Lukratives Desaster

Von Werner Rügemer , veröffentlicht am: 26. September 2018, Kategorien:

Der Staat sollte entbürokratisiert und damit „schlanker“ werden, die öffentlichen Aufgaben sollten schneller, besser, billiger erledigt werden: Das war das Versprechen, das von den Kohl-Regierungen mit den beiden christlich lackierten Parteien und der FDP begonnen, den Schröder- und Merkel-Regierungen fortgesetzt wurde und wird. Aber was wurde aus diesem populistischen Gebräu? Daraus wurde das Gegenteil, nämlich eine intransparente, diesmal privat beherrschte Bürokratie, mit Regierungs-Statisten. Und die Aufgaben werden langsamer, schlechter und teurer erledigt – ein Desaster für Staat und Bürger. Aber für private Konzerne und private Groß- und Dauerberater erweist sich das Desaster als lukrative Selbstbereicherungs-Maschine.

Beschränken wir uns auf den aktuellen Bereich der Autobahnen. Betrachten wir zunächst das deutsche Großprojekt Toll Collect.

Toll-Collect-Vertrag nach dem Muster von Public Private Partnership

Das Projekt Toll Collect (zu deutsch: Maut-Erhebung) steht an vorderster Stelle für den Staats-Konzern-Berater-Komplex. Im September 2002, zwei Tage vor der Bundestagswahl, schloss die Schröder-Regierung mit dem Toll-Collect-Konsortium aus DaimlerChrysler, Deutsche Telekom und Cofiroute den Vertrag über die Erhebung der LkW-Maut auf den deutschen Autobahnen. Der Start sollte am 31.8.2003 sein.

Beraten ließ sich die Bundesregierung vor allem von der Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft ,,Price Waterhouse Coopers (PWC). Den 17.000-Seiten-Vertrag ließ sie von der Kanzlei Freshfields aushandeln.

PWC und Freshfields, zwei global player, die selbst extrem gewinnorientierte private Unternehmen sind, agieren seit Jahrzehnten als Berater und Lobbyisten für Großkonzerne und Großinvestoren. Der harmlos-neutrale Begriff „Wirtschaftsprüfung“ bedeutet für PWC: Wie entsteht ein möglichst hoher Gewinn für die private Seite? Freshfields bringt dies dann nach dem Vorbild des US-amerikanischen Wirtschaftsrechts in die hochprofessionell verklausulierte, möglichst umfangreiche juristische Form. Je länger der Vertrag, desto höher das Honorar.

Zum US-Wirtschaftsrecht gehören die absolute Geheimhaltung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse (Kredite, Gewinnsicherung, Patente, Steuern, Haftung). Sie unterfallen den sanktionsbewehrten „Non Disclosure Agreements“. Kein einziger Bundestagsabgeordneter hat je den rechtsgültigen und vollständigen Vertrag einsehen dürfen. Wir können begründet annehmen, dass die „verantwortlichen“ SPD-Verkehrsminister Kurt Bodewig, Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee und ebenso dann die CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und jetzt Andreas Scheuer den Vertrag auch nie gelesen haben.

Welcher Minister kann 17.000 Seiten eines wirtschaftsenglisch geprägten Vertragstextes, den man auch zwischen den Zeilen lesen können muss, verstehen – falls er überhaupt die Zeit hätte, das zu lesen? Man verließ und verlässt sich mit blindem Vertrauen auf diejenigen, die das Metier am besten kennen: Die Berater.

Der Toll-Collect-Vertrag wurde nach dem Muster von Public Private Partnership (PPP, zu deutsch ÖPP) gestaltet. Entwickelt worden war es von niemand anderem als den Beratern von PWC in der City of London (einige Banken wie die United Bank of Switzerland waren auch dabei), zunächst für die Privatisierungs-Fundis Margaret Thatcher und Tony Blair. Über die Achse Schröder-Blair wurde das Muster nach Deutschland importiert (und dann in der Europäischen Kommission übernommen und seitdem in der EU gefördert).

Bei PPP übernimmt die private Seite als Generalunternehmer praktisch alle Aufgaben des Bauens und Errichtens und vor allem des langfristigen Betriebs. Die Standardlaufzeit ist 30 Jahre. Bei Toll Collect waren es untypische 12 Jahre. Als zusätzlicher Vorteil wird versprochen: Das Personal im öffentlichen Dienst kann weitgehend abgebaut werden. Das wenige verbleibende Personal braucht nicht weiterqualifiziert zu werden: Wir haben ja den Generalunternehmer und die Berater, die uns weiter beraten.

Geheimhaltung in kriminogener rechtlicher Grauzone

Die Zweifelhaftigkeit der Geheimhaltung wird durch die Umstände der Vertragsunterzeichnung unterstrichen. In einer Nacht- und Nebelaktion musste der Präsident des Bundesamtes für Güterverkehr am 19. September 2002 den Transport der 17.000 Seiten in die Schweizer Finanzoase Zug organisieren. Dort wurde der Vertrag vor einem Notar unterschrieben. Begründung: in der Schweiz gehe es schneller und unbürokratischer; die Notare dort seien nicht verpflichtet, die Verträge auf die Verträglichkeit mit anderen Rechtsgebieten und nationalen wie internationalen Gesetzen zu prüfen; deshalb könne man sogar sparen, denn die Gebühren seien viel niedriger.

Am nächsten Tag prosteten in Berlin Verkehrsminister Bodewig, Toll Collect-Chef Klaus Mangold und Telekom-Vorstand Josef Brauner in die Fernsehkameras und simulierten den erfolgreichen Vertragsabschluss. Der hatte aber gar nicht stattgefunden, denn er war sogar für Schweizer Verhältnisse zu hastig gewesen. Der Vertrag musste noch zweimal in die Schweiz transportiert und dort unterzeichnet werden, diesmal in Basel.[1]

Arrangiert wurde die Prozedur von der Kanzlei Freshfields. Die Unterzeichnung in der Schweiz lässt folgende Schlussfolgerungen zu: Die Toll-Collect-Tochter-GmbH des privaten Konsortiums hat ihren Firmensitz in der Finanzoase. Gründe dafür können u.a. sein: Steuerumgehung, Mehrfachbilanzierung, nach deutschem Recht unzulässige Nebenverträge.

Mit dieser Art der Privatisierung begaben sich Verkehrsminister, Bundesregierung und Staat in eine kriminogene rechtliche Grauzone – gewiss auf hohem professionellen Niveau. Freshfields war übrigens auch rechtlicher Berater für die dubiosen Cross-Border-Leasing-Scheinverkäufe und für Cum-Ex-Steuermanipulationen: Staats-Beratung und Staats-Schädigung sind für diese Art Berater kein prinzipieller Gegensatz.

Wie der Wettbewerb ausgeschaltet wurde

In den Monaten vor dem Start des Projekts wurde bekannt: Das Betreiber-Konsortium konnte die vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten. Der Start des Mautsystems wurde ständig verschoben. Dem Bundeshaushalt entgingen die schon eingeplanten Milliardeneinnahmen. Die Öffentlichkeit war empört. Bundeskanzler Schröder, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, ließ wegen der anstehenden Landtagswahl in Hamburg am 19.2.2004 den Vertrag kündigen.

Doch danach nahm er die Kündigung zurück. Die Haftungs- und Entschädigungsklauseln waren für den Staat so ungünstig, dass ein endloser juristischer Streit gefolgt wäre. Eine Neuausschreibung hätte etwa drei Jahre gedauert.
Außerdem hätte die Bundesregierung sich selbst kündigen müssen – der Bund war (und ist) Hauptaktionär des Konsorten Telekom. Hilmar Kopper, Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, war zugleich Schröders Beauftragter für das Anwerben ausländischer Investoren („Entflechtung der Deutschland AG“) – und auch noch Chef des Aufsichtsrats des Konsorten DaimlerChrysler, des größten LkW-Herstellers.

Der Haushaltsausschuss des Bundestages verlangte einstimmig, den Vertrag zu sehen. Minister Stolpe sagte zu. Mangold lehnte ab. Die Abgeordneten bekamen eine von Freshfields verfasste, etwa auf ein Hundertstel eingedünnte Zusammenfassung mit 190 Seiten, unter Beachtung der Geheimhaltungsklauseln.[2]

Bereits die Auftragsvergabe von 1999 geriet zur Farce. Es bewarben sich drei Anbieter: die Schweizer Fela Management AG, die Arbeitsgemeinschaft Mautsystem (AGES) und die Bietergemeinschaft Electronic Toll Collect Deutschland. Zunächst schloss das Verkehrsministerium die Fela AG aus, obwohl diese das bei weitem kostengünstigste Angebot abgegeben und das Schweizer Mautsystem erfolgreich installiert hatte. Danach wurde auch AGES aus dem Verfahren ausgeschlossen. Das Bundeskartellamt wies die Widersprüche ab.

Das private Schiedsgericht

Was viele kritische Bürger kürzlich erst bei den Freihandelsverträgen wie TTIP, TISA und CETA erfahren haben – das Agieren einer privaten Paralleljustiz – das gibt es in Deutschland und in der EU auch bei den PPP-Verträgen schon längst, hundertfach.

Auch die Schröder-Regierung und das Toll-Collect-Konsortium hatten sich unter der Regie von PWC und Freshfields darauf geeinigt: Wenn es zum Streit kommt, gehen wir nicht vor ein öffentliches, staatliches Gericht, sondern vor ein privates Schiedsgericht. Ein solches wird erst im Streitfall gebildet: Jede Seite benennt einen Vertreter, und beide Seiten müssen sich auf einen „neutralen“ Vorsitzenden einigen.

Der Streitfall trat ein. Das Maut-System funktionierte nicht. Die Ausfälle für den Bundeshaushalt 2003 betrugen etwa 1,3 Mrd Euro, im Jahr 2004 summierten sie sich auf 3,2 Mrd. Euro. 2004 ließ Verkehrsminister Stolpe eine Klage gegen die Toll Collect GmbH auf Schadenersatz und Konventionalstrafe erstellen.

Auch die privaten Schiedsgerichte wurden als unbürokratisch und effektiv gerühmt. Auch hier war und ist das Ergebnis gegenteilig: Von 2004 bis etwa 2012 konnte die Klage der Bundesregierung gar nicht zugestellt werden: Es gab kein Schiedsgericht. Es kam gar nicht zustande oder tagte nicht, weil beide Seiten sich nicht auf den neutralen Dritten einigen konnten, weil das Konsortium sowieso jede Schuld und Zahlung von sich wies und jeden Vergleich ablehnte, auch könne man das den Aktionären nicht zumuten. Außerdem verklagte das Konsortium seit 2006 seinerseits die Bundesregierung, weil die wegen der Nichterfüllung des Vertrags einige Zahlungen zurückhielt. Die Rechtsanwälte beider Seiten hatten damit schon einiges zu tun und konnten Millionen-Honorare kassieren, ohne dass etwas passierte. Zuletzt, 2017, betrug die Forderung der Regierung gegen das Konsortium 9,5 Mrd. Euro inklusive Zinsen, die Forderung der Konsorten gegen die Regierung betrug 5 Mrd. Euro.

Der „Vergleich“

Ab etwa 2014 wurde vor dem Schiedsgericht verhandelt. Das war eigentlich zu spät, denn 2015 lief der Vertrag aus, eine Neuausschreibung dieser Größenordnung dauert mindestens zwei Jahre. Aber man konnte sich nicht einigen. Die Neuausschreibung wurde gezielt vermieden. Alle Parteien hielten populistisch das haushalts- und politikrelevante Thema aus den Wahlkämpfen heraus. Der Vertrag wurde unter Verkehrsminister Dobrindt, beraten von PWC, vertragswidrig und geheim bis 2018 verlängert.

Die Schiedsverhandlungen arteten schließlich zu „Massenaufläufen“ aus: „Zuletzt tagten die Beteiligten im April (2018, WR) für eine Woche im Münchner Nobelhotel Charles. Im Raum waren jeweils mehr als 100 Personen, die meisten davon Anwälte.“[3]

Entsprechend dürftig – für den Staat – ist das Ergebnis: Nach 14 Jahren einigte man sich – zudem dann außerhalb des Schiedsgerichts – unter der Regie von Verkehrsminister Scheuer auf einen „fairen“ Vergleich, vom Minister als „historischer Durchbruch“ gelobt. Nominell zahlt das Konsortium 3,2 Mrd. Euro, aber da wird irgendwas verrechnet – Einzelheiten sind unbekannt, Öffentlichkeit und Abgeordnete kennen auch den Vergleich nicht -, wirklich fließen sollen nur 1,1 Mrd.[4]

Entsprechend lukrativ wie für das Konsortium ist das Ergebnis auch für Freshfields & Co. Von 1999 bis 2003 zum Vertragsbeginn erhielten sie 15,6 Millionen Euro, was zudem gegenüber den anfänglich vereinbarten 8,2 Millionen Euro einer Steigerung von 90 Prozent entspricht.[5] Die gleichzeitig auch vom Konsortium beauftragten Berater und ihre Honorare sind hier nicht eingeschlossen.

Am (bisherigen) Ende hatten die vom Bund beauftragten Kanzleien, darunter Linklaters, Shearman & Sterling und Beiten Burkhardt etwa eine Viertelmilliarde Euro verdient, nämlich 244 Millionen.[6]

Die Toll-Collect-GmbH-Kanzleien Latham & Watkins und Hengeler Müller (Dauer-Hauptmandant: Deutsche Bank) dürften auf einen noch höheren Betrag gekommen sein: Insgesamt betrugen die Anwaltskosten beider Seiten zusammen „mehr als eine halbe Milliarde Euro.“[7]

Nachträglich kam noch heraus: Toll Collect GmbH hat dem Staat vermutlich noch mindestens 298 Millionen Euro fälschlich in Rechnung gestellt. Das ergab die Nachprüfung der Abrechnungen durch die Prüfungsgesellschaft Mazars in bisher nur drei der 15 Toll-Collect-Geschäftsjahre. Die aufgrund einer Razzia eingeleiteten Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wurden eingestellt, auch nachdem sich der Staatssekretär aus dem Verkehrsministerium, Gerhard Schulz, im Vorfeld der Schiedsverhandlungen eingeschaltet hatte. Aber vorsorglich wurden im Vergleich alle „Ansprüche abgegolten“, auch solche „wegen vorsätzlichen Verhaltens.“[8]

Grundgesetz-Änderung und private Autobahn-Gesellschaft

Seit 2007 forcieren die CSU-Verkehrsminister auch den Bau, die Reparatur und den Betrieb von Autobahnabschnitten nach dem PPP-Muster. Bisher sind es 14 Projekte. Sie laufen jeweils 30 Jahre. Am bekanntesten ist der 72-Kilometer-Abschnitt Bremen-Hamburg. Die Betreiber bekommen wie die Toll Collect GmbH einen Teil der Mautgebühren. Die beiden größten deutschen Baukonzerne Hochtief und Bilfinger, der größte französische Baukonzern Vinci sowie der größte niederländische Baukonzern Royal BAM Group haben sich, beraten von PWC und Freshfields, den Großteil der Projekte gesichert. Bundesrechnungshof und Landesrechnungshöfe haben wiederholt auf die Unwirtschaftlichkeit zulasten des Staates hingewiesen.[9]

Das Konsortium A1 mobil GmbH, das die Autobahn A1 Bremen-Hamburg betreibt, dokumentiert die Unwirtschaftlichkeit zulasten des Staates selbst: Es verklagt nach jahrelangen Forderungen schließlich seit 2017 den Bund auf 778 Millionen Euro Nachzahlung für Einnahmeausfälle, Beraterkosten und Inflationsausgleich.[10]

Trotzdem bereiteten seit 2013 die Bundesregierungen, namentlich Finanzminister Schäuble (CDU), die Verkehrsminister Ramsauer und Dobrindt (CSU) sowie Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) die noch weitergehende Privatisierung des Straßennetzes vor.

Gabriel präsentierte 2016 in der von ihm einberufenen Infrastrukturkommission ein Gutachten von PWC. Darin wird die Privatisierung nicht nur der Autobahnen, sondern auch der Bundesfernstraßen empfohlen. Das Finanzierungsmuster PPP soll dafür von Investoren genutzt werden. In einem späteren Gutachten schlug PWC die Erhebung auch der PkW-Maut und die Gründung einer privaten Verkehrsgesellschaft vor.

So änderte 2017 die Regierungsmehrheit der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD das Grundgesetz. Den Bundesländern wurde die Verwaltung der Autobahnen entzogen. Eine private Verkehrsgesellschaft soll künftig die Maut einziehen und außerhalb des Bundestages und des Bundeshaushalts die Autobahnen und Bundesstraßen betreiben. Gleichzeitig verschaffte sich der Bund den direkten Durchgriff auf die Finanzierung der kommunalen Infrastruktur, vor allem der Schulen, mithilfe von PPP. So ist etwa Vinci neben Toll Collect und diversen Autobahnen schon seit Jahren auch in zahlreichen Städten aktiv, so in Köln und Offenbach. Das soll mehr werden.

Italienische Verhältnisse in der EU

Am 14.8.2018 stürzte ein 100 Meter langer Straßenabschnitt der Morandi-Autobahnbrücke bei Genua mit mehreren Autos plötzlich in die Tiefe. Zahlreiche Menschen starben. Die Reparaturbedürftigkeit war zuvor schon verschiedentlich festgestellt worden. Die technisch und verfahrensmäßig beschreibbaren Mängel, Fehler und die Verantwortlichen werden hoffentlich ermittelt.

Doch eines ist klar: Der private Betreiber dieser Autobahn, der Atlantia-Konzern, hatte andere Prioritäten als den höchstmöglichen Sicherheits-Standard. Seit mehr als drei Jahren galt die konzentrierte Aufmerksamkeit von Atlantia und seiner Aktionäre und Berater einer anderen Frage: Atlantia ist der größte Betreiber privater Maut-Autobahnen in Italien. Um noch größer zu werden, wollte er die Mehrheit am größten privaten Autobahn-Betreiber der Erde, dem spanischen Abertis-Konzern, übernehmen. Abertis betreibt Maut-Straßen in 14 Staaten, darunter neben Spanien noch in Italien, Frankreich, Kroatien, Ungarn, Irland, aber auch in Großbritannien, Brasilien und den USA.

Atlantia konzentrierte sein verfügbares Kapital, erreichbare Kredite und seine Berater und bot 16,3 Mrd. Euro für die Mehrheit an Abertis. Gleichzeitig boten für weitere Anteile an Abertis auch der deutsche Autobahnbetreiber Hochtief und der spanische Baukonzern und Autobahnbetreiber ACS. Als Berater waren wie in Deutschland PWC, Freshfields & Co beteiligt. Das Motto von PWC: „Mit Übernahmen den Unternehmens- und Aktienwert steigern.“ 2017 war laut PWC überhaupt ein „Rekordjahr“ für Übernahmen; zu den 18 „Mega-Deals“ zählte für PWC auch die Beratung für Hochtief.[11]

Im März 2018 einigte man sich untereinander und mit den Kartellbehörden: Atlantia bekommt 50 Prozent an Abertis, ACS bekommt 30 und Hochtief 20 Prozent. Die Übernahme war auch möglich geworden, weil mehrere Maut-Autobahnen in Spanien – Vorzeigeprojekte der EU – insolvent gegangen waren. Nur teilweise konnte der überschuldete spanische Staat einspringen.[12] So entstand der weltgrößte private Betreiber von Maut-Autobahnen und -Straßen.

So sind wir mitten drin in der Errichtung eines neuen EU-Kartells für Mautstraßen. Die Berater sind dieselben wie in Deutschland. Und die Betreiber und deren Investoren sind untereinander verfilzt und vielfach auch dieselben wie in Deutschland. ACS ist mit 72 Prozent der Hauptaktionär von Hochtief, und gemeinsam sind diese beiden nun die Haupteigentümer von Abertis. Und der größte Kapitalorganisator der westlichen Wertegemeinschaft, BlackRock, ist gleichzeitiger Miteigentümer von Atlantia, Abertis, Hochtief, Royal BAM Group, Vinci, Bilfinger. Und ebenso sind an diesen Unternehmen auch andere der weltgrößten Investoren beteiligt, so Vanguard, Invesco, Amundi und der so freundlich daherkommende norwegische Staatsfonds Norges. Sie müssen ihre anspruchsvollen, renditegeilen Anleger befriedigen, bei Atlantia auch die Mitglieder des Benetton-Clans.

Unter dem langjährigen Regime der staatlich geförderten Privatisierung erwies sich auch die ausgedünnte italienische Straßen-Aufsichtsbehörde ANAS als unfähig, die Sicherheit zu gewährleisten – wie immer die Verantwortung im Einzelnen aussehen mag oder rekonstruiert werden kann.

Ein Ende des lukrativen Desasters!

Die Autobahn- und Straßen-Privatisierung zeigt in Deutschland und der EU, neben anderen Formen der Privatisierung – Wohnungen, Bahn, Krankenhäuser, Altersheime, Reha-Kliniken, Post, Bundeswehr … – ihr hässliches Gesicht.
Bei den Autobahnen und Straßen wäre der nächstliegende verantwortliche Schritt: Die LkW-Maut darf zum anstehenden Termin 1.3.2019 nicht noch einmal den Organisatoren des lukrativen Desasters übergeben werden! Auf die jetzigen (Un)Verantwortlichen können wir dabei nicht vertrauen.

 

Quellen:

[1] Berliner Toll-Haus, Der Spiegel 10/2004, S. 22 ff.
[2] Toll Collect agiert weiter im Geheimen, Süddeutsche Zeitung 9.10.2003
[3] Nach 14 Jahren: Latham, Hengeler, Beiten und Linklaters beenden Albtraum – Toll Collect
[4] Ein Kartell gegen die Steuerzahler, Die Zeit 9.8.2018
[5] Teure „Fehlentwicklungen“. Rechnungshof prüft die externen Beraterverträge der Bundesregierung, Berliner Morgenpost 3.2.2004
[6] Antwort des Bundesministeriums für Verkehr auf die Berichtsbitte des Abgeordneten Viktor Perli, die Linke, 7.3.2018
[7] Ende eines Schreckens, Handelsblatt 18.5.2018
[8] Ein Kartell gegen die Steuerzahler, Die Zeit 9.8.2018
[9] Autobahnen: Freifahrt in die Pleite, Zeit online 29.8.2017
[10] A1 mobil-Klage: Gericht schlägt Vergleich vor, Süddeutsche Zeitung 18.5.2018
[11] PWC: Mergers & Acquisitions in der Transport- und Logistikbranche, Geschäftsjähr 2017, S. 3f.
[12] Hochtief, ACS und Atlantia einigen sich, Handelsblatt 14.3.2018

 

Dieser Text wurde zuerst am 16.08.2018 auf https://www.nachdenkseiten.de/ unter der URL <https://www.nachdenkseiten.de/?p=45497> veröffentlicht. Lizenz: IQM e.V./Albrecht Müller

Lukratives Desaster

Von Werner Rügemer , veröffentlicht am: 26. September 2018, Kategorien:

Der Staat sollte entbürokratisiert und damit „schlanker“ werden, die öffentlichen Aufgaben sollten schneller, besser, billiger erledigt werden: Das war das Versprechen, das von den Kohl-Regierungen mit den beiden christlich lackierten Parteien und der FDP begonnen, den Schröder- und Merkel-Regierungen fortgesetzt wurde und wird. Aber was wurde aus diesem populistischen Gebräu? Daraus wurde das Gegenteil, nämlich eine intransparente, diesmal privat beherrschte Bürokratie, mit Regierungs-Statisten. Und die Aufgaben werden langsamer, schlechter und teurer erledigt – ein Desaster für Staat und Bürger. Aber für private Konzerne und private Groß- und Dauerberater erweist sich das Desaster als lukrative Selbstbereicherungs-Maschine.

Beschränken wir uns auf den aktuellen Bereich der Autobahnen. Betrachten wir zunächst das deutsche Großprojekt Toll Collect.

Toll-Collect-Vertrag nach dem Muster von Public Private Partnership

Das Projekt Toll Collect (zu deutsch: Maut-Erhebung) steht an vorderster Stelle für den Staats-Konzern-Berater-Komplex. Im September 2002, zwei Tage vor der Bundestagswahl, schloss die Schröder-Regierung mit dem Toll-Collect-Konsortium aus DaimlerChrysler, Deutsche Telekom und Cofiroute den Vertrag über die Erhebung der LkW-Maut auf den deutschen Autobahnen. Der Start sollte am 31.8.2003 sein.

Beraten ließ sich die Bundesregierung vor allem von der Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft ,,Price Waterhouse Coopers (PWC). Den 17.000-Seiten-Vertrag ließ sie von der Kanzlei Freshfields aushandeln.

PWC und Freshfields, zwei global player, die selbst extrem gewinnorientierte private Unternehmen sind, agieren seit Jahrzehnten als Berater und Lobbyisten für Großkonzerne und Großinvestoren. Der harmlos-neutrale Begriff „Wirtschaftsprüfung“ bedeutet für PWC: Wie entsteht ein möglichst hoher Gewinn für die private Seite? Freshfields bringt dies dann nach dem Vorbild des US-amerikanischen Wirtschaftsrechts in die hochprofessionell verklausulierte, möglichst umfangreiche juristische Form. Je länger der Vertrag, desto höher das Honorar.

Zum US-Wirtschaftsrecht gehören die absolute Geheimhaltung der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse (Kredite, Gewinnsicherung, Patente, Steuern, Haftung). Sie unterfallen den sanktionsbewehrten „Non Disclosure Agreements“. Kein einziger Bundestagsabgeordneter hat je den rechtsgültigen und vollständigen Vertrag einsehen dürfen. Wir können begründet annehmen, dass die „verantwortlichen“ SPD-Verkehrsminister Kurt Bodewig, Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee und ebenso dann die CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und jetzt Andreas Scheuer den Vertrag auch nie gelesen haben.

Welcher Minister kann 17.000 Seiten eines wirtschaftsenglisch geprägten Vertragstextes, den man auch zwischen den Zeilen lesen können muss, verstehen – falls er überhaupt die Zeit hätte, das zu lesen? Man verließ und verlässt sich mit blindem Vertrauen auf diejenigen, die das Metier am besten kennen: Die Berater.

Der Toll-Collect-Vertrag wurde nach dem Muster von Public Private Partnership (PPP, zu deutsch ÖPP) gestaltet. Entwickelt worden war es von niemand anderem als den Beratern von PWC in der City of London (einige Banken wie die United Bank of Switzerland waren auch dabei), zunächst für die Privatisierungs-Fundis Margaret Thatcher und Tony Blair. Über die Achse Schröder-Blair wurde das Muster nach Deutschland importiert (und dann in der Europäischen Kommission übernommen und seitdem in der EU gefördert).

Bei PPP übernimmt die private Seite als Generalunternehmer praktisch alle Aufgaben des Bauens und Errichtens und vor allem des langfristigen Betriebs. Die Standardlaufzeit ist 30 Jahre. Bei Toll Collect waren es untypische 12 Jahre. Als zusätzlicher Vorteil wird versprochen: Das Personal im öffentlichen Dienst kann weitgehend abgebaut werden. Das wenige verbleibende Personal braucht nicht weiterqualifiziert zu werden: Wir haben ja den Generalunternehmer und die Berater, die uns weiter beraten.

Geheimhaltung in kriminogener rechtlicher Grauzone

Die Zweifelhaftigkeit der Geheimhaltung wird durch die Umstände der Vertragsunterzeichnung unterstrichen. In einer Nacht- und Nebelaktion musste der Präsident des Bundesamtes für Güterverkehr am 19. September 2002 den Transport der 17.000 Seiten in die Schweizer Finanzoase Zug organisieren. Dort wurde der Vertrag vor einem Notar unterschrieben. Begründung: in der Schweiz gehe es schneller und unbürokratischer; die Notare dort seien nicht verpflichtet, die Verträge auf die Verträglichkeit mit anderen Rechtsgebieten und nationalen wie internationalen Gesetzen zu prüfen; deshalb könne man sogar sparen, denn die Gebühren seien viel niedriger.

Am nächsten Tag prosteten in Berlin Verkehrsminister Bodewig, Toll Collect-Chef Klaus Mangold und Telekom-Vorstand Josef Brauner in die Fernsehkameras und simulierten den erfolgreichen Vertragsabschluss. Der hatte aber gar nicht stattgefunden, denn er war sogar für Schweizer Verhältnisse zu hastig gewesen. Der Vertrag musste noch zweimal in die Schweiz transportiert und dort unterzeichnet werden, diesmal in Basel.[1]

Arrangiert wurde die Prozedur von der Kanzlei Freshfields. Die Unterzeichnung in der Schweiz lässt folgende Schlussfolgerungen zu: Die Toll-Collect-Tochter-GmbH des privaten Konsortiums hat ihren Firmensitz in der Finanzoase. Gründe dafür können u.a. sein: Steuerumgehung, Mehrfachbilanzierung, nach deutschem Recht unzulässige Nebenverträge.

Mit dieser Art der Privatisierung begaben sich Verkehrsminister, Bundesregierung und Staat in eine kriminogene rechtliche Grauzone – gewiss auf hohem professionellen Niveau. Freshfields war übrigens auch rechtlicher Berater für die dubiosen Cross-Border-Leasing-Scheinverkäufe und für Cum-Ex-Steuermanipulationen: Staats-Beratung und Staats-Schädigung sind für diese Art Berater kein prinzipieller Gegensatz.

Wie der Wettbewerb ausgeschaltet wurde

In den Monaten vor dem Start des Projekts wurde bekannt: Das Betreiber-Konsortium konnte die vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten. Der Start des Mautsystems wurde ständig verschoben. Dem Bundeshaushalt entgingen die schon eingeplanten Milliardeneinnahmen. Die Öffentlichkeit war empört. Bundeskanzler Schröder, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, ließ wegen der anstehenden Landtagswahl in Hamburg am 19.2.2004 den Vertrag kündigen.

Doch danach nahm er die Kündigung zurück. Die Haftungs- und Entschädigungsklauseln waren für den Staat so ungünstig, dass ein endloser juristischer Streit gefolgt wäre. Eine Neuausschreibung hätte etwa drei Jahre gedauert.
Außerdem hätte die Bundesregierung sich selbst kündigen müssen – der Bund war (und ist) Hauptaktionär des Konsorten Telekom. Hilmar Kopper, Aufsichtsratschef der Deutschen Bank, war zugleich Schröders Beauftragter für das Anwerben ausländischer Investoren („Entflechtung der Deutschland AG“) – und auch noch Chef des Aufsichtsrats des Konsorten DaimlerChrysler, des größten LkW-Herstellers.

Der Haushaltsausschuss des Bundestages verlangte einstimmig, den Vertrag zu sehen. Minister Stolpe sagte zu. Mangold lehnte ab. Die Abgeordneten bekamen eine von Freshfields verfasste, etwa auf ein Hundertstel eingedünnte Zusammenfassung mit 190 Seiten, unter Beachtung der Geheimhaltungsklauseln.[2]

Bereits die Auftragsvergabe von 1999 geriet zur Farce. Es bewarben sich drei Anbieter: die Schweizer Fela Management AG, die Arbeitsgemeinschaft Mautsystem (AGES) und die Bietergemeinschaft Electronic Toll Collect Deutschland. Zunächst schloss das Verkehrsministerium die Fela AG aus, obwohl diese das bei weitem kostengünstigste Angebot abgegeben und das Schweizer Mautsystem erfolgreich installiert hatte. Danach wurde auch AGES aus dem Verfahren ausgeschlossen. Das Bundeskartellamt wies die Widersprüche ab.

Das private Schiedsgericht

Was viele kritische Bürger kürzlich erst bei den Freihandelsverträgen wie TTIP, TISA und CETA erfahren haben – das Agieren einer privaten Paralleljustiz – das gibt es in Deutschland und in der EU auch bei den PPP-Verträgen schon längst, hundertfach.

Auch die Schröder-Regierung und das Toll-Collect-Konsortium hatten sich unter der Regie von PWC und Freshfields darauf geeinigt: Wenn es zum Streit kommt, gehen wir nicht vor ein öffentliches, staatliches Gericht, sondern vor ein privates Schiedsgericht. Ein solches wird erst im Streitfall gebildet: Jede Seite benennt einen Vertreter, und beide Seiten müssen sich auf einen „neutralen“ Vorsitzenden einigen.

Der Streitfall trat ein. Das Maut-System funktionierte nicht. Die Ausfälle für den Bundeshaushalt 2003 betrugen etwa 1,3 Mrd Euro, im Jahr 2004 summierten sie sich auf 3,2 Mrd. Euro. 2004 ließ Verkehrsminister Stolpe eine Klage gegen die Toll Collect GmbH auf Schadenersatz und Konventionalstrafe erstellen.

Auch die privaten Schiedsgerichte wurden als unbürokratisch und effektiv gerühmt. Auch hier war und ist das Ergebnis gegenteilig: Von 2004 bis etwa 2012 konnte die Klage der Bundesregierung gar nicht zugestellt werden: Es gab kein Schiedsgericht. Es kam gar nicht zustande oder tagte nicht, weil beide Seiten sich nicht auf den neutralen Dritten einigen konnten, weil das Konsortium sowieso jede Schuld und Zahlung von sich wies und jeden Vergleich ablehnte, auch könne man das den Aktionären nicht zumuten. Außerdem verklagte das Konsortium seit 2006 seinerseits die Bundesregierung, weil die wegen der Nichterfüllung des Vertrags einige Zahlungen zurückhielt. Die Rechtsanwälte beider Seiten hatten damit schon einiges zu tun und konnten Millionen-Honorare kassieren, ohne dass etwas passierte. Zuletzt, 2017, betrug die Forderung der Regierung gegen das Konsortium 9,5 Mrd. Euro inklusive Zinsen, die Forderung der Konsorten gegen die Regierung betrug 5 Mrd. Euro.

Der „Vergleich“

Ab etwa 2014 wurde vor dem Schiedsgericht verhandelt. Das war eigentlich zu spät, denn 2015 lief der Vertrag aus, eine Neuausschreibung dieser Größenordnung dauert mindestens zwei Jahre. Aber man konnte sich nicht einigen. Die Neuausschreibung wurde gezielt vermieden. Alle Parteien hielten populistisch das haushalts- und politikrelevante Thema aus den Wahlkämpfen heraus. Der Vertrag wurde unter Verkehrsminister Dobrindt, beraten von PWC, vertragswidrig und geheim bis 2018 verlängert.

Die Schiedsverhandlungen arteten schließlich zu „Massenaufläufen“ aus: „Zuletzt tagten die Beteiligten im April (2018, WR) für eine Woche im Münchner Nobelhotel Charles. Im Raum waren jeweils mehr als 100 Personen, die meisten davon Anwälte.“[3]

Entsprechend dürftig – für den Staat – ist das Ergebnis: Nach 14 Jahren einigte man sich – zudem dann außerhalb des Schiedsgerichts – unter der Regie von Verkehrsminister Scheuer auf einen „fairen“ Vergleich, vom Minister als „historischer Durchbruch“ gelobt. Nominell zahlt das Konsortium 3,2 Mrd. Euro, aber da wird irgendwas verrechnet – Einzelheiten sind unbekannt, Öffentlichkeit und Abgeordnete kennen auch den Vergleich nicht -, wirklich fließen sollen nur 1,1 Mrd.[4]

Entsprechend lukrativ wie für das Konsortium ist das Ergebnis auch für Freshfields & Co. Von 1999 bis 2003 zum Vertragsbeginn erhielten sie 15,6 Millionen Euro, was zudem gegenüber den anfänglich vereinbarten 8,2 Millionen Euro einer Steigerung von 90 Prozent entspricht.[5] Die gleichzeitig auch vom Konsortium beauftragten Berater und ihre Honorare sind hier nicht eingeschlossen.

Am (bisherigen) Ende hatten die vom Bund beauftragten Kanzleien, darunter Linklaters, Shearman & Sterling und Beiten Burkhardt etwa eine Viertelmilliarde Euro verdient, nämlich 244 Millionen.[6]

Die Toll-Collect-GmbH-Kanzleien Latham & Watkins und Hengeler Müller (Dauer-Hauptmandant: Deutsche Bank) dürften auf einen noch höheren Betrag gekommen sein: Insgesamt betrugen die Anwaltskosten beider Seiten zusammen „mehr als eine halbe Milliarde Euro.“[7]

Nachträglich kam noch heraus: Toll Collect GmbH hat dem Staat vermutlich noch mindestens 298 Millionen Euro fälschlich in Rechnung gestellt. Das ergab die Nachprüfung der Abrechnungen durch die Prüfungsgesellschaft Mazars in bisher nur drei der 15 Toll-Collect-Geschäftsjahre. Die aufgrund einer Razzia eingeleiteten Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wurden eingestellt, auch nachdem sich der Staatssekretär aus dem Verkehrsministerium, Gerhard Schulz, im Vorfeld der Schiedsverhandlungen eingeschaltet hatte. Aber vorsorglich wurden im Vergleich alle „Ansprüche abgegolten“, auch solche „wegen vorsätzlichen Verhaltens.“[8]

Grundgesetz-Änderung und private Autobahn-Gesellschaft

Seit 2007 forcieren die CSU-Verkehrsminister auch den Bau, die Reparatur und den Betrieb von Autobahnabschnitten nach dem PPP-Muster. Bisher sind es 14 Projekte. Sie laufen jeweils 30 Jahre. Am bekanntesten ist der 72-Kilometer-Abschnitt Bremen-Hamburg. Die Betreiber bekommen wie die Toll Collect GmbH einen Teil der Mautgebühren. Die beiden größten deutschen Baukonzerne Hochtief und Bilfinger, der größte französische Baukonzern Vinci sowie der größte niederländische Baukonzern Royal BAM Group haben sich, beraten von PWC und Freshfields, den Großteil der Projekte gesichert. Bundesrechnungshof und Landesrechnungshöfe haben wiederholt auf die Unwirtschaftlichkeit zulasten des Staates hingewiesen.[9]

Das Konsortium A1 mobil GmbH, das die Autobahn A1 Bremen-Hamburg betreibt, dokumentiert die Unwirtschaftlichkeit zulasten des Staates selbst: Es verklagt nach jahrelangen Forderungen schließlich seit 2017 den Bund auf 778 Millionen Euro Nachzahlung für Einnahmeausfälle, Beraterkosten und Inflationsausgleich.[10]

Trotzdem bereiteten seit 2013 die Bundesregierungen, namentlich Finanzminister Schäuble (CDU), die Verkehrsminister Ramsauer und Dobrindt (CSU) sowie Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) die noch weitergehende Privatisierung des Straßennetzes vor.

Gabriel präsentierte 2016 in der von ihm einberufenen Infrastrukturkommission ein Gutachten von PWC. Darin wird die Privatisierung nicht nur der Autobahnen, sondern auch der Bundesfernstraßen empfohlen. Das Finanzierungsmuster PPP soll dafür von Investoren genutzt werden. In einem späteren Gutachten schlug PWC die Erhebung auch der PkW-Maut und die Gründung einer privaten Verkehrsgesellschaft vor.

So änderte 2017 die Regierungsmehrheit der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD das Grundgesetz. Den Bundesländern wurde die Verwaltung der Autobahnen entzogen. Eine private Verkehrsgesellschaft soll künftig die Maut einziehen und außerhalb des Bundestages und des Bundeshaushalts die Autobahnen und Bundesstraßen betreiben. Gleichzeitig verschaffte sich der Bund den direkten Durchgriff auf die Finanzierung der kommunalen Infrastruktur, vor allem der Schulen, mithilfe von PPP. So ist etwa Vinci neben Toll Collect und diversen Autobahnen schon seit Jahren auch in zahlreichen Städten aktiv, so in Köln und Offenbach. Das soll mehr werden.

Italienische Verhältnisse in der EU

Am 14.8.2018 stürzte ein 100 Meter langer Straßenabschnitt der Morandi-Autobahnbrücke bei Genua mit mehreren Autos plötzlich in die Tiefe. Zahlreiche Menschen starben. Die Reparaturbedürftigkeit war zuvor schon verschiedentlich festgestellt worden. Die technisch und verfahrensmäßig beschreibbaren Mängel, Fehler und die Verantwortlichen werden hoffentlich ermittelt.

Doch eines ist klar: Der private Betreiber dieser Autobahn, der Atlantia-Konzern, hatte andere Prioritäten als den höchstmöglichen Sicherheits-Standard. Seit mehr als drei Jahren galt die konzentrierte Aufmerksamkeit von Atlantia und seiner Aktionäre und Berater einer anderen Frage: Atlantia ist der größte Betreiber privater Maut-Autobahnen in Italien. Um noch größer zu werden, wollte er die Mehrheit am größten privaten Autobahn-Betreiber der Erde, dem spanischen Abertis-Konzern, übernehmen. Abertis betreibt Maut-Straßen in 14 Staaten, darunter neben Spanien noch in Italien, Frankreich, Kroatien, Ungarn, Irland, aber auch in Großbritannien, Brasilien und den USA.

Atlantia konzentrierte sein verfügbares Kapital, erreichbare Kredite und seine Berater und bot 16,3 Mrd. Euro für die Mehrheit an Abertis. Gleichzeitig boten für weitere Anteile an Abertis auch der deutsche Autobahnbetreiber Hochtief und der spanische Baukonzern und Autobahnbetreiber ACS. Als Berater waren wie in Deutschland PWC, Freshfields & Co beteiligt. Das Motto von PWC: „Mit Übernahmen den Unternehmens- und Aktienwert steigern.“ 2017 war laut PWC überhaupt ein „Rekordjahr“ für Übernahmen; zu den 18 „Mega-Deals“ zählte für PWC auch die Beratung für Hochtief.[11]

Im März 2018 einigte man sich untereinander und mit den Kartellbehörden: Atlantia bekommt 50 Prozent an Abertis, ACS bekommt 30 und Hochtief 20 Prozent. Die Übernahme war auch möglich geworden, weil mehrere Maut-Autobahnen in Spanien – Vorzeigeprojekte der EU – insolvent gegangen waren. Nur teilweise konnte der überschuldete spanische Staat einspringen.[12] So entstand der weltgrößte private Betreiber von Maut-Autobahnen und -Straßen.

So sind wir mitten drin in der Errichtung eines neuen EU-Kartells für Mautstraßen. Die Berater sind dieselben wie in Deutschland. Und die Betreiber und deren Investoren sind untereinander verfilzt und vielfach auch dieselben wie in Deutschland. ACS ist mit 72 Prozent der Hauptaktionär von Hochtief, und gemeinsam sind diese beiden nun die Haupteigentümer von Abertis. Und der größte Kapitalorganisator der westlichen Wertegemeinschaft, BlackRock, ist gleichzeitiger Miteigentümer von Atlantia, Abertis, Hochtief, Royal BAM Group, Vinci, Bilfinger. Und ebenso sind an diesen Unternehmen auch andere der weltgrößten Investoren beteiligt, so Vanguard, Invesco, Amundi und der so freundlich daherkommende norwegische Staatsfonds Norges. Sie müssen ihre anspruchsvollen, renditegeilen Anleger befriedigen, bei Atlantia auch die Mitglieder des Benetton-Clans.

Unter dem langjährigen Regime der staatlich geförderten Privatisierung erwies sich auch die ausgedünnte italienische Straßen-Aufsichtsbehörde ANAS als unfähig, die Sicherheit zu gewährleisten – wie immer die Verantwortung im Einzelnen aussehen mag oder rekonstruiert werden kann.

Ein Ende des lukrativen Desasters!

Die Autobahn- und Straßen-Privatisierung zeigt in Deutschland und der EU, neben anderen Formen der Privatisierung – Wohnungen, Bahn, Krankenhäuser, Altersheime, Reha-Kliniken, Post, Bundeswehr … – ihr hässliches Gesicht.
Bei den Autobahnen und Straßen wäre der nächstliegende verantwortliche Schritt: Die LkW-Maut darf zum anstehenden Termin 1.3.2019 nicht noch einmal den Organisatoren des lukrativen Desasters übergeben werden! Auf die jetzigen (Un)Verantwortlichen können wir dabei nicht vertrauen.

 

Quellen:

[1] Berliner Toll-Haus, Der Spiegel 10/2004, S. 22 ff.
[2] Toll Collect agiert weiter im Geheimen, Süddeutsche Zeitung 9.10.2003
[3] Nach 14 Jahren: Latham, Hengeler, Beiten und Linklaters beenden Albtraum – Toll Collect
[4] Ein Kartell gegen die Steuerzahler, Die Zeit 9.8.2018
[5] Teure „Fehlentwicklungen“. Rechnungshof prüft die externen Beraterverträge der Bundesregierung, Berliner Morgenpost 3.2.2004
[6] Antwort des Bundesministeriums für Verkehr auf die Berichtsbitte des Abgeordneten Viktor Perli, die Linke, 7.3.2018
[7] Ende eines Schreckens, Handelsblatt 18.5.2018
[8] Ein Kartell gegen die Steuerzahler, Die Zeit 9.8.2018
[9] Autobahnen: Freifahrt in die Pleite, Zeit online 29.8.2017
[10] A1 mobil-Klage: Gericht schlägt Vergleich vor, Süddeutsche Zeitung 18.5.2018
[11] PWC: Mergers & Acquisitions in der Transport- und Logistikbranche, Geschäftsjähr 2017, S. 3f.
[12] Hochtief, ACS und Atlantia einigen sich, Handelsblatt 14.3.2018

 

Dieser Text wurde zuerst am 16.08.2018 auf https://www.nachdenkseiten.de/ unter der URL <https://www.nachdenkseiten.de/?p=45497> veröffentlicht. Lizenz: IQM e.V./Albrecht Müller