Gegenpol: Der legendäre Investigativjournalist Seymour Hersh hat einen Artikel veröffentlicht, der die US-Regierung stark in Bedrängnis bringen könnte. Laut seinen Quellen hätten die USA die Nord Stream-Pipelines gesprengt. Was halten Sie von seinen Enthüllungen?

Scott Ritter: Ich kenne Seymour Hersh seit mehr als 20 Jahren, fast ein Vierteljahrhundert. Und ich bin stolz, dass dieser Mann mein Freund ist. Das sage ich im Interesse einer vollständigen Offenlegung, denn ich bin keine unparteiische Partei. Ich bin gegenüber Seymour Hersh voreingenommen, aber diese Voreingenommenheit liegt in seiner legendären Karriere als Enthüllungsjournalist begründet. Er hat dem amerikanischen Volk und der Welt einen großen Dienst erwiesen, indem er – wie man sagen muss – unbequeme Wahrheiten aufgedeckt hat. Vom My Lai Massaker bis Abu Ghraib und jetzt Nord Stream. Ganz früh hat Seymour Hersh auch Nachforschungen zu mir angestellt. So haben wir uns kennengelernt. Ich weiß, dass seine Methoden exakt sind. Ich weiß, dass seine Quellen unanfechtbar und seine Faktenprüfung so gründlich ist, wie sie nur sein kann. Ich habe keine tieferen Einblicke in Hershs Story. Er hat mich nicht angerufen und sie auch nicht an mich weitergegeben. Wie jeder andere auch, erfuhr ich davon, als ich darüber las. Ich kann also hier nicht behaupten, dass ich Insiderwissen über die Beschaffung und die Methodik hätte. Wie jeder andere auch muss ich Hersh, seinen Aufzeichnungen, seinen Leistungen und seiner unübertroffenen journalistischen Integrität vertrauen.

(Screenshot: ABC News, Twitter, 7.2.2022)

Lassen Sie mich die Leute, die jetzt zuschauen, an etwas erinnern: Schauen Sie sich um! Schauen Sie sich den Zustand der Mainstrem-Medien heutzutage an. Und fragen Sie sich, warum Seymour Hersh auf Substack veröffentlichen muss, anstatt bei der New York Times oder dem New Yorker zu schreiben. Das sind Institutionen, für die er früher geschrieben hat, die aber jeden Anschein journalistischer Integrität verloren haben. Sie lassen es zu, dass das Streben nach Wahrheit durch politische Zweckmäßigkeit beeinträchtigt wird. Es gibt heutzutage keine wirklichen Journalisten mehr auf der Welt. Es gibt Medienspezialisten, es gibt Propagandisten und Stenographen, die im Wesentlichen das niederschreiben, was ihnen von ihren staatlichen Quellen diktiert wird. Und wenn wir, das Volk, ob es nun das amerikanische Volk, das deutsche oder irgendein anderes auf der Welt, uns einfach auf die Mainstream-Medien verlassen, dann müssen wir verstehen, dass wir das hören, was die Regierung will, das wir hören. Nicht mehr und nicht weniger. Gott sei Dank gibt es Seymour Hersh und seine Fähigkeit, den Unsinn zu durchschauen, die harten Fakten zu finden, sie in einer zusammenhängenden, logischen Weise zusammenzustellen und sie dann zu veröffentlichen, damit wir die Wahrheit erfahren können.

Sie sagten, dass dies ein Problem für das amerikanische Volk, für die amerikanische Regierung darstellen wird? Sicher. Aber was ist mit der deutschen Regierung? Denn Seymour Hersh hat soeben unmissverständlich dargelegt, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika zusammen mit Deutschlands norwegischem Verbündeten verschworen haben, um ein 12 Milliarden Dollar teures Stück kritische Infrastruktur zu zerstören, das für das wirtschaftliche Überleben Deutschlands unerlässlich war. Jeder Deutsche, der jetzt über die hohen Energiepreise jammert, weiß nun, wem er die Schuld geben kann, oder? Den Vereinigten Staaten, Norwegen, eurer (Anm.d.Red.: der deutschen) Regierung. Denn, offen gesagt, wer schweigt, stimmt zu. Und dass die deutsche Regierung angesichts dieses eindeutigen Beweises für das Fehlverhalten ihrer amerikanischen und norwegischen Verbündeten schweigt, bedeutet, dass sie sich am Geschehenen mitschuldig macht. Bist du eine Demokratie, Deutschland? Wirst du deine Staatsbeamten für das, was sie in deinem Namen getan haben, zur Rechenschaft ziehen? Für das, was sie dir angetan haben? Bist du eine Nation der Schafe, die einfach nur dasitzt und blökt, während sie von denen zur Schlachtbank geführt wird? Werdet Ihr jene, von denen ihr geglaubt habt, dass sie euch beschützen, zur Rechenschaft ziehen?

Gegenpol: Laut dem Bericht sei den Planern bewusst gewesen, dass es sich dabei um einen „Kriegsakt“ handeln würde, sollten die Spuren der Sprengung in die USA führen. Ist das möglicherweise der Grund, warum sich Schweden und Deutschland mit den Untersuchungsergebnissen so zurückhalten?

Scott Ritter: Wir sollten eins klarstellen. Es wird nicht nur als Kriegshandlung gewertet, falls Beweise entdeckt werden. Es ist eine Kriegshandlung. Schlicht und einfach. Es gibt kein Wenn und Aber. Die USA und Norwegen haben Deutschland und Europa angegriffen. Es ist eine Kriegshandlung – hätte Russland das getan, hätte Deutschland sich auf Artikel fünf der NATO-Charta berufen können, der Artikel zur kollektiven Verteidigung. Warum tut Deutschland das jetzt nicht? Deutschland, du wurdest angegriffen!

Ja, Deutschland und Schweden kennen die Wahrheit. Zweifellos kennt Dänemark die Wahrheit. Russland kennt die Wahrheit. Alle kennen die Wahrheit. Aber, es ist eine unbequeme Wahrheit. Denn es ist eine Wahrheit, die die Realität der Beziehungen zwischen Deutschland, Europa und den Vereinigten Staaten aufdeckt. Eine Herr-Sklaven-Beziehung, in der die USA der Herr sind und Europa der Sklave – ein Kolonialherr und seine kolonialen Untertanen. Ihr existiert nur zum Vergnügen eures Herrn! Und euer Herr war wütend, weil ihr es gewagt habt, zu sagen: „Wir brauchen billiges russisches Gas, damit die Wirtschaft funktioniert. Wir brauchten billiges russisches Gas, um einen hohen Lebensstandard zu gewährleisten und um sicherzustellen, dass die deutsche Wirtschaft das Power-House Europas ist. Und Europa ein Europa ist, das sich erheben und die Vereinigten Staaten auf der Weltbühne wirtschaftlich herausfordern kann.“

Aber nein, eure Kolonialherren wollten das nicht. Also zerstörten sie dieses 12 Milliarden Dollar teure Stück Infrastruktur und zerstörten damit auch die Zukunft Deutschlands. Ja, es war eine Kriegshandlung. Deutschland hat nur nicht den Mumm, das zu sagen.

Gegenpol: Bis jetzt bezeichnet die US-Regierung den Bericht von Hersh als „falsch und komplette Fiktion“. Wäre Russland andernfalls gezwungen zu reagieren? Und wenn ja, was müsste man jetzt erwarten?

Scott Ritter: Zunächst einmal glaube ich nicht, dass Russland von Seymour Hershs Berichterstattung abhängig ist, um seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass die russischen Geheimdienste vieles von dem kennen, was Seymour Hersh berichtet hat. Hershs Arbeit ist zu unserem Nutzen, dem Nutzen des kollektiven Westens, der unwissenden Masse, die sich von den regierungskontrollierten Mainstream-Medien ansonsten in die Irre führen lässt. Russland ist in der Lage, Informationen auszuwerten und wird seine eigenen Entscheidungen treffen.

Als außenstehender Beobachter würde ich sagen, dass die Dinge für Russland – um ehrlich zu sein – nicht besser hätten laufen können. Ich glaube, es wäre schön gewesen, wenn Russland Deutschland weiterhin mit 55 Milliarden Kubikmeter Gas hätte beliefern können. Das ist eine schöne Einnahmequelle. Obwohl es mit einer Menge Ärger verbunden war. Doch Europa ist als Kollektiv nicht in der Lage, sich dem Diktat seiner amerikanischen Herren zu widersetzen. Und die amerikanischen Herren waren nicht glücklich über diese Beziehung.

Aus russischer Sicht war es also eine schwierige Beziehung. Dank der Vereinigten Staaten hat Russland nun die Gelegenheit, sich aus dieser komplexen, chaotischen Beziehung zu lösen. Russland hat gerade neue Gasleitungen nach China, Indien und Asien eröffnet. Das sind Wirtschaftsbeziehungen, die nicht von den Schwächen und Vorurteilen, den Ungereimtheiten und Launen eines von den Amerikanern dominierten Europas abhängig sind.

Ich glaube also, dass Russland insgeheim dankbar ist, denn der Vorfall hat eine Menge Probleme für Russland gelöst. Und offen gesagt, hat es Russland angesichts der Art der heutigen Beziehungen zwischen Europa und Russland nicht eilig, das Leid der europäischen Bevölkerung zu lindern, vor allem, weil Europa selbst die Ursache des Leids ist. Russland sieht zu, wie sich der europäische Garten in einen Dschungel verwandelt, um es mit den Worten von Herrn Borell zu sagen. Und ich glaube, Russland genießt diesen Übergang.

Gegenpol: Norwegen spielte laut Hersh eine entscheidende Rolle, sowohl in der Planung als auch in der Durchführung dieses Terroranschlags. Wie kann die deutsche Bundesregierung ihren Verbündeten vertrauen, wenn sie mutmaßlich vitale deutsche Interessen buchstäblich in die Luft sprengt?

Scott Ritter: Wie kann Deutschland seinen Verbündeten vertrauen? Deutschland hat keine Verbündeten. Deutschland ist allein. Denn wenn man Verbündete hätte, würden sie sich um einen scharen und einen unterstützen, aber das tun sie nicht. Deutschland ist auf sich allein gestellt, buchstäblich auf sich allein gestellt. Wie kann man Norwegen Vertrauen? Wie kann man den Vereinigten Staaten noch vertrauen? Ich möchte Deutschland daran erinnern, dass Präsident Barack Obama – eine Bastion der Demokratie – der in Deutschland verehrt und gern willkommen geheißen wird, die National Security Agency angewiesen hat, die Kanzlerin auszuspionieren und ihre privaten Telefongespräche abzuhören. Ist es das, was „Freunde“ tun? Ich bitte die Deutschen, an der US-Botschaft in Berlin vorbeizugehen und auf das Dach zu schauen. Dort befindet sich ein container-artiger Aufbau. Was denken Sie, was in diesem Container vor sich geht? Glauben Sie, dass es dort um brüderliche Freundschaft geht? Glauben Sie, dass die Amerikaner, die diesen Container betreiben, das tun, weil sie euch lieben? Sie trauen euch nicht. Sie mögen euch nicht. Sie spionieren euch aus. Und sie nutzen die Informationen, die sie dort sammeln, um die Kontrolle über eure Parlamentarier zu erhalten. Wie viel Prozent eurer Parlamentarier sind bestechlich? Wie viele von ihnen werden von der CIA kontrolliert? Die Antwort lautet: Eine ganze Menge. Verhält sich so ein Verbündeter?

Eure Wirtschaft ist am Boden, und es besteht kaum eine Chance, dass sie sich in den nächsten Jahren nennenswert erholen wird. Die norwegische Wirtschaft hat hingegen einen Aufschwung erfahren, weil Norwegen zur gleichen Zeit, als es sich an der Zerstörung der Nordstream-Pipelines beteiligte, seine eigene Gaspipeline eröffnete, um das billige russische Gas zu beziehen. Ist das die Handlung eines Freundes?

Deutschland hat keine Freunde. Deutschland hat keine Verbündeten. Deutschland ist nicht einmal ein Freund von sich selbst. Deutschland kann nicht für sich selbst eintreten. Deutschland will sich nicht verteidigen. Deutschland ist im Grunde ein erbärmlicher streunender Hund – ein streunender Hund für Europa. Ihr seid kein Teil Europas und Europa will euch nicht. Es braucht euch nicht, mag euch nicht. Es kann euch nicht leiden. Es hat euch getreten. Ihr bekommt die Reste vom Tisch, werdet aber nicht mit am Tisch sitzen – es sei denn, ihr steht auf und fangt an, euch zu behaupten.

Und damit meine ich nicht, dass ihr euch auf die Art und Weise behauptet, die die Arroganz und den Militarismus des Dritten Reiches wiederholt – wie es einige gerade versuchen, um Deutschland Relevanz einzuhauchen. Werdet nicht zu dem, was Ihr versprochen habt, nie wieder zu sein.

Ihr wart keine starke Nation, als Ihr Leopard-Panzer in die Ukraine geschickt habt. Ihr wart eine sehr schwache Nation. Ihr seid eine starke Nation, wenn ihr aufsteht und sagt: „Wir werden das tun, was im besten Interesse Deutschlands ist! Die Wiederherstellung der Nord-Stream-Pipelines ist im besten Interesse Deutschlands, denn der Zugang zu billigem russischen Gas wird unsere Wirtschaft stark und lebensfähig machen und uns zum Wirtschaftsführer in Europa und der Welt machen.“

Das ist etwas, das jeder Deutsche anstreben sollte – aber stattdessen habt ihr euch dafür entschieden, ein erbärmlicher streunender Hund zu sein, der getreten und bespuckt wird und nur Reste zu fressen bekommt. Deine Entscheidung, Deutschland. Aber Norwegen ist nicht dein Freund. Die Vereinigten Staaten sind nicht dein Freund. Keiner in Europa ist dein Freund.