilt wurde, sich allerdings der weiteren Strafverfolgung durch Flucht entziehen konnte.
Heute bewegt sich ein anderer Whistleblower in dieser Tradition und muss harte existentielle Konsequenzen ertragen: der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden. Er enthüllte 2013 unter hohem persönlichen Risiko über seine journalistischen UnterstützerInnen wie Glenn Greenwald und Laura Poitras eine bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher Überwachung, die Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft und unser aller Leben, Bewusstsein und Verhalten beeinflusst. Snowden spricht von der „größten verdachtsunabhängigen Überwachung in der Geschichte der Menschheit“. Diese digitale Durchleuchtung ganzer Gesellschaften stellt alle Menschen, die auf irgendeine Art elektronisch kommunizieren, unter Generalverdacht, unterhöhlt die Unschuldsvermutung, führt zu massenhafter Verletzung von Privatsphäre und Kommunikationsfreiheit, und stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie insgesamt in Frage. Im Zuge der Snowden-Enthüllungen stellte sich heraus, dass nicht allein US- und britische Geheimdienste in den globalen Massenüberwachungsskandal involviert sind, sondern dass auch bundesdeutsche Geheimdienste – BND, Verfassungsschutz und MAD – aufs engste in diesem menschenrechtswidrigen Geheimverbund verflochten sind. Sie profitieren von überlieferten Daten und übermitteln selbst Millionen von Telekommunikationsdaten aus Deutschland.
Sie teilen Instrumente und Datenbanken
Snowden spricht bildhaft davon, daß deutsche und US-Geheimdienste „miteinander ins Bett gehen“ – eine wahrlich grauenhafte Vorstellung: Sie tauschen nicht nur massenhaft Informationen, sondern teilen auch Instrumente, gemeinsame Datenbanken, Spähprogramme sowie Infrastrukturen. Oder, wie der ehemalige NSA-Mitarbeiter Thomas Drake es ausdrückt: Der Bundesnachrichtendienst habe sich zum „Wurmfortsatz“ der NSA entwickelt.
Diese eher abschätzige Bewertung will der BND wohl nicht länger auf sich sitzen lassen: Denn mittlerweile gibt es Pläne, nach denen er sich vom großen Bruder NSA emanzipieren soll, um – bleiben wir im Bild – künftig nicht nur als dessen Wurmfortsatz, sondern endlich auf „Augenhöhe“ agieren zu können:
Der deutsche Auslandsgeheimdienst, der mit seiner Auslandsaufklärung nach Auffassung renommierter Verfassungsrechtler schon lange verfassungswidrig agiert, soll umfassend aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher werden – also aus der Krise noch gestärkt hervorgehen: so etwa mit der Lizenz zur anlaßlosen systematischen Ausforschung sozialer Netzwerke im Internet. Verfechter dieser verdachtsunabhängigen Massenüberwachung behaupten, nur mit solchen Methoden könne man Terroranschläge verhindern, Proliferation und organisierte Kriminalität bekämpfen, was auch schon passiert sein soll – eine Behauptung, die jedoch, schon aus Geheimhaltungsgründen, nie wirklich überprüfbar war.
Mit gravierenden Folgen
Belegbar hingegen ist, dass schon die massenhafte Metadatenauswertung des Telekommunikationsverkehrs nach gewissen Verdachtskriterien zu Bewegungs-, Persönlichkeitsbildern und Verhaltensprofilen führen kann – mit gravierenden Folgen für Betroffene: Am Ende kann etwa eine verweigerte Einreise in die USA stehen, wie im Fall des Schriftstellers Ilija Trojanow, der die US-Überwachungsorgie scharf kritisiert hatte, oder aber im Extremfall US-Drohnenbeschuß auf „Terrorverdächtige“, wie etwa 2013 im Jemen, bei dem 17 Mitglieder eines Hochzeitskonvois ums Leben kamen. Dazwischen ist manche Unannehmlichkeit, Schikane oder Tortur denkbar (s. Ossietzky 9/14).
Deutschland ist längst integraler Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur und des US-“Krieges gegen den Terror“; und dafür liefert der BND auch Daten, um etwa tödliche US-Drohnenangriffe auf Terrorverdächtige zu ermöglichen, wie NSA-Insider Thomas Drake bestätigt. Von Deutschland aus organisier(t)en die USA völkerrechtswidrige Kriegseinsätze, Entführungsflüge, Folter und Hinrichtungen von Terrorverdächtigen. Es gibt aber auch viele unspektakuläre Beispiele für die üblen Folgen des Überwachungswahns: So forschten Geheimagenten deutscher und alliierter Dienste über die BND-Tarnbehörde „Hauptstelle für Befragungswesen“ bis Mitte 2014 jährlich hunderte Flüchtlinge über ihre Heimatländer aus – ein Missbrauch schutzsuchender Menschen für staatliche Zwecke.
Was steckt eigentlich hinter diesem Massenüberwachungssystem, wozu der ganze immense Aufwand? Das Szenario von Digitalspionage, Massenüberwachung und militärischen Interventionen deutet darauf hin, das wir uns in einem globalen Informationskrieg der Geheimdienste befinden.
Dabei geht es um Krisenverhütung und -bewältigung sowie um Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung überall auf der Welt. Oder aus einem anderen, nationalen Blickwinkel betrachtet: Es geht um präventive Vormacht- und Herrschaftssicherung, um wirtschaftliche Einflusszonen und geostrategische Interessen in Zeiten verschärfter ökonomischer Krisen, sozialer Spannungen, drohender Rohstoffknappheit und wachsender Flüchtlingsströme. Schließlich gilt es, den Staat oder Staatengemeinschaften nicht nur vor Terror und Gewalt zu schützen, sondern auch gegen soziale Unruhen und militante Aufstände, gegen Ressourcenmangel oder unkontrollierte Wanderungsbewegungen vorsorglich zu wappnen – Aufstandsbekämpfung und militärische Interventionen inbegriffen.
Das globale Massenüberwachungssystem ist also ein geheimes, demokratisch kaum kontrollierbares Hightech-Präventionsinstrument zur Sicherheitsvorsorge, zur Vormacht- und Herrschaftssicherung. Es gedeiht im Schatten des demokratischen Rechtsstaats, bedroht politisch-soziale Bewegungen, Millionen von Menschen und deren Bürger- und Freiheitsrechte. Es wittert in jedem Menschen, jedem kritischen Gedanken und abweichenden Verhalten eine potentielle Bedrohung, die es zu überwachen gilt.
Doch Menschen oder Personengruppen, die unter ständiger Überwachung stehen, sind niemals frei.
Überwachte Menschen sind in ihrem Kommunikationsverhalten, ihrer privaten Lebensgestaltung betroffen. Sie sind kontrollierbar, werden auf subtile Weise berechenbar, steuerbar, beherrschbar. Schon wer sich nur überwacht und beobachtet fühlt, verändert sein Verhalten, wird unsicher, entwickelt Ängste, passt sich an – Wirkungen, die eine offene, freie, demokratische Gesellschaft schädigen, wie das Bundesverfassungsgericht bereits vor über dreißig Jahren in seinem berühmten Volkszählungsurteil festgestellt hat.
Deutschland gilt als das am stärksten überwachte Land der EU und war es, unter anderen technischen Bedingungen, bereits in Zeiten des Kalten Krieges – ein veritabler Überwachungsstaat, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth feststellt.
Doch sämtliche Bundesregierungen haben es bis heute sträflich, ja vorsätzlich unterlassen, die Bürger und von Wirtschaftsspionage betroffene Betriebe vor Überwachungsattacken zu schützen – obwohl es zu ihren verfassungsrechtlichen Kernaufgaben gehört, diesen Schutz zu gewährleisten.
Angesichts der regierungsamtlichen Lethargie und Komplizenschaft nach Snowdens einmaligen Enthüllungen hat die „Internationale Liga für Menschenrechte“ zusammen mit dem „ChaosComputerClub“ und „Digitalcourage“ beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienst-Verantwortliche erstattet. Warum?
Erstens wegen massiver Verstrickung deutscher Geheimdienste in das globale Massenüberwachungssystem, zweitens wegen millionenfacher Verletzung der Privatsphäre und drittens wegen sträflich unterlassener Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Es war der Versuch, die gesellschaftliche Duldungsstarre, die wir allenthalben spürten, zu durchbrechen und die politisch und strafrechtlich Mitverantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Und siehe da: Dieser Akt der Notwehr und Nothilfe wirkte tatsächlich wie eine Art Ventil, das plötzlich geöffnet wird: Tausende haben sich gemeldet und unterstützen die Strafanzeige.
Strafermittlungsverfahren eingeleitet
Bekanntlich hat der oberste bundesdeutsche Ankläger inzwischen ein offizielles Strafermittlungsverfahren eingeleitet – aber nur wegen des unfreundlichen Spionageangriffs auf das Handy der Kanzlerin. Eine politisch motivierte Kompromissentscheidung, die an der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zweifeln läßt. Denn auf ein Ermittlungsverfahren wegen der ungleich schwerer wiegenden massenhaften Ausspähung der ganzen Bevölkerung verzichtet der Generalbundesanwalt – kurioserweise mangels „zureichender Tatsachen“.
Trotz der Fülle an Belastungsbeweisen und -zeugen immer noch einen Anfangsverdacht zu negieren ist Ausdruck von Realitätsverleugnung und Willfährigkeit – jedenfalls hart an der Grenze zur Strafvereitelung im Amt und passend zur regierungsamtlich organisierten Verantwortungslosigkeit. Doch wir werden nicht lockerlassen. Einstweilen halten wir diese Rechtsschutzverweigerung für eine Kapitulation des Rechtsstaats vor staatlichem Unrecht.
Die demokratisch kaum kontrollierbaren Geheimdienste können sich so jeder Verantwortung entziehen, können munter weitermachen wie bisher – ja, werden auch noch weiter aufgerüstet. Was wir gerade erleben ist eben kein Insichgehen, kein Innehalten angesichts eines unglaublichen Riesenskandals – im Gegenteil: Anstatt endlich die Menschen vor geheimdienstlicher Ausforschung zu schützen, werden wir Zeugen eines fatalen Wettrüstens im globalen Informationskrieg der Geheimdienste.
Transparenz, Kontrolle und Grenzen
Angesichts solcher Bedrohungen brauchen wir dringend eine gesellschaftspolitische Debatte über Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie; eine Debatte über Existenzberechtigung und Legitimation geheimer, kaum kontrollierbarer Institutionen. Wobei die einzig funktionierende demokratische Kontrolle in der vollständigen Auflösung demokratiewidriger Geheimdienste besteht – einstweilen in der rückhaltlosen Offenlegung ihrer Geheimnisse und Machenschaften. Und gerade hier haben Edward Snowden, Chelsea Manning, andere Whistleblower und ihre Unterstützer_innen (so Julian Assange, Glenn Greenwald, Laura Poitras) sensationelle Pionierarbeit geleistet und enormen Mut bewiesen.
Das Whistleblowertum hat im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt eine geradezu existentielle Bedeutung gewonnen und muss endlich menschen- und völkerrechtlich wirksam geschützt werden.
Lasst uns für eine Kultur des Whistleblowing streiten – und hier wiederhole ich gerne mein Postulat vom 30. August während der Kundgebung „Freiheit statt Angst“ am Brandenburger Tor:
Was wir dringend brauchen: einen Snowden im BND und im „Verfassungsschutz“! Und jede Menge Zivilcourage.
Dieses Land braucht zudem eine neue, eine starke Bürgerrechtsbewegung und widerständige Menschen, die die demokratischen Lehren aus Krieg und Faschismus der Verdrängung entreißen, die der Nachkriegsmaxime, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen soll, wieder volle Geltung verschaffen, die Bürger- und Menschenrechte, auch für das digitale Zeitalter, neu erkämpfen, die sich staatlicher Überwachung und Kontrolle sowie jeder Kriegshetze und -rechtfertigung widersetzen.
Wettrüsten im Informationskrieg
Noch während der Weimarer Republik hatte das Reichsgericht den pazifistischen Publizisten und Herausgeber der Zeitschrift „Die Weltbühne“, Carl von Ossietzky, zu anderthalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: wegen des Verrats militärischer Geheimnisse. Das war 1931. Die Weltbühne hatte den heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe, der nach dem Versailler Vertrag völkerrechtlich strikt untersagt war, enthüllt. Der justizielle Angriff auf die Pressefreiheit, der spektakuläre politische Weltbühne-Prozeß und die anschließende Verurteilung der Militärkritiker erregten deshalb auch großes Aufsehen im In- und Ausland. von Dr. Rolf Gössner
Carl von Ossietzky war ein couragierter Publizist, der einem Luftfahrtexperten – heute würde man wohl sagen: einem Whistleblower – dazu verhalf, seine Erkenntnisse über die Luftwaffe in der Weltbühne öffentlich darzulegen.
Autor war der Flugzeugkonstrukteur und Pazifist Walter Kreiser (unter Pseudonym: Heinz Jäger), der deshalb zusammen mit Ossietzky wegen Geheimnisverrats vor dem Reichsgericht angeklagt worden war und 1931 ebenfalls verurteilt wurde, sich allerdings der weiteren Strafverfolgung durch Flucht entziehen konnte.
Heute bewegt sich ein anderer Whistleblower in dieser Tradition und muss harte existentielle Konsequenzen ertragen: der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden. Er enthüllte 2013 unter hohem persönlichen Risiko über seine journalistischen UnterstützerInnen wie Glenn Greenwald und Laura Poitras eine bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher Überwachung, die Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft und unser aller Leben, Bewusstsein und Verhalten beeinflusst. Snowden spricht von der „größten verdachtsunabhängigen Überwachung in der Geschichte der Menschheit“. Diese digitale Durchleuchtung ganzer Gesellschaften stellt alle Menschen, die auf irgendeine Art elektronisch kommunizieren, unter Generalverdacht, unterhöhlt die Unschuldsvermutung, führt zu massenhafter Verletzung von Privatsphäre und Kommunikationsfreiheit, und stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie insgesamt in Frage. Im Zuge der Snowden-Enthüllungen stellte sich heraus, dass nicht allein US- und britische Geheimdienste in den globalen Massenüberwachungsskandal involviert sind, sondern dass auch bundesdeutsche Geheimdienste – BND, Verfassungsschutz und MAD – aufs engste in diesem menschenrechtswidrigen Geheimverbund verflochten sind. Sie profitieren von überlieferten Daten und übermitteln selbst Millionen von Telekommunikationsdaten aus Deutschland.
Sie teilen Instrumente und Datenbanken
Snowden spricht bildhaft davon, daß deutsche und US-Geheimdienste „miteinander ins Bett gehen“ – eine wahrlich grauenhafte Vorstellung: Sie tauschen nicht nur massenhaft Informationen, sondern teilen auch Instrumente, gemeinsame Datenbanken, Spähprogramme sowie Infrastrukturen. Oder, wie der ehemalige NSA-Mitarbeiter Thomas Drake es ausdrückt: Der Bundesnachrichtendienst habe sich zum „Wurmfortsatz“ der NSA entwickelt.
Diese eher abschätzige Bewertung will der BND wohl nicht länger auf sich sitzen lassen: Denn mittlerweile gibt es Pläne, nach denen er sich vom großen Bruder NSA emanzipieren soll, um – bleiben wir im Bild – künftig nicht nur als dessen Wurmfortsatz, sondern endlich auf „Augenhöhe“ agieren zu können:
Der deutsche Auslandsgeheimdienst, der mit seiner Auslandsaufklärung nach Auffassung renommierter Verfassungsrechtler schon lange verfassungswidrig agiert, soll umfassend aufgerüstet und massenüberwachungstauglicher werden – also aus der Krise noch gestärkt hervorgehen: so etwa mit der Lizenz zur anlaßlosen systematischen Ausforschung sozialer Netzwerke im Internet. Verfechter dieser verdachtsunabhängigen Massenüberwachung behaupten, nur mit solchen Methoden könne man Terroranschläge verhindern, Proliferation und organisierte Kriminalität bekämpfen, was auch schon passiert sein soll – eine Behauptung, die jedoch, schon aus Geheimhaltungsgründen, nie wirklich überprüfbar war.
Mit gravierenden Folgen
Belegbar hingegen ist, dass schon die massenhafte Metadatenauswertung des Telekommunikationsverkehrs nach gewissen Verdachtskriterien zu Bewegungs-, Persönlichkeitsbildern und Verhaltensprofilen führen kann – mit gravierenden Folgen für Betroffene: Am Ende kann etwa eine verweigerte Einreise in die USA stehen, wie im Fall des Schriftstellers Ilija Trojanow, der die US-Überwachungsorgie scharf kritisiert hatte, oder aber im Extremfall US-Drohnenbeschuß auf „Terrorverdächtige“, wie etwa 2013 im Jemen, bei dem 17 Mitglieder eines Hochzeitskonvois ums Leben kamen. Dazwischen ist manche Unannehmlichkeit, Schikane oder Tortur denkbar (s. Ossietzky 9/14).
Deutschland ist längst integraler Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur und des US-“Krieges gegen den Terror“; und dafür liefert der BND auch Daten, um etwa tödliche US-Drohnenangriffe auf Terrorverdächtige zu ermöglichen, wie NSA-Insider Thomas Drake bestätigt. Von Deutschland aus organisier(t)en die USA völkerrechtswidrige Kriegseinsätze, Entführungsflüge, Folter und Hinrichtungen von Terrorverdächtigen. Es gibt aber auch viele unspektakuläre Beispiele für die üblen Folgen des Überwachungswahns: So forschten Geheimagenten deutscher und alliierter Dienste über die BND-Tarnbehörde „Hauptstelle für Befragungswesen“ bis Mitte 2014 jährlich hunderte Flüchtlinge über ihre Heimatländer aus – ein Missbrauch schutzsuchender Menschen für staatliche Zwecke.
Was steckt eigentlich hinter diesem Massenüberwachungssystem, wozu der ganze immense Aufwand? Das Szenario von Digitalspionage, Massenüberwachung und militärischen Interventionen deutet darauf hin, das wir uns in einem globalen Informationskrieg der Geheimdienste befinden.
Dabei geht es um Krisenverhütung und -bewältigung sowie um Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung überall auf der Welt. Oder aus einem anderen, nationalen Blickwinkel betrachtet: Es geht um präventive Vormacht- und Herrschaftssicherung, um wirtschaftliche Einflusszonen und geostrategische Interessen in Zeiten verschärfter ökonomischer Krisen, sozialer Spannungen, drohender Rohstoffknappheit und wachsender Flüchtlingsströme. Schließlich gilt es, den Staat oder Staatengemeinschaften nicht nur vor Terror und Gewalt zu schützen, sondern auch gegen soziale Unruhen und militante Aufstände, gegen Ressourcenmangel oder unkontrollierte Wanderungsbewegungen vorsorglich zu wappnen – Aufstandsbekämpfung und militärische Interventionen inbegriffen.
Das globale Massenüberwachungssystem ist also ein geheimes, demokratisch kaum kontrollierbares Hightech-Präventionsinstrument zur Sicherheitsvorsorge, zur Vormacht- und Herrschaftssicherung. Es gedeiht im Schatten des demokratischen Rechtsstaats, bedroht politisch-soziale Bewegungen, Millionen von Menschen und deren Bürger- und Freiheitsrechte. Es wittert in jedem Menschen, jedem kritischen Gedanken und abweichenden Verhalten eine potentielle Bedrohung, die es zu überwachen gilt.
Doch Menschen oder Personengruppen, die unter ständiger Überwachung stehen, sind niemals frei.
Überwachte Menschen sind in ihrem Kommunikationsverhalten, ihrer privaten Lebensgestaltung betroffen. Sie sind kontrollierbar, werden auf subtile Weise berechenbar, steuerbar, beherrschbar. Schon wer sich nur überwacht und beobachtet fühlt, verändert sein Verhalten, wird unsicher, entwickelt Ängste, passt sich an – Wirkungen, die eine offene, freie, demokratische Gesellschaft schädigen, wie das Bundesverfassungsgericht bereits vor über dreißig Jahren in seinem berühmten Volkszählungsurteil festgestellt hat.
Deutschland gilt als das am stärksten überwachte Land der EU und war es, unter anderen technischen Bedingungen, bereits in Zeiten des Kalten Krieges – ein veritabler Überwachungsstaat, wie der Freiburger Historiker Josef Foschepoth feststellt.
Doch sämtliche Bundesregierungen haben es bis heute sträflich, ja vorsätzlich unterlassen, die Bürger und von Wirtschaftsspionage betroffene Betriebe vor Überwachungsattacken zu schützen – obwohl es zu ihren verfassungsrechtlichen Kernaufgaben gehört, diesen Schutz zu gewährleisten.
Angesichts der regierungsamtlichen Lethargie und Komplizenschaft nach Snowdens einmaligen Enthüllungen hat die „Internationale Liga für Menschenrechte“ zusammen mit dem „ChaosComputerClub“ und „Digitalcourage“ beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienst-Verantwortliche erstattet. Warum?
Erstens wegen massiver Verstrickung deutscher Geheimdienste in das globale Massenüberwachungssystem, zweitens wegen millionenfacher Verletzung der Privatsphäre und drittens wegen sträflich unterlassener Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Es war der Versuch, die gesellschaftliche Duldungsstarre, die wir allenthalben spürten, zu durchbrechen und die politisch und strafrechtlich Mitverantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Und siehe da: Dieser Akt der Notwehr und Nothilfe wirkte tatsächlich wie eine Art Ventil, das plötzlich geöffnet wird: Tausende haben sich gemeldet und unterstützen die Strafanzeige.
Strafermittlungsverfahren eingeleitet
Bekanntlich hat der oberste bundesdeutsche Ankläger inzwischen ein offizielles Strafermittlungsverfahren eingeleitet – aber nur wegen des unfreundlichen Spionageangriffs auf das Handy der Kanzlerin. Eine politisch motivierte Kompromissentscheidung, die an der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zweifeln läßt. Denn auf ein Ermittlungsverfahren wegen der ungleich schwerer wiegenden massenhaften Ausspähung der ganzen Bevölkerung verzichtet der Generalbundesanwalt – kurioserweise mangels „zureichender Tatsachen“.
Trotz der Fülle an Belastungsbeweisen und -zeugen immer noch einen Anfangsverdacht zu negieren ist Ausdruck von Realitätsverleugnung und Willfährigkeit – jedenfalls hart an der Grenze zur Strafvereitelung im Amt und passend zur regierungsamtlich organisierten Verantwortungslosigkeit. Doch wir werden nicht lockerlassen. Einstweilen halten wir diese Rechtsschutzverweigerung für eine Kapitulation des Rechtsstaats vor staatlichem Unrecht.
Die demokratisch kaum kontrollierbaren Geheimdienste können sich so jeder Verantwortung entziehen, können munter weitermachen wie bisher – ja, werden auch noch weiter aufgerüstet. Was wir gerade erleben ist eben kein Insichgehen, kein Innehalten angesichts eines unglaublichen Riesenskandals – im Gegenteil: Anstatt endlich die Menschen vor geheimdienstlicher Ausforschung zu schützen, werden wir Zeugen eines fatalen Wettrüstens im globalen Informationskrieg der Geheimdienste.
Transparenz, Kontrolle und Grenzen
Angesichts solcher Bedrohungen brauchen wir dringend eine gesellschaftspolitische Debatte über Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie; eine Debatte über Existenzberechtigung und Legitimation geheimer, kaum kontrollierbarer Institutionen. Wobei die einzig funktionierende demokratische Kontrolle in der vollständigen Auflösung demokratiewidriger Geheimdienste besteht – einstweilen in der rückhaltlosen Offenlegung ihrer Geheimnisse und Machenschaften. Und gerade hier haben Edward Snowden, Chelsea Manning, andere Whistleblower und ihre Unterstützer_innen (so Julian Assange, Glenn Greenwald, Laura Poitras) sensationelle Pionierarbeit geleistet und enormen Mut bewiesen.
Das Whistleblowertum hat im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt eine geradezu existentielle Bedeutung gewonnen und muss endlich menschen- und völkerrechtlich wirksam geschützt werden.
Lasst uns für eine Kultur des Whistleblowing streiten – und hier wiederhole ich gerne mein Postulat vom 30. August während der Kundgebung „Freiheit statt Angst“ am Brandenburger Tor:
Was wir dringend brauchen: einen Snowden im BND und im „Verfassungsschutz“! Und jede Menge Zivilcourage.
Dieses Land braucht zudem eine neue, eine starke Bürgerrechtsbewegung und widerständige Menschen, die die demokratischen Lehren aus Krieg und Faschismus der Verdrängung entreißen, die der Nachkriegsmaxime, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen soll, wieder volle Geltung verschaffen, die Bürger- und Menschenrechte, auch für das digitale Zeitalter, neu erkämpfen, die sich staatlicher Überwachung und Kontrolle sowie jeder Kriegshetze und -rechtfertigung widersetzen.