Der Plenarsaal des Sicherheitsrates, 16.11.2023. (Foto: Wikiweeki, Wikimedia Commons, CC-BY-4.0)

Entwurf eines Beitrags zur aktuellen Debatte – Teil 1:

Hat Russland das Völkerrecht gebrochen?

Von Ola Tunander , veröffentlicht am: 18. März 2024, Kategorien: Krieg & Frieden

Dieser Text wurde zuerst am 05.10.2023 auf www.olatunander.substack.com unter der URL <https://olatunander.substack.com/p/did-russia-violate-international> veröffentlicht. Lizenz: © Ola Tunander

1. Einführung

Die UN-Charta wurde schon immer von verschiedenen Parteien im Sinne ihrer eigenen Interessen interpretiert. Im Konflikt mit der ukrainischen Regierung besetzt Russland derzeit knapp ein Fünftel des ukrainischen Territoriums. Während die westliche Welt Russland wegen “Verstoßes gegen das Völkerrecht” scharf verurteilt hat, bleibt festzustellen, dass die Vereinigten Staaten seit 2015 im Konflikt mit der syrischen Regierung bis zu einem Drittel des syrischen Territoriums besetzt haben. Westliche Kritik an der “Verletzung des Völkerrechts” durch die USA gab es nicht. Noch größere Teile palästinensischer Gebiete hat Israel seit 1967 besetzt, aber kein westliches Land hat sich in den Konflikt eingemischt und das palästinensische Volk umfassend militärisch unterstützt. Kein politischer Führer im Westen hat Israels Recht, das Land anderer zu besetzen, ernsthaft in Frage gestellt. Offensichtlich wurde also das Völkerrecht als politisches Instrument für bestimmte Interessen benutzt.

Wenn wir über Russlands Einmarsch in die Ukraine und die Frage diskutieren, ob er gegen das Völkerrecht verstößt, müssen wir uns fragen: Welche Interessen stehen hinter diesem oder jenem Argument? Dabei müssen wir uns sowohl mit dem Völkergewohnheitsrecht als auch mit dem genauen Wortlaut der UN-Charta befassen und deren verschiedene Auslegungen betrachten. Auch müssen wir prüfen, was wir für moralisch akzeptabel halten, was nicht unbedingt mit dem völkerrechtlich Zulässigen übereinstimmt. Und wir können die russischen Argumente nicht einfach beiseite schieben. Wir müssen uns eingehend mit der russischen Perspektive befassen. Ihre Argumente zu ignorieren wäre nur ein Rezept zur Eskalation des Konflikts und den Dritten Weltkrieg. In diesem Artikel werden wir die russische und die westliche Sichtweise auf den Konflikt untersuchen und versuchen herauszufinden, welche Interpretation mehr mit dem Völkerrecht und der UN-Charta übereinstimmt.

Alle Kriege – auch Verteidigungskriege – sind brutal, und Tausende, im Falle der Ukraine Hunderttausende von Menschen werden auf dem Schlachtfeld getötet. Es ist schwierig, eine solche Brutalität zu rechtfertigen, auch wenn diese Aktionen nach der UN-Charta legal sein mögen. Wir müssen sowohl über die Brutalität eines bestimmten Krieges als auch über die Absichten hinter diesem Krieg diskutieren. Benjamin Ferencz, Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, sagte [1]: “Ein Verbrechen gegen den Frieden [ein Angriffskrieg] ist selbst das schlimmste aller Verbrechen”. Es besteht kein Zweifel an der Schwere dieser Verbrechen, aber wer ist dafür verantwortlich? Inwieweit ist eine militärische Intervention streng genommen ein “Angriffsakt”, ein “Friedensbruch”? Inwieweit ist sie eine “Vergeltung” für frühere Verbrechen? Und inwieweit wird eine solche Intervention von einem Akteur eingeleitet, der “in die Enge getrieben” wird? Das Völkerrecht soll diese Schwierigkeiten bewältigen, aber um es klar zu sagen: Rache kann nicht “unser Ziel” sein, wie Ference sagte.

In den Vereinigten Staaten haben sich viele Rechtswissenschaftler für eine “weite” Auslegung des Völkerrechts ausgesprochen.

Einerseits, weil die Vereinigten Staaten als Atommacht eigene “legitime Interessen” haben, die sich von denen kleinerer Staaten unterscheiden. So wollen sie z. B. die Möglichkeit behalten, ihre eigenen strategischen Atomwaffen zu schützen. Zum anderen aber auch, weil die USA ihre wiederholten militärische Drohungen und Invasionen rechtfertigen wollten. Und von diesen kann man kaum sagen, dass sie im Einklang mit der UN-Charta standen.

Hinsichtlich Russlands Einmarsch in der Ukraine bevorzugen die USA jedoch eine “enge” Auslegung, um die russische Legitimität zu untergraben. Russland hingegen hat sich bewusst für die amerikanische Argumentation entschieden, die die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit mehr oder weniger erfolgreich angewendet haben. Während viele Europäer einer “engen” Auslegung des Völkerrechts zuneigen, befürworten ihre politischen Führer vielleicht doch eher die “weitere” Interpretation, sofern es ihnen in den Kram passt. Das gilt natürlich nicht, wenn es um Russland geht. Die neokonservative Elite der USA behaupten dagegen, sie führen einen globalen Kampf, einen “politischen Krieg” gegen Staaten wie Russland und China. Ein solcher Krieg gegen andere wäre streng genommen eine Verletzung von Völkerrecht und UN-Charta. Einen Konsens wird man hier wohl kaum finden. Wir müssen uns also jede militärische Operation einzeln ansehen, um festzustellen, ob sie gegen das Völkerrecht verstößt oder nicht.

Screenshot: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (DGVN), erstellt am 14.2.2024 – 14:46:17 Uhr, https://dgvn.de/un-im-ueberblick/geschichte-der-un)

Das Völkerrecht (UN-Charta Artikel 2; 4) enthält ein absolutes Verbot der Invasion anderer Staaten. Ebenso absolut ist das Verbot, mit Gewaltanwendung zu drohen. In Europa ist das für viele Menschen unproblematisch. Was aber, wenn eine Drohung von Gewaltanwendung so ernst ist, dass der bedrohte Staat keine andere Möglichkeit hat, als zur Selbstverteidigung anzugreifen?

Atomwaffen sind zweifellos eine Bedrohung für die andere Seite. Der Internationale Gerichtshof [2] (IGH) kam zu dem Schluss, dass “die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich gegen das Völkerrecht verstößt”, aber möglicherweise rechtmäßig ist, wenn “das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht” [3]. Dennoch hat sich die nukleare Abschreckung zu einem System von Drohungen entwickelt, das den einzelnen Staaten Sicherheit bieten soll. Diese Drohungen sind grundsätzlich völkerrechtswidrig. Trotzdem kann man versuchen, die unmittelbare Bedrohung für andere dadurch zu verringern, dass man grenznahes Stationieren vermeidet[4].

[Anmerkung der Redaktion: Orig. „Forward Deployments“ darunter versteht man entweder Stationierungen von Truppen, militärischem Gerät, darunter z.B. auch Atomwaffen, nahe der Grenze eines anderen Staates oder auch auf Auslandsbasen, also auf fremdem Territorium].

Solche Stationierungen sind bedrohlich – doch das ist oft auch beabsichtigt. Diese Waffen können sogar als eine “existenzielle Bedrohung” für die andere Seite angesehen werden. Dieser Staat sieht sich dann möglicherweise einer überwältigenden Bedrohung gegenüber und damit vor der Wahl, entweder zuerst – also präventiv – anzugreifen oder auf jede Möglichkeit der Verteidigung zu verzichten.

Die norwegische Politik hinsichtlich seines Grenzbezirks zur Sowjetunion (Finnmark) ab 1949 sowie die norwegische Atomwaffen- und Stützpunktpolitik zeigen, dass sich Norwegen dieser Herausforderung durchaus bewusst war. Die US-Streitkräfte in Nordnorwegen und die US-Stützpunkte in Norwegen würden als direkte Bedrohung für die sowjetischen strategischen Militärstützpunkte auf der Kola-Halbinsel empfunden werden. Im Falle einer Krisensituation würden solche Streitkräfte das Risiko eines russischen Präventivschlags auf Norwegen (um den Amerikanern zuvorzukommen) erhöhen. In der Vergangenheit haben die nordischen Länder dieses Problem sehr ernst genommen. Sie haben eine “neutrale” Pufferzone oder “Zone niedriger Spannung” zwischen Ost und West eingerichtet. Ab 2022 haben Finnland und Schweden jedoch beschlossen, ihre Neutralität aufzugeben, und Norwegen hat nach einem Parlamentsbeschluss im Juni 2022 vier US-Stützpunkte in Norwegen akzeptiert: drei Luftwaffen- und einen Marinestützpunkt. Damit haben diese Länder ihre traditionelle Entspannungspolitik aufgegeben. Das ist ein radikaler Bruch mit der nordischen Politik seit dem Kalten Krieg.

Am 17. Dezember 2021 hatte Russland ähnliche “nordische” Beschränkungen für seine Nachbarn im Westen vorgeschlagen: Neutralität für die Ukraine, einige “norwegische” Beschränkungen für Atomwaffen sowie die ausländischen Stützpunkte in Polen und andere mitteleuropäische Staaten [5]. Aber Norwegens ehemaliger Ministerpräsident und jetziger NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollte die Angelegenheit nicht einmal diskutieren. Professor Jeffrey Sachs von der Columbia University wandte sich an das Weiße Haus und sagte: “Es wird Krieg geben, wenn die USA keine diplomatischen Gespräche mit Präsident Putin über diese Frage der NATO-Erweiterung aufnehmen.

Mir wurde gesagt, die USA werden das niemals tun. Das sei vom Tisch. Und […] jetzt haben wir einen Krieg, der außerordentlich gefährlich ist.” “Die Vereinigten Staaten lehnten jegliche Diplomatie ab”. [6] Das ist eine “bemerkenswerte Hybris”, sagte Sachs [7]. Die Sicherheit eines Staates könne nicht auf Kosten der Sicherheit anderer hergestellt werden. Jens Stoltenberg erklärte dagegen, dass es jedem Land freistehe, der NATO beizutreten und darüber zu entscheiden, welche Waffen diese Länder auf ihrem Territorium wollen.

Mit anderen Worten: Wir sprechen von zwei sehr unterschiedlichen Auffassungen über europäische Sicherheit. Und darum geht es im Wesentlichen im aktuellen Krieg in der Ukraine.

Screenshot: The Conversation, erstellt am 14.2.2024 – 15:45:10 Uhr, https://theconversation.com/ukraine-crisis-putin-recognizes-breakaway-regions-biden-orders-limited-sanctions-5-essential-reads-177508)

Werfen wir zunächst einen Blick auf die ersten Zeilen der UN-Charta [8]. Kapitel 1 (Artikel 1) beginnt mit:

„Die Ziele der Vereinten Nationen sind: (1) den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck: wirksame kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen oder andere Friedensbrüche zu unterdrücken und mit friedlichen Mitteln und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts eine Regelung oder Beilegung internationaler Streitigkeiten oder Situationen herbeizuführen, die zu einem Friedensbruch führen könnten; (2) freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln, die auf der Achtung des Grundsatzes der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker beruhen, und andere geeignete Maßnahmen zur Stärkung des Weltfriedens zu ergreifen; [… Artikel 2. Die Vereinten Nationen] handeln in Übereinstimmung mit den folgenden Grundsätzen. […] (4) Alle Mitglieder enthalten sich in ihren internationalen Beziehungen der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates”.

Die UN-Charta spricht von der Wahrung des “Weltfriedens”, der “Beseitigung von Bedrohungen des Friedens”, von “Friedensbrüchen” und der “Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen”. Jede Nation soll sich sowohl der “Androhung” von Gewalt als auch der “Anwendung von Gewalt” gegen die andere Nation enthalten, aber jede Nation hat auch das Recht auf “individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs […], bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat” (Art. 51). Die UN-Charta ist hier allgemein formuliert, und man kann dies unterschiedlich interpretieren. Aber die Sprache der Charta betont die Bedeutung der “Erhaltung des Friedens” und “freundschaftlicher Beziehungen”, nicht das Recht, die Stabilität eines Rivalen zu untergraben. In der UN-Charta geht es nicht nur darum, die Souveränität eines jeden Staates zu schützen, sondern auch darum, von Drohungen und Handlungen abzusehen, die andere Staaten bedrohen. Aber auch [die Besonderheiten] moderner Waffensysteme, insbesondere von Atomwaffen, müssen berücksichtigt werden. Auf absehbare Zeit müssen wir die Rolle der nuklearen Abschreckung als Bedrohung anderer Staaten und damit als Verstoß gegen die UN-Charta akzeptieren, aber wir können die unmittelbare Bedrohung und die Auswirkungen solcher Verstöße verringern, indem wir vorgerückte und damit provokative Stationierungen vermeiden.

2. Was waren die russischen Ziele?

Für viele Menschen im Westen ist der Ausgangspunkt, dass Russland mit seiner Invasion versucht habe und immer noch versucht, die Ukraine zu erobern. Sie sagen, dass Russland diesen Krieg selbst zu verantworten hätte, dass es sich um “einen Krieg der Willkür” [9] handele, um Mark Miley zu zitieren, den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der USA.

Wladimir Putin hingegen bezeichnet den Krieg als “existenziell” [10]. In Russland werden die westlichen Waffen in der Ukraine in der Nähe Moskaus als “existenzielle Bedrohung” wahrgenommen, die einen Angriff zur “Selbstverteidigung” erforderlich machen könnte, ähnlich wie die sowjetischen Raketen auf Kuba 1962 von den USA wahrgenommen wurden.

Diese russische Erklärung wurde im Westen oft als “Propaganda” bezeichnet, aber der Nachrichtendienst der US-Verteidigung hat auch erklärt, dass diese russische Behauptung ernst gemeint ist. Vincent Stewart, Direktor des US-Verteidigungsnachrichtendienstes (DIA), sagte dem Kongress (Dezember 2015) [11]: “Der Kreml ist überzeugt, dass die Vereinigten Staaten die Grundlagen für einen Regimewechsel in Russland schaffen. Diese Überzeugung wird durch die Ereignisse in der Ukraine weiter gestärkt. Moskau sieht die Vereinigten Staaten als die entscheidende treibende Kraft hinter der Krise in der Ukraine und glaubt, dass der Sturz des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch der jüngste Schritt in einem seit langem etablierten Muster von durch die USA orchestrierten Regimewechsel-Bemühungen ist.” (Bericht des Kongresses, zitiert von Ray McGovern, 2023 [12]). Putins Verständnis der Bedrohung als “existenziell” wurde von der DIA nicht in Frage gestellt.

Die Wahrnehmungen Moskaus sind ausschlaggebend dafür, dass Russland gewaltsam in die Ukraine eingedrungen ist. Das russische Territorium hat sich seit dem 18. Jahrhundert nicht wesentlich verändert. Russland hat sein Territorium nicht erweitert, ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, die ihr Territorium im 19. Jahrhundert um mehr als ein Drittel vergrößert haben. Die Erfahrungen mit westlichen Armeen, die im 18. Jahrhundert unter Karl XII., im 19. Jahrhundert unter Napoleon und im 20. Jahrhundert unter Adolf Hitler und den Nazis in Russland einmarschierten, haben das russische Verständnis des Westens geprägt.

Die russische Führung ist davon überzeugt, dass diese Expansionspolitik im Westen unter dem Deckmantel des Liberalismus und des Völkerrechts immer noch vorherrscht. Der frühere US-Verteidigungsminister (und spätere Vizepräsident) Richard Cheney hat dies 1991 nicht nur durch sein Drängen auf die Auflösung der Sowjetunion, sondern auch auf die Auflösung Russlands als Staat illustriert, und Robert Gates, der ehemalige Direktor des US-Geheimdienstes CIA, hat es 2016 ausgesprochen. [13].

Die russische Führung ist davon überzeugt, dass es bei der US-Politik gegenüber der Ukraine seit 2008 (Angebot der NATO-Mitgliedschaft), den Ereignissen im Jahr 2014 und der militärischen Aufrüstung ab 2016 nicht in erster Linie um die Ukraine geht, sondern um die Vorbereitung eines Angriffs auf Russland. In Russland wurde Wladimir Putin dafür kritisiert, zu spät zu handeln. Der Krieg in der Ukraine wird als ein Krieg um die Existenz [Russlands] betrachtet, auch von Putin. Aber woher wissen wir, ob dieser “existenzielle Krieg” nicht auch mit der Absicht begonnen wurde, ukrainisches Gebiet zu “erobern”? Ist dieser Krieg nur ein Angriff zur “Selbstverteidigung”?

Hier müssen wir uns fragen, ob es objektive Kriterien gibt, um dies festzustellen.

Die Präsidenten George H. W. Bush und Michail Gorbatschow unterzeichnen im East Room des Weißen Hauses Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, 1.6.1990. (Foto: George Bush Presidential Library and Museum, Wikimedia Commons, CC-PD-Mark)

Wir wissen, wie viel militärische Gewalt als notwendig erachtet wird, um ein fremdes Land zu besetzen. Die Russen machen sich sicherlich keine Illusionen über die ukrainischsprachige Bevölkerung der Westukraine und deren historische Antipathien gegenüber den Russen. Wir wissen auch, dass Russland mit insgesamt hundertsiebzig- bis hundertachtzigtausend Mann in die Ukraine einmarschiert ist (Mark Milley [14]), einschließlich Logistikpersonal. Die Vereinigten Staaten meldeten im Februar 2022 130.000 Soldaten (CNN). Ein Versuch, die Ukraine zu besetzen, würde ein Vielfaches an Truppen erfordern. Nach westlicher Militärtheorie wäre für eine Besetzung mindestens ein Mann pro 50 Einwohner erforderlich [15]. Bei der damaligen Bevölkerungszahl der Ukraine von 44 Millionen würde dies eine Truppe von fast einer Million Soldaten erfordern, also mehr als das 5…8-fache der Truppen, mit denen Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist. Aber höchstwahrscheinlich würde Russland auf Nummer sicher gehen.

Bei der Besetzung der Tschechoslowakei 1968 setzte Moskau eine Truppe ein, die pro Kopf der Bevölkerung mehr als zehnmal so groß war [16].

Und als Nazi-Deutschland Norwegen besetzte, gab es lange Zeit eine deutsche Truppe von mehr als 300.000 Mann, also etwa ein Mann pro 10 Norweger. Hätte Russland also die Absicht gehabt, die Ukraine zu erobern, wäre es höchstwahrscheinlich mit einer mindestens zehnmal so großen Truppe oder mit 1,5 … 2 Millionen Mann angerückt.

Dass für eine Besetzung eine so große Truppe erforderlich wäre, war russischen Militärplanern bekannt. Außerdem hat die derzeitige russische Führung Erfahrungen aus den 1980er Jahren. Die Versuche Moskaus, Länder wie Polen und Afghanistan zu kontrollieren, erwiesen sich als unmöglich. Nach rein objektiven Kriterien können wir sagen, dass die russischen Streitkräfte, die in die Ukraine einmarschierten, keineswegs in der Lage waren, dieses Land zu erobern. Außerdem deutet die Erfahrung mit der russischen Führung kaum darauf hin, dass sie an einer solchen Eroberung interessiert war. Die russischen Streitkräfte waren jedoch möglicherweise in der Lage, die Ostukraine, das russischsprachige Donezk und Lugansk, vor einem Angriff Kiews zu schützen.

Zumindest dürfte dies ihre Absicht gewesen sein. Nach Angaben der OSZE begann Kiew Mitte Februar mit massivem Artilleriebeschuss auf diese Gebiete [17]. Ein westukrainischer Angriff auf den Donbass wurde bereits seit mehreren Jahren vorbereitet. Im Februar 2022 konnte man sich leicht vorstellen, dass Zehntausende Russen und Russischsprachige bei dem bevorstehenden Angriff, auf den ich weiter unten zurückkommen werde, getötet werden würden.

Dies bedarf einer Erklärung. Es gibt viele Behauptungen, dass Russland im Jahr 2014 Truppen in der Ostukraine, im Donbass, stationiert habe. Der ehemalige NATO-Vertreter Jacques Baud (2022) schreibt [18]:

„In einer vom Europäischen Parlament im September 2014 angenommenen Entschließung war von einer ‘direkten militärischen Intervention‘ die Rede, von einer Verletzung des Waffenstillstands ‘durch hauptsächlich reguläre russische Truppen‘ und von einer ‘starken militärischen Präsenz Russlands auf ukrainischem Gebiet‘. Dies war offensichtlich falsch: Die Anschuldigungen stammten vom polnischen Geheimdienst, wurden aber nie von OSZE-Beobachtern bestätigt. [Präsident Petro Poroschenko behauptete, Russland sei mit “200.000 Mann” in die Ukraine eingedrungen, aber es wurden nie russische Truppen beobachtet. Im Januar 2015 bestätigte der Chef des ukrainischen Generalstabs, General Viktor Muschenko,] dass sich keine russischen Truppen in der Ukraine befänden und nur einige russische Freiwillige beobachtet worden seien. Seine Behauptung wurde im Oktober 2015 von General Vasyl Hrytsak, dem Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU), bestätigt. Dieser sagte, dass seit Beginn der Kämpfe in der Ostukraine nur 56 russische Soldaten beobachtet worden seien. […] Die OSZE hat keine Beobachtungen gemacht, die russische Truppen in der Ukraine bestätigen. [Die OSZE sagte, dass] die von den Rebellen verwendete militärische Ausrüstung oft die gleiche ist wie die der ukrainischen Armee, weil die Rebellen ihre Ausrüstung [von abtrünnigen Kräften] übernommen haben.”

Im Jahr 2014 hatte Wladimir Putin zugestimmt, Donezk und Lugansk in begrenztem Umfang russische Unterstützung zu gewähren. Die Bitten der beiden Republiken Donezk und Lugansk um eine russische Intervention zum Schutz deren Bevölkerung hatte er aber abgelehnt. Behauptungen im Westen, russische Truppen seien damals in die Ukraine einmarschiert, waren reine Propaganda.

Putin hatte Donezk und Lugansk die kalte Schulter gezeigt [19]. Die Ukraine verfügte damals nicht über eine Berufsarmee. Wenn Russland die Ukraine hätte erobern wollen, hätte es das tun können. Darüber sind sich inzwischen Vertreter sowohl der US-Armee als auch der ukrainischen Armee einig (siehe unten). Stattdessen akzeptierte Putin das Minsker Abkommen, das die Ostukraine als Teil des ukrainischen Staates anerkennt, obwohl die Republiken Donezk und Lugansk ihn um Schutz gebeten hatten. Im Gegensatz zu einigen russischen Generälen und einem Großteil der Bevölkerung in der Ostukraine wollte Putin, dass die Ostukraine weiterhin Teil des ukrainischen Staates bleibt. Putin rückte nicht mit russischen Truppen ein, obwohl Kiew in der Ostukraine Tausende von Russen oder russischsprachigen Menschen tötete.

Putin hoffte, dass die beträchtliche russischsprachige Bevölkerung im Osten in der Lage sein würde, den ukrainischen Extremismus im Westen zu neutralisieren. Die russischsprachige Bevölkerung war keine kleine Minderheit. Sie hatten die Präsidentschaftswahlen 2010 mit Viktor Janukowitsch (der aus Donezk stammte) gewonnen, und 2019 wurde Wolodymyr Zelenskij mit Unterstützung der Russen zum Präsidenten gewählt, nachdem er eine friedliche Lösung für die Ostukraine im Einklang mit dem Minsker Abkommen versprochen hatte. Wladimir Putins Unterstützung für das Minsker Abkommen widerlegt eindeutig die Behauptung, er wolle die Ukraine erobern oder besetzen.

Am 24. Februar, dem Tag des Einmarsches, sagte Putin in seiner Rede [20]: “Es ist nicht unser Plan, das ukrainische Gebiet zu besetzen”. Auch gab es in seiner Rede keinerlei Hinweis darauf, dass er die Ukraine besetzen wollte oder dahingehende Interessen hätte. Solche Behauptungen sind Teil der Propagandakampagne – einer Propaganda, die inzwischen die westlichen Medien beherrscht. Russland versuchte zunächst, Kiew einzukreisen, um die Führung zu Verhandlungen zu zwingen und große ukrainische Streitkräfte zu binden, um die Kämpfe im Osten zu erleichtern. Die Russen wussten auch, dass es schwierig sein würde, die befestigten ukrainischen Streitkräfte vom Osten aus anzugreifen. Mehrere Jahre lang baute die Ukraine Befestigungen, die sich durch die beiden östlichen Republiken zogen. Ab Januar 2022 hatte die Ukraine 120.000 Soldaten stationiert, die bereit waren, Donezk und Lugansk einzunehmen (siehe unten). Russland wusste auch, dass es vom Norden und vom Süden her angreifen musste, unterschätzte aber wahrscheinlich die Kriegsvorbereitungen der Ukraine und die Unterstützung durch die USA. Die USA konnten alles per Satellit verfolgen. Dadurch waren die ukrainischen Streitkräfte besser auf die russische Invasion vorbereitet als die russischen Soldaten selbst. Die Ukraine ließ die Russen in die Nähe von Kiew vordringen und überfiel sie dann aus dem Hinterhalt. Doch die überlegene russische Feuerkraft zwang die Ukraine in mehreren Gebieten zum Rückzug. Nach den Fortschritten bei den Verhandlungen im März 2022 erklärte Russland, dass es das Gebiet um Kiew als “Geste des guten Willens” [21, 22] verlassen würde, was es auch tat. Moskau versuchte, Verluste zu vermeiden. Nichts deutete darauf hin, dass Russland zu diesem Zeitpunkt an einer Besetzung dieser Gebiete interessiert war. Vielmehr wollten die Russen die Sicherheit von Donezk und Lugansk garantieren.

Wenn es aber bei der russischen Invasion nicht um die Eroberung der Ukraine, eine Wiederherstellung des russischen Reiches oder der Sowjetunion ging, so müssen wir uns fragen, was der Auslöser für die russische Invasion war.

Gespräche im Normandie-Format in Minsk: Angela Merkel, Francois Hollande, Petro Poroschenko und Wladimir Putin nehmen an den Gesprächen über eine Lösung der Situation in der Ukraine teil, 11.2.2015. (Foto: Das Presse- und Informationsamt des russischen Präsidenten, Wikimedia Commons, CC-BY-4.0)

3. Die russischen Erfahrungen mit der NATO-Erweiterung

Wir wissen heute, dass zwischen 1990 und 1993 alle politischen Führer der USA, Westdeutschlands, Frankreichs und Großbritanniens (Bush und Baker, Kohl, Genscher und Wörner, Mitterrand und Thatcher, Major und Hurd) Michail Gorbatschow [23] und Boris Jelzin [24] definitiv versprachen, die NATO nicht über Westdeutschland hinaus zu erweitern. Der amerikanische Präsident Reagan (1981 bis 1989) hatte bereits vor dem Amtsantritt von George H.W. Bush (1989 bis 1993) zugesagt, die Sowjets gleichberechtigt und mit Respekt zu behandeln. Wir sollten nicht als Gewinner des Kalten Krieges auftreten, sagte Jack Matlock, US-Botschafter in Moskau [25]. Matlock hatte 1985 die politische Agenda für Präsident Reagan umrissen und nahm an den Gesprächen Baker – Gorbatschow teil.

Im Februar 1990 sagte der US-Außenminister James Baker [26]:

“Weder der Präsident [Bush] noch ich beabsichtigen, irgendwelche einseitigen Vorteile aus den stattfindenden Prozessen zu ziehen.” Und er fügte hinzu: “Wenn wir eine Präsenz in einem Deutschland aufrechterhalten, das Teil der NATO ist, würde es keine Ausdehnung der NATO-Zuständigkeit für NATO-Kräfte um einen Zoll nach Osten geben”.

Michail Gorbatschow ergänzte [27]: “Natürlich wäre jede Erweitung der NATO-Zone inakzeptabel”. Es “versteht sich von selbst, dass eine Ausweitung der NATO-Zone inakzeptabel wäre”, sagte er. Baker antwortete [28]: “Wir stimmen dem zu”. Am nächsten Tag schrieb Baker an den deutschen Bundeskanzler Kohl und erklärte: “Im Umkehrschluss könnte die NATO in ihrer derzeitigen Zone akzeptabel sein”. Kohl sagte zu Gorbatschow, dass “die NATO ihren Aktionsradius nicht ausweiten sollte”. Präsident Mitterrand wollte sowohl den Warschauer Pakt als auch die NATO abschaffen [29], aber Helmut Kohls Außenminister Hans-Dietrich Genscher sagte: “Wir wollen das NATO-Gebiet nicht erweitern, aber wir wollen auch nicht aus der NATO austreten”. Das haben alle zu Gorbatschow gesagt.

Genscher sagte am selben Tag dem britischen Außenminister Douglas Hurd [30]: “Polen sollte nicht aus dem Warschauer Pakt austreten können, um dann der NATO beizutreten. Die Russen müssen gewisse Zusicherungen haben”. “Wir wollen nicht nach Osten expandieren”, sagte er. Baker wiederholte die Worte Genschers. Die NATO werde sich nicht erweitern: “Kein Zentimeter des derzeitigen militärischen Zuständigkeitsbereichs der NATO wird sich in Richtung Osten ausdehnen”. Dies war eine Voraussetzung für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, für den sowjetischen Abzug von 350.000 Mann aus Ostdeutschland und schließlich für die Auflösung des Warschauer Paktes im Jahr 1991. Im März 1991, als die Polen über einen NATO-Beitritt gesprochen hatten, sagte der britische Premierminister John Major zu Gorbatschow und dem sowjetischen Verteidigungsminister Dmitrij Jasow [31]: “Nichts dergleichen wird geschehen”. Es wird keine Mitgliedschaft für diese Länder geben. NATO-Generalsekretär Manfred Wörner sagte im Juli 1991 [32]: “Wir sollten […] die Isolierung der UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft nicht zulassen”, und “Wörner betonte, dass der NATO-Rat und er gegen eine Erweiterung der NATO sind (13 von 16 NATO-Mitgliedern unterstützen diesen Standpunkt).” Bereits im Mai 1990 sagte er in einer von der NATO veröffentlichten Rede [33]:

“Allein die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen über das Gebiet der Bundesrepublik hinaus zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.”

Als Boris Jelzin im Dezember 1991 Michail Gorbatschow [im Wahlkampf; Anm. d. Red.] ausmanövrieren konnte, bekamen die USA einen russischen Führer, der den Amerikanern zu Dank verpflichtet war (die CIA hatte Jelzin im russischen Machtkampf 1991 mit Zustimmung von Präsident Bush unterstützt). Aber Jelzin war immer noch gegen jede NATO-Erweiterung [34]. Er behauptete 1993, der deutsche Einigungsvertrag schließe eine NATO-Erweiterung aus. Für Präsident Jelzin würde eine NATO-Erweiterung nur zu einer “Demütigung” führen. Präsident Bill Clinton sagte 1995 [35]: “Ich werde keine Veränderung unterstützen, die Russlands Sicherheit untergräbt oder Europa neu aufteilt”. Die Entscheidung über die NATO-Erweiterung war jedoch bereits 1993 getroffen worden. In einem freigegebenen russischen Dokument aus dem Jahr 1995 heißt es, dass die NATO-Erweiterung (1) die russische Sicherheit bedrohen, (2) die Idee einer integrativen europäischen Sicherheit, die Gorbatschow und Jelzin anstrebten, untergraben und (3) eine neue Linie quer durch Europa ziehen würde [36].

(Karten: wikifreund, Wikimedia Commons, erstellt am 6.11.2006 (1) und am 13.5.2007 (2), CC BY-SA 3.0)

Der Vater der NATO-Strategie zur Eindämmung [Russlands], Botschafter George Kennan, bezeichnete den US-Vorschlag zur NATO-Erweiterung als einen Fehler “epischen Ausmaßes” [37] (1996), “den verhängnisvollsten Fehler der US-Politik” [38] (1997). US-Verteidigungsminister William Perry (1994-97) war “gegen” die Erweiterung [39]. Es war demütigend für Russland, und Perry fügte 2017 hinzu: “Der Grund für Putins heutige Beliebtheit in Russland ist, dass er Russland erlaubt hat, sich als Großmacht zu behaupten, um diese Demütigung zu überwinden”. Selbst der damalige CIA-Direktor Robert Gates (1991 – 93 und spätere Verteidigungsminister) sagte im Jahr 2000, er sei besorgt über die Folgen einer “forcierten NATO-Osterweiterung, obwohl man Gorbatschow und andere glauben ließ, dass dies nicht passieren würde” [40].

In neueren Büchern und Artikeln wird behauptet, Gorbatschow seien niemals Versprechungen gemacht worden. Der ehemalige US-Botschafter in der Ukraine, Steven Pifer, behauptete 2014 in einem Artikel für die <i>Brookings Institution</i> [eine Denkfabrik in den Vereinigten Staaten, Anm. d. Red.], Gorbatschow habe in einem Interview gesagt, ihm seien keine Versprechungen gemacht worden und das “Thema ‘NATO-Erweiterung’ überhaupt nicht diskutiert wurde” [41]. Bei Bakers “keinen Zentimeter” ging es um die Erweiterung der NATO nach Osten bis nach Ostdeutschland, so Pifer, aber sein Zitat gibt nicht das wahre Bild wieder. Im selben Interview, ein paar Zeilen später, sagt Gorbatschow [42]:

„Für die USA und ihre Verbündeten wurde die Entscheidung, die NATO nach Osten zu erweitern, 1993 endgültig getroffen. Ich habe dies von Anfang an als einen großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv ein Verstoß gegen den Geist der Erklärungen und Zusicherungen, die uns 1990 gegeben wurden.“

Ähnlich wie Pifer behauptete die Yale-Historikerin Mary Elise Sarotte, Genscher und Baker hätten “spekuliert”, die NATO nicht nach Osten zu bewegen, “weil sie dachten, dadurch die deutsche Wiedervereinigung für Moskau erträglicher machen zu können” [43]. Aber was Baker, Genscher und andere führende Politiker dachten, spielt keine Rolle. Was zählt, ist, was sie Gorbatschow sagten, und ihre Versprechen sind in Sitzungsprotokollen und anderen Aufzeichnungen im National Security Archive in Washington gut dokumentiert. Sarotte sagt [44]: “Ende Februar [1990 … bestand Präsident Bush] darauf, dass der Außenminister [Baker] solche Formulierungen [‘Not one inch’] nicht mehr verwendet”, aber sowohl Bush als auch Baker sprachen immer noch von einem gesamteuropäischen Prozess und einem “europäischen Haus”, das ein Europa voraussetzen würde, in dem sich die NATO nicht nach Osten ausdehnt, um Europa zu spalten [45]. Aus einem Dokument (6. März 1991) [46] geht hervor, wie alle vier Westmächte darin übereinstimmten, dass eine NATO-Mitgliedschaft der mitteleuropäischen Staaten “inakzeptabel” [47] wäre:”

“Sicherheit in Mittel- und Osteuropa – Zusammenfassung: […] Allgemeine Übereinstimmung, dass die Mitgliedschaft in der NATO und Sicherheitsgarantien inakzeptabel sind. […] Wir haben bei den 2+4-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus erweitern werden. Daher konnten wir Polen und den anderen nicht die Mitgliedschaft in der NATO anbieten. [Der US-Vertreter Raymond Seitz bestätigte während dieses Treffens, dass der Westen den Sowjets klar gemacht habe [48]: Die NATO sollte sich weder formell noch informell nach Osten erweitern.”

Seinen letzten Morgen erlebte der Kontrollpunkt der Westalliierten im Herzen Berlins, der als “Checkpoint Charlie” in die Geschichte eingegangen ist. Zum Auftakt der Zwei-plus-Vier-Außenminstergespräche wurde das Wachgebäude in Anwesenheit hoher Politprominenz demontiert und – “ging in die Luft”, 22.6.1990. (Foto: Peer Grimm, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0-DE)

Das Dokument wurde 2022 vom Historiker des Wilson Center, Joshua Shifrinson, in den britischen Nationalarchiven gefunden. In einem Artikel in der Zeitschrift „International Security“ aus dem Jahr 2016 [49] zeigte er auf, wie Baker darüber sprach, die NATO nicht zu erweitern, und über paneuropäische Institutionen, während der nationale Sicherheitsberater der USA, Brent Scowcroft (offiziell Assistent des Präsidenten für nationale Sicherheitsfragen), Bush bereits im Dezember 1989 aufforderte, dafür zu sorgen, “dass ein wiedervereinigtes Deutschland seine Verbindungen zur NATO aufrechterhält” und gleichzeitig “eine viel robustere und konstruktivere Rolle der USA in der Mitte Europas” zu ermöglichen. Die USA sollten sich “zwischen Deutschland und Russland in Mitteleuropa” positionieren. Dementsprechend sollten die USA die NATO auf Polen und andere Länder ausweiten, während Baker zu Gorbatschow das Gegenteil sagte. Baker erklärte Gorbatschow auch, dass die KSZE (ab 1995 OSZE) “ein wichtiger Eckpfeiler des neuen Europas” sei, während er Scowcroft und Bush insgeheim mit den Worten warnte, dass die “wahre Gefahr für die NATO die KSZE” sei. Präsident Bush erschien als doppelgesichtiger Januskopf, der auf taktischer Ebene eng mit Gorbatschow zusammenarbeitete, während er die Sowjets auf strategischer Ebene zum Rückzug zwang. Bush zollte Gorbatschow Respekt und Gorbatschow drückte Bush sein aufrichtiges Vertrauen aus [50], während die CIA mit Bushs Zustimmung Boris Jelzin in seinem Machtkampf gegen Gorbatschow unterstützte. Als Jelzin und seine ukrainischen und weißrussischen Kollegen den Beschluss gefasst hatten, die Sowjetunion abzuschaffen [51], rief Jelzin nicht Gorbatschow an, um ihm mitzuteilen, dass er Präsident von NICHTS sei, sondern er rief Präsident Bush an und überbrachte ihm diese Nachricht [52]. Die Versprechen von Präsident Bush an Gorbatschow waren nichts als Täuschung. Shifrinson kommt zu dem Schluss, “dass die Vereinigten Staaten die sowjetischen Schwächen ausnutzten, obwohl sie vor allem gegenüber Gorbatschow eine kooperative Fassade aufbauten” [53]. Diese “kooperative Fassade” war das, was von Matlocks politischer Agenda für Präsident Reagan übrig geblieben war. Die Bush-Regierung gewann Gorbatschow für sich, indem sie eine Reihe mündlicher Zusagen machte, ohne die Absicht zu haben, diese einzuhalten.

Man könnte argumentieren, dass es keinen Vertrag an sich gibt, außer im Fall der deutsch-deutschen Vereinigung (formell der Vertrag über die endgültige Regelung in Bezug auf Deutschland; auch bekannt als das 2+4-Abkommen, das am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde [54]), aber dieser Vertrag besagt:

„Nach Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus [Ostdeutschland…] werden ausländische Streitkräfte und Kernwaffen oder deren Träger nicht in diesem Teil Deutschlands stationiert oder eingesetzt”.

Der Vertrag besagt eindeutig, dass keine Streitkräfte aus anderen NATO-Staaten in der ehemaligen DDR stationiert werden sollten, und natürlich würde Moskau dann niemals eine Stationierung solcher Streitkräfte weiter östlich, östlich von Deutschland in “Polen und den anderen” akzeptieren. Das kam nicht in Frage, und darüber waren sich offenbar alle Teilnehmer einig. Dementsprechend wurde das Thema NATO-Erweiterung “nicht diskutiert”, wie Gorbatschow 2014 sagte, weil es keine Meinungsverschiedenheiten gab. 1993 sagte Boris Jelzin, dass der “Geist” des Vertrags “die Option einer Ausweitung der NATO-Zone nach Osten ausschließt” [55], und die mündlichen Zusagen, die Gorbatschow 1990/91 von den westlichen Staats- und Regierungschefs gegeben wurden, hätten ihn glauben lassen, dass es einen Konsens gab. Ebenso wichtig: auch dokumentierte mündliche Zusagen zwischen Staats- und Regierungschefs sind rechtlich bindend.

4. Mündliche Verpflichtungen im Völkerrecht und die Forderung nach einer Pufferzone

Im Mittelpunkt der oben erörterten Frage steht die rechtliche Bedeutung von mündlichen Zusagen. Während der Kubakrise war die Vereinbarung zwischen Präsident John F. Kennedy und dem sowjetischen Führer Nikita Chruschtschow eine mündliche. Die Sowjets erklärten sich bereit, ihre Raketen aus Kuba abzuziehen, wenn die USA ihre Raketen aus der Türkei (und Italien) abziehen. Solche mündlichen Vereinbarungen zwischen politischen Führern werden als rechtsverbindlich angesehen. In der “Definition der Schlüsselbegriffe” der UNO heißt es [56]:

“Einerseits definiert [das Wiener Übereinkommen über Vertragsrecht von 1969] Verträge als ‘internationale Vereinbarungen’ […]. Andererseits verwendet es den Begriff ‘internationale Übereinkünfte’ für Instrumente, die seiner Definition von ‘Vertrag’ nicht entsprechen. Ihr Art. 3 bezieht sich auch auf “internationale Vereinbarungen, die nicht in schriftlicher Form vorliegen”. Solche mündlichen Vereinbarungen sind zwar selten, können aber je nach dem Willen der Parteien die gleiche Bindungswirkung haben wie Verträge. Ein Beispiel für eine mündliche Vereinbarung könnte ein Versprechen sein, das der Außenminister eines Staates seinem Amtskollegen eines anderen Staates gibt.”

Mehrere Autoren verweisen auf den “Fall Ostgrönland” [57]. Im Protokoll des norwegischen Außenministers Nils Claus Ihlen aus dem Jahr 1919 heißt es, dass er auf eine dänische Anfrage hin seinem dänischen Amtskollegen mitteilte, dass die norwegische Regierung keine Einwände gegen die dänische Souveränität über Ostgrönland erheben würde [“Keine Schwierigkeiten bei der Regelung dieser Frage machen”]. Ihlens schriftlicher Vermerk über seine mündliche Zusage überzeugte den Ständigen Internationalen Gerichtshof 1933 (14 Jahre später), dass diese mündliche Erklärung für Norwegen verbindlich war [58] (Norwegen musste die dänische Souveränität über ein Gebiet anerkennen, das größer war als Norwegen selbst). Der Ständige Internationale Gerichtshof befand, dass eine mündliche Zusage für die beiden Staaten genauso verbindlich sei wie ein schriftlicher Vertrag. Für die dänische Seite bestand das Problem darin, einen schriftlichen Beweis für diese mündliche Zusage zu haben. Und in diesem Fall gab es die Notizen des norwegischen Außenministers, die seine gegebene mündliche Zusage bestätigten. Diese wurde auch für das internationale Recht entscheidend.

„Die Völkerrechtskommission [59] hat ihrerseits [1962] klargestellt, dass sie trotz des Ausschlusses stillschweigender Vereinbarungen aus dem Anwendungsbereich ihrer Kodifizierung des Vertragsrechts ‚nicht die Absicht [hat], die Rechtskraft mündlicher Vereinbarungen, die mit dem Völkerrecht in Einklang stehen, zu leugnen‘.“

Die „American Society of International Law“ [Amerikanische Gesellschaft für Internationales Recht; Anm. d. Red.] stellte 1997 fest, dass “nach dem Völkergewohnheitsrecht mündliche Vereinbarungen nicht weniger verbindlich sind [als ein förmlicher Vertrag], auch wenn ihre Bedingungen nicht ohne weiteres beweisbar sind” [60]. Der US-Senat schreibt in „Verträge und andere internationale Vereinbarungen“ (vorbereitet für das Komitee ausländischer Beziehungen) im Januar 2001 [61]:

„Die Definition des Begriffs ‚Vertrag‘ [in der Wiener Konvention] schließt mündliche Vereinbarungen nicht ein (Artikel 2), obwohl nach der Konvention ihre Definition die Rechtswirksamkeit solcher Vereinbarungen nicht berührt (Artikel 3 Buchstabe a)). […] Ob eine Erklärung mündlich oder schriftlich abgegeben wird, macht keinen wesentlichen Unterschied. […] Nach dem Völkergewohnheitsrecht sind mündliche Vereinbarungen ebenso verbindlich wie schriftliche.”

Chruschtschow und Kennedy, 1961 (Foto:pingnews.com, Flickr, Gemeinfrei)

Das bedeutet, dass die NATO-Erweiterung nach Polen und in andere mitteleuropäische Staaten im Jahr 1999 und weiter im Jahr 2004 rechtlich gesehen ein “Friedensbruch” war. Die NATO-Erweiterung verstieß gegen die mündlichen Zusagen an Gorbatschow und war in Anbetracht der globalen Auswirkungen dieser US/NATO-Politik ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Länder Mitteleuropas hatten natürlich das Recht, ihr Interesse an einem NATO-Beitritt nach vielen Jahren sowjetischer Vorherrschaft zu bekunden, aber die NATO musste auch die Folgen der Aufnahme neuer Mitglieder bedenken. Und von Moskau würde eine NATO-Osterweiterung definitiv als “aggressiver Akt”, als territoriale Ausdehnung der US-Streitkräfte auf Kosten Russlands, verstanden werden. Doch objektiv gesehen war dies, wie oben dargelegt, ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht. Das Problem ist, ob dieser Verstoß Russland das Recht gibt, in “Selbstverteidigung” einzugreifen, um die territoriale Ausdehnung der USA zu verhindern. 1962 hielten sich Chruschtschow und Kennedy an ihren Teil der Abmachung, und wenn Chruschtschow dies nicht getan hätte, wäre es sehr wahrscheinlich zu einem Krieg gekommen. In den 1990er Jahren jedoch, nachdem Russland seine Streitkräfte aus Ostdeutschland abgezogen hatte, begannen die USA mit der Erweiterung der NATO und weigerten sich, die Versprechen der USA einzuhalten. Bedeutet dies, dass Moskau im Nachhinein das formale Recht hatte, Hunderttausende von Truppen zurück nach Mitteleuropa zu verlegen? Wäre das eine angemessene russische Antwort?

Die Rechtssubjekte der UN-Charta sind “souveräne Staaten”. In Artikel 2 Absatz 4 der Charta heißt es, dass sich die Staaten der “Androhung” von Gewalt und der “Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit” oder “die Unabhängigkeit eines Staates” enthalten. Und die NATO-Erweiterung wurde von Russland definitiv als bedrohlich empfunden. Russland protestierte bereits Mitte der 1990er Jahre gegen die westlichen Vorschläge für eine NATO-Erweiterung nach Mitteleuropa. Ich selbst habe 1995 in der Zeitschrift „Security Dialogue“ vor den Folgen gewarnt [62]. Ich hörte auch die Kritik des russischen Außenministers Jewgeni Primakow an den westlichen Versprechensbrüchen bei seinem Vortrag in Oslo 1997. Primakow hatte ab 1996 eine Reihe westlicher Zusicherungen eingeholt und erklärt, dass eine Fortsetzung der NATO-Osterweiterung gegen den “Geist” des deutschen Einigungsvertrages verstoße. Es wäre eine Bedrohung für die russische Sicherheit. Europa würde in eine Konfrontation abgleiten. Russland hat heftig protestiert, nicht zuletzt bei der Aufnahme der ersten Gruppe von Ländern 1999 und der zweiten im Jahre 2004. Solange Russland die NATO als Bedrohung ansieht, spielt es keine Rolle, was wir denken.

Präsident George W. Bush trifft sich am Freitag, den 18. Januar 2008, im Kabinettsaal des Weißen Hauses mit Dr. Henry Kissinger, dem ehemaligen russischen Premierminister Jewgenij Primakow und anderen hochrangigen amerikanischen und russischen Staatsmännern und Politikexperten. Das Treffen bot dem Präsidenten die Gelegenheit, die Ansichten der Delegation zu einer Vielzahl von Themen zu hören, die für die Vereinigten Staaten und für Russland wichtig sind, und spiegelt den hohen Stellenwert wider, den der Präsident den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland beimisst. Dieser informelle Dialog unter dem gemeinsamen Vorsitz von Dr. Kissinger und Herrn Primakow wurde 2007 mit Unterstützung der Präsidenten Bush und Putin ins Leben gerufen, um die Diskussion über wichtige Themen auf der amerikanisch-russischen Agenda zu fördern. (Foto: Eric Draper, White House, Wikimedia Commons, CC0)

Laut dem damaligen US-Botschafter in Moskau, dem heutigen CIA-Direktor William Burns, erklärten 2008 alle Akteure in Russland, nicht nur Wladimir Putin, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sei eine “rote Linie” [63]. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte [64]:

„Ich war mir sehr sicher […], dass Putin das nicht einfach so geschehen lassen wird. Aus seiner Sicht wäre eine Ausweitung der NATO auf die Ukraine ‘eine Kriegserklärung'”.

Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO sei völlig inakzeptabel: “Die deutlichste aller roten Linien”, wie Burns 2008 an seine Außenministerin Condoleezza Rice schrieb [65]. In einem Telegramm nach Washington mit der Überschrift “Nyet Means Nyet: Russia’s NATO Enlargement Red Lines” [66] schrieb Botschafter Burns im Jahr 2008, dass Außenminister Sergej Lawrow die NATO-Erweiterung um die Ukraine als “potenzielle militärische Bedrohung” ansah. Die Russen sagten, dass dies zu einem ukrainischen Bürgerkrieg zwischen Ost und West und einer möglichen russischen Intervention zur Rettung der russischsprachigen Bevölkerung im Osten führen würde. Dies würde “die USA und Russland in eine klassische Konfrontationshaltung versetzen”, sagte er. Die Elite in Washington wusste, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO mit ziemlicher Sicherheit zu einem Krieg führen würde. Das hatte nichts damit zu tun, wer in Moskau das Sagen hatte. Wenn Putin jetzt von einem “existenziellen” Krieg spricht, dann deshalb, weil die Ukraine zu einem militärischen Brückenkopf der USA werden soll, der fast bis nach Moskau reicht. Die USA wären nun in der Lage, das “Herz Russlands” anzugreifen. Das wäre so, als ob der Südosten der Vereinigten Staaten mit Texas, Louisiana, Florida, Georgia, Mississippi und Alabama zu unabhängigen, von Russland voll bewaffneten Staaten geworden wäre. Washington würde dies niemals akezeptieren.

Ein Land nach dem anderen hat nun die NATO-Mitgliedschaft und US-Militäreinrichtungen erhalten. Die USA erklärten viele Jahre lang, dass die NATO-Erweiterung nicht gegen Russland gerichtet sei. Gleichzeitig haben die USA ihre Positionen Schritt für Schritt verschoben und sind mit neuen Waffensystemen immer näher an Moskau herangerückt. Wenn sich dieser Prozess fortsetzt, wird es für Russland kaum möglich sein, sich zu verteidigen. Ein einzelner Schritt kann keine militärische Antwort legitimieren, aber in der Summe bedeutet es eine radikale geopolitische Verschiebung. Es handelt sich um eine “Salamitaktik” ähnlich der israelischen, die mit jeder neuen Siedlung mehr und mehr palästinensisches Gebiet erobert, bis kein palästinensisches Land mehr übrig ist. Sie ist auch eine Parallele zur Strategie der USA gegenüber China. Die USA sagen, dass sie Chinas “Ein-China-Politik” anerkennen, aber gleichzeitig erlauben sie US-Spitzenbeamten, Taiwan zu besuchen, und sie empfangen Taiwans Präsidenten in den USA, als ob Taiwan ein unabhängiger Staat wäre. Man macht kleine Schritte, bis man vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Dies muss als eindeutiger Bruch mit den Zielen der UN-Charta gesehen werden, “internationalen Frieden und Sicherheit” zu wahren und “Bedrohungen des Friedens zu beseitigen”. Für Russland wurde es notwendig, eine Art “Pufferzone” zu schaffen, die das Risiko verringert, dass Russland eines Tages zur “Selbstverteidigung” präventiv zuschlagen muss, um seine vitalen Interessen zu schützen.

Am 17. Dezember 2021 rief Russland zu Verhandlungen auf [67], um die USA dazu zu bewegen, ihre vorgeschobenen Waffenanlagen und Stützpunkte aus Mitteleuropa und den neuen NATO-Mitgliedsstaaten abzuziehen und Garantien für die Neutralität der Ukraine zu erhalten, um so eine Art “nordische Pufferzone” durch Mitteleuropa zu schaffen. Dies würde die Bedrohung Moskaus und das Risiko einer Konflikteskalation verringern und damit die “Bedrohungen für den Frieden” beseitigen. Dies war Gorbatschows Vorschlag von 1988, mit einem neutralen Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn – einer europäischen “neutralen Pufferzone” ähnlich jener im Norden. Gorbatschow stand unter dem Einfluss von Giorgio Arbatow und der Palme-Kommission [68] und dachte an eine Zone geringer Spannung zwischen den großen Atommächten, um die Risiken von Präventivschlägen zu begrenzen. Die Amerikaner hingegen dachten an “Abschreckung”, nicht nur auf strategischer, sondern auch auf lokaler taktischer Ebene. Sie würden bedrohliche Positionierungen in der Nähe der russischen Grenze vorziehen, um “die Russen von jeglichen Abenteuern abzuhalten”. In einem RAND-Bericht [RAND Corp.: einflussreiche US-Denkfabrik zur Beratung der US-Streitkräfte; Anm. d. Red.] mit dem Titel “Enhancing Deterrence and Defense on NATO’s Northern Flank” [Stärkung der Abschreckung und Verteidigung an der Nordflanke der NATO; Anm. d. Red.] (2020) wird die Stationierung westlicher Raketen mit einer Reichweite von 900 km vorgeschlagen, um Norwegen die Fähigkeit zur „Abschreckung“ zu verleihen [69]. In einer angespannten Situation könnte dies jedoch einen russischen Präventivschlag provozieren, und dasselbe gilt für die Ukraine. Westliche Militärplaner wissen sehr wohl, dass Russland nicht in der Lage wäre, sich zu verteidigen, wenn westliche Streitkräfte in der Ukraine in der Nähe von Moskau stationiert würden. Im Jahr 2007 schrieben der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, der ehemalige Außenminister George Shultz, der ehemalige Verteidigungsminister William Perry und der ehemalige Vorsitzende des Senatsausschusses für Streitkräfte Sam Nunn für das „Nuclear Security Project“ über die Notwendigkeit, vorgeschobene Positionierungen zu vermeiden, um das Risiko einer Eskalation zu verringern [70]. Solche vorgeschobenen Verlegungen können einen Präventivschlag provozieren. Für Russland geht es nicht um die “Eroberung ukrainischen Territoriums”, sondern darum, dem Westen eine vorgelagerte Militärpräsenz zu verwehren – einen Brückenkopf in der Nähe der wichtigsten Interessen Russlands. Es gibt also eine direkte Parallele zur Kubakrise, als die US-Führung der Meinung war, dass die sowjetischen Atomwaffen viel zu nahe an den vitalen Interessen der USA stationiert worden waren.

Lassen Sie uns hier einige Beispiele aus der Geschichte der US-Sicherheitspolitik und der Rechtsgeschichte, aus Krisen und Kriegen (Kubakrise 1962, Kosovokrieg 1999, Irakkrieg 2003, Libyenkrieg 2011) anführen, die die russische Seite nun genutzt hat oder nutzen kann. Beginnen wir mit den Worten von US-Präsident John F. Kennedy zu den sowjetischen Raketen auf Kuba in seiner Rede am 22. Oktober 1962, die definitiv eine Parallele zur heutigen Situation darstellen.

Quellen:

[1] War on the Rocks Plattform für Analysen, Mark Hull „“Vengeance is Not Our Goal”: A Conversation with Nuremberg Prosecutor Benjamin Ferencz“, am 5.8.2014 <https://warontherocks.com/2014/08/vengeance-is-not-our-goal-a-conversation-with-nuremberg-prosecutor-benjamin-ferencz/>
[2] Internationaler Gerichtshof „Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons“, am 8.7.1996:  <https://www.icj-cij.org/case/95>
[3] Internationaler Gerichtshof „Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons“, Stellungnahme vom 8.7.1996: <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/95/7497.pdf>
[4] Zentrum für globale Sicherheitsforschung, Newell L. Highsmith „On the Legality of
Nuclear Deterrence“, im April 2019: <https://cgsr.llnl.gov/content/assets/docs/CGSR-LivermorePaper6.pdf>
[5] Außenministerium der Russischen Föderation Соглашение о мерах обеспечения безопасности Российской Федерации и государств-членов Организации Североатлантического договора“, am 17.12.2021: <https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en>
[6] Democracy Now! Organisation, Jeffrey Sachs „“Dangerous” U.S. Policy & “West’s False Narrative” Stoking Tensions with Russia, China“, am 30.8.2022: <https://www.democracynow.org/2022/8/30/wests_false_narrative_china_russia_ukraine?jwsource=cl>
[7] Consortiumnews Nachrichtenportal, Jeffrey Sachs „Ukraine Is the Latest Neocon Disaster“, am 1.7.2022: <https://consortiumnews.com/2022/07/01/ukraine-is-the-latest-neocon-disaster/>
[8] Vereinte Nationen „United Nations Charter (full text)“, unterzeichnet am 26.6.1945:  <https://www.un.org/en/about-us/un-charter/full-text>
[9] C-Span Fernsehsender „Secretary Austin and General Milley News Conference“, am 16.11.2022: <https://www.c-span.org/video/?524313-1/secretary-austin-general-milley-news-conference>
[10] Consortiumnews Nachrichtenportal,Wladimir Putin „Text of Putin’s Announcement of Military Action“, am 1.3.2022: <https://consortiumnews.com/2022/03/01/text-of-putins-announcement-of-military-action/>
[11] YouTube, Judge Napolitano „Putin’s Plan for Ukraine Now – Ray McGovern“, am 24.5.2023: <https://www.youtube.com/watch?v=lQzRtyqyIUk>
[12] ebd.
[13] Amazon, Robert M. Gates „Duty: Memoirs of a Secretary at War“, am 12.5.2015: <https://www.amazon.com/Duty-Memoirs-Secretary-at-War/dp/030794963X>
[14] siehe [9]
[15] Washington Post, Stephen Budiansky „A Proven Formula for How Many Troops We Need“, am 8.5.2004: <https://www.washingtonpost.com/archive/opinions/2004/05/09/a-proven-formula-for-how-many-troops-we-need/5c6dbfc9-33f8-4648-bd07-40d244a1daa4/>
[16] Wikipedia, diverse Autoren „Warsaw Pact invasion of Czechoslovakia“, zuletzt bearbeitet am 14.2.2024: <https://en.wikipedia.org/wiki/Warsaw_Pact_invasion_of_Czechoslovakia>
[17] Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) „Daily Report 39/2022“, am 19.2.2022: <https://www.osce.org/files/2022-02-19 Daily Report.pdf>
[18] Amazon,  Jacques Baud „Operation Z: The Hidden Truth of the War in Ukraine Revealed“, am 24.11.2022: <https://www.amazon.co.uk/Operation-Hidden-Truth-Ukraine-Revealed/dp/2315010640>
[19] ebd.
[20] siehe [10]
[22] Le Monde Zeitung, Le Monde with AP „Russia says it will cut back operations near Ukraine capital“, am 23.3.2022: <https://www.lemonde.fr/en/international/article/2022/03/29/russia-says-it-will-cut-back-operations-near-ukraine-capital_5979289_4.html>
[23] TASS Nachrichtenagentur, Red. „New Kiev-drafted agreement marks departure from provisions recorded in Istanbul — Lavrov“, am 7.4.2022: <https://tass.com/world/1434121>
[23] National Security Archive (NGO) „NATO Expansion: What Gorbachev Heard“, am 12.12.2017: <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early>
[24] National Security Archive (NGO) „NATO Expansion: What Yeltsin Heard“, am 16.3.2018: <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2018-03-16/nato-expansion-what-yeltsin-heard>
[25] Columbia Harriman Institute, Interviewer: Mary Marshall Clark – Interviewee: Jack Foust Matlock Jr. „The Reminiscences of Jack Foust Matlock Jr.“, am 2.2.2017: <https://oralhistory.harriman.columbia.edu/interview/18>
[26] siehe [23]
[27] ebd.
[28] ebd.
[29] ebd.
[30] ebd.
[31] ebd.
[32] ebd.
[33] NATO On-line library, Rede von Generalsekretär Manfred Wörnervor dem Bremer Tabaks-Kollegium „The Atlantic Alliance and European Security
in the 1990s “, am 17.5.1990: <https://www.nato.int/docu/speech/1990/s900517a_e.htm>
[34] siehe [24]
[35] ebd.
[36] ebd.
[37] New World Encyclopedia George F. Kennan„“, in 2023: <https://www.newworldencyclopedia.org/entry/George_F._Kennan>
[38] New York Times, Georg F. Kennan „A Fateful Error“, am 5.2.1997: <https://www.nytimes.com/1997/02/05/opinion/a-fateful-error.html>
[39] Truthdig publizistische Website, Emma Niles „Former Defense Secretary Warns Civilization Is at Risk“, am 1.9.2017: <https://www.truthdig.com/articles/former-defense-secretary-william-j-perry-on-the-nuclear-threat/>
[40] Miller Center Einrichtung der University of Virginia, Naftali „Robert M. Gates Oral History“, Interview, am 23. und 24.7.2000:  <https://millercenter.org/the-presidency/presidential-oral-histories/robert-m-gates-deputy-director-central>
[41] Brookings Denkfabrik, Steven Pifer „Did NATO Promise Not to Enlarge? Gorbachev says “No”“, am 6.11.2014: <https://www.brookings.edu/articles/did-nato-promise-not-to-enlarge-gorbachev-says-no/>
[42] Russia Beyond Zeitung, Maxim Kórshunov „Mikhail Gorbachev: I am against all walls“, am 16.10.2014: <https://www.rbth.com/international/2014/10/16/mikhail_gorbachev_i_am_against_all_walls_40673.html>
[43] Google books, M. E. Sarotte „Not One Inch“, in 2021: <https://www.google.no/books/edition/Not_One_Inch/4ghMEAAAQBAJ?hl=no&gbpv=1>
[44] Financial Times, Mary Elise Sarotte „‘Not one inch’: unpicking Putin’s deadly obsession with the details of history“, am 17.2.2023: <https://www.ft.com/content/24f81b4d-420e-4217-b498-cf13c6e254f2>
[45] siehe [23] <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early>
[46] Spiegel, Klaus Wiegrefe „Neuer Aktenfund von 1991 stützt russischen Vorwurf“, am 18.2.2022: <https://www.spiegel.de/ausland/nato-osterweiterung-aktenfund-stuetzt-russische-version-a-1613d467-bd72-4f02-8e16-2cd6d3285295>
[47] Twitter, Declassified UK „@derspiegel
find in UK archives shows that in 1991 the West “made it clear during…negotiations that we would not extend Nato beyond the Elbe”, the river that runs through Germany.
“, am 21.2.2022: <https://twitter.com/declassifiedUK/status/1495725360952094720/photo/1>
[48] Opinio Jurisf freie juristische Bibliothek, Paul Emtsev und Julia Emtseva „Why 2+4 Does Not Always Add Up: In Search of NATO`s Non Enlargement-Promises“, am 11.3.2022: <http://opiniojuris.org/2022/03/11/why-24-does-not-always-add-up-in-search-of-natos-non-enlargement-promises/>
[49] Belfer-Zentrum für Wissenschaft und internationale Angelegenheiten, Joshua R. Itzkowitz Shifrinson „Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion“, im Frühling 2016: <https://www.belfercenter.org/publication/deal-or-no-deal-end-cold-war-and-us-offer-limit-nato-expansion>
[50] National Security Archive, Gorbachev „Record of Dinner Conversation between Gorbachev, Bush, Gonzalez and King Juan Carlos of Spain“, am 29.10.1991: <https://nsarchive.gwu.edu/document/27269-document-6-record-dinner-conversation-between-gorbachev-bush-gonzalez-and-king-juan>
[51] National Security Archive „U.S. Policy to Gorbachev: “We Support the Center and You Personally” – New Documents Include USSR State Council Transcripts, Highest-Level Memcons“, am 21.12.2021: <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2021-12-21/end-soviet-union-1991>
[52] National Security Archive „Memorandum of Telephone Conversation, Bush-Yeltsin, December 8, 1991“:   <https://nsarchive.gwu.edu/document/27272-document-9-memorandum-telephone-conversation-bush-yeltsin-december-8-1991>
[53] siehe [49]
[54] Diplomatische Vertretung der USA in Deutschland „Treaty on the Final Settlement with Respect to Germany September 12, 1990“: <https://usa.usembassy.de/etexts/2plusfour8994e.htm>
[55] siehe [24]
[56] Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Definition der in der UN-Vertragssammlung verwendeten Schlüsselbegriffe: <https://treaties.un.org/Pages/overview.aspx?path=overview/definition/page1_en.xml>
[57] QIL (Questions fo International Law) E-Journal, Jean d’Aspremont „The International Court of Justice and tacit conventionality“, am 15.6.2015: <http://www.qil-qdi.org/the-international-court-of-justice-and-tacit-conventionality/>
[58] Internationaler Gerichtshof „STATUT JURIDIQUEDU GROËNLAND
ORIENTAL“, am 5.4.1933: <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/permanent-court-of-international-justice/serie_AB/AB_53/01_Groenland_Oriental_Arret.pdf>
[59] siehe [57]
[60]Amerikanische Gesellschaft für internationales Recht (ASIL), Frederic L. Kirgis „Treaties as Binding International Obligation“, am 14.5.2017:  <https://www.asil.org/insights/volume/2/issue/4/treaties-binding-international-obligation>
[61] GovInfo offizielle Website der Regierung der Vereinigten Staaten „TREATIES AND OTHER INTERNATIONAL AGREEMENTS: THE ROLE OF THE UNITED STATES SENATE“, im Januar 2001: <https://www.govinfo.gov/content/pkg/CPRT-106SPRT66922/html/CPRT-106SPRT66922.htm>
[62] Jstor Online-Archiv „Security Dialogue“, Vol. 26, publiziert von  Sage Publications, Ltd., am 3.9.1995:<https://www.jstor.org/stable/i26296480>
[63] Wikileaks „NYET MEANS NYET: RUSSIA’S NATO ENLARGEMENT REDLINES“, am 1.2.2008: <https://wikileaks.org/plusd/cables/08MOSCOW265_a.html>
[64] Deutsche Wellte (DW), Alistair Walsh, Rina Goldenberg „Angela Merkel opens up on Ukraine, Putin and her legacy“, am 7.6.2022: <https://www.dw.com/en/angela-merkel-opens-up-on-ukraine-putin-and-her-legacy/a-62052345>
[65] Amazon, William J. Burns  „The Back Channel: A Memoir of American Diplomacy and the Case for Its Renewal“, am 13.3.2019: <https://www.amazon.com/Back-Channel-American-Diplomacy-Renewal/dp/0525508864>
[66] siehe [63]
[67] Außenministerium der Russischen Föderation „Agreement on measures to ensure the security of The Russian Federation and member States of the North Atlantic Treaty Organization“, am 17.12.2021: <https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en>
[68] The Russian Quest for Peace and Democracy, Metta Spencer im Interwiew mit Egon Bahr „Egon Bahr, (common security idea) 1994“, am 28.4.1994: <http://russianpeaceanddemocracy.com/egon-bahr-1994>
[69] Regjeringen.no Webpräsenz der norwegischen Regierung „Enhancing deterrence and
defence on NATO’s northern flank“, publiziert von der RAND Corporation (Denkfabrik), in 2020: <https://www.regjeringen.no/contentassets/b6f5ea0d2d6248b4ae4131c554365e93/rand-rr-4381-enhancing-deterrence-and-defence-on-natos-northern-flank.pdf>
[70] Nuclear Threat Initiative (NTI) Friedens-Organisation, George P. Shultz, William J. Perry, Henry A. Kissinger, Sam Nunn „Toward a World without Nuclear Weapons“: <https://media.nti.org/pdfs/NSP_op-eds_final_.pdf>

Entwurf eines Beitrags zur aktuellen Debatte – Teil 1:

Hat Russland das Völkerrecht gebrochen?

Von Ola Tunander , veröffentlicht am: 18. März 2024, Kategorien: Krieg & Frieden

Dieser Text wurde zuerst am 05.10.2023 auf www.olatunander.substack.com unter der URL <https://olatunander.substack.com/p/did-russia-violate-international> veröffentlicht. Lizenz: © Ola Tunander

Der Plenarsaal des Sicherheitsrates, 16.11.2023. (Foto: Wikiweeki, Wikimedia Commons, CC-BY-4.0)

1. Einführung

Die UN-Charta wurde schon immer von verschiedenen Parteien im Sinne ihrer eigenen Interessen interpretiert. Im Konflikt mit der ukrainischen Regierung besetzt Russland derzeit knapp ein Fünftel des ukrainischen Territoriums. Während die westliche Welt Russland wegen “Verstoßes gegen das Völkerrecht” scharf verurteilt hat, bleibt festzustellen, dass die Vereinigten Staaten seit 2015 im Konflikt mit der syrischen Regierung bis zu einem Drittel des syrischen Territoriums besetzt haben. Westliche Kritik an der “Verletzung des Völkerrechts” durch die USA gab es nicht. Noch größere Teile palästinensischer Gebiete hat Israel seit 1967 besetzt, aber kein westliches Land hat sich in den Konflikt eingemischt und das palästinensische Volk umfassend militärisch unterstützt. Kein politischer Führer im Westen hat Israels Recht, das Land anderer zu besetzen, ernsthaft in Frage gestellt. Offensichtlich wurde also das Völkerrecht als politisches Instrument für bestimmte Interessen benutzt.

Wenn wir über Russlands Einmarsch in die Ukraine und die Frage diskutieren, ob er gegen das Völkerrecht verstößt, müssen wir uns fragen: Welche Interessen stehen hinter diesem oder jenem Argument? Dabei müssen wir uns sowohl mit dem Völkergewohnheitsrecht als auch mit dem genauen Wortlaut der UN-Charta befassen und deren verschiedene Auslegungen betrachten. Auch müssen wir prüfen, was wir für moralisch akzeptabel halten, was nicht unbedingt mit dem völkerrechtlich Zulässigen übereinstimmt. Und wir können die russischen Argumente nicht einfach beiseite schieben. Wir müssen uns eingehend mit der russischen Perspektive befassen. Ihre Argumente zu ignorieren wäre nur ein Rezept zur Eskalation des Konflikts und den Dritten Weltkrieg. In diesem Artikel werden wir die russische und die westliche Sichtweise auf den Konflikt untersuchen und versuchen herauszufinden, welche Interpretation mehr mit dem Völkerrecht und der UN-Charta übereinstimmt.

Alle Kriege – auch Verteidigungskriege – sind brutal, und Tausende, im Falle der Ukraine Hunderttausende von Menschen werden auf dem Schlachtfeld getötet. Es ist schwierig, eine solche Brutalität zu rechtfertigen, auch wenn diese Aktionen nach der UN-Charta legal sein mögen. Wir müssen sowohl über die Brutalität eines bestimmten Krieges als auch über die Absichten hinter diesem Krieg diskutieren. Benjamin Ferencz, Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, sagte [1]: “Ein Verbrechen gegen den Frieden [ein Angriffskrieg] ist selbst das schlimmste aller Verbrechen”. Es besteht kein Zweifel an der Schwere dieser Verbrechen, aber wer ist dafür verantwortlich? Inwieweit ist eine militärische Intervention streng genommen ein “Angriffsakt”, ein “Friedensbruch”? Inwieweit ist sie eine “Vergeltung” für frühere Verbrechen? Und inwieweit wird eine solche Intervention von einem Akteur eingeleitet, der “in die Enge getrieben” wird? Das Völkerrecht soll diese Schwierigkeiten bewältigen, aber um es klar zu sagen: Rache kann nicht “unser Ziel” sein, wie Ference sagte.

In den Vereinigten Staaten haben sich viele Rechtswissenschaftler für eine “weite” Auslegung des Völkerrechts ausgesprochen.

Einerseits, weil die Vereinigten Staaten als Atommacht eigene “legitime Interessen” haben, die sich von denen kleinerer Staaten unterscheiden. So wollen sie z. B. die Möglichkeit behalten, ihre eigenen strategischen Atomwaffen zu schützen. Zum anderen aber auch, weil die USA ihre wiederholten militärische Drohungen und Invasionen rechtfertigen wollten. Und von diesen kann man kaum sagen, dass sie im Einklang mit der UN-Charta standen.

Hinsichtlich Russlands Einmarsch in der Ukraine bevorzugen die USA jedoch eine “enge” Auslegung, um die russische Legitimität zu untergraben. Russland hingegen hat sich bewusst für die amerikanische Argumentation entschieden, die die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit mehr oder weniger erfolgreich angewendet haben. Während viele Europäer einer “engen” Auslegung des Völkerrechts zuneigen, befürworten ihre politischen Führer vielleicht doch eher die “weitere” Interpretation, sofern es ihnen in den Kram passt. Das gilt natürlich nicht, wenn es um Russland geht. Die neokonservative Elite der USA behaupten dagegen, sie führen einen globalen Kampf, einen “politischen Krieg” gegen Staaten wie Russland und China. Ein solcher Krieg gegen andere wäre streng genommen eine Verletzung von Völkerrecht und UN-Charta. Einen Konsens wird man hier wohl kaum finden. Wir müssen uns also jede militärische Operation einzeln ansehen, um festzustellen, ob sie gegen das Völkerrecht verstößt oder nicht.

Screenshot: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (DGVN), erstellt am 14.2.2024 – 14:46:17 Uhr, https://dgvn.de/un-im-ueberblick/geschichte-der-un)

Das Völkerrecht (UN-Charta Artikel 2; 4) enthält ein absolutes Verbot der Invasion anderer Staaten. Ebenso absolut ist das Verbot, mit Gewaltanwendung zu drohen. In Europa ist das für viele Menschen unproblematisch. Was aber, wenn eine Drohung von Gewaltanwendung so ernst ist, dass der bedrohte Staat keine andere Möglichkeit hat, als zur Selbstverteidigung anzugreifen?

Atomwaffen sind zweifellos eine Bedrohung für die andere Seite. Der Internationale Gerichtshof [2] (IGH) kam zu dem Schluss, dass “die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich gegen das Völkerrecht verstößt”, aber möglicherweise rechtmäßig ist, wenn “das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht” [3]. Dennoch hat sich die nukleare Abschreckung zu einem System von Drohungen entwickelt, das den einzelnen Staaten Sicherheit bieten soll. Diese Drohungen sind grundsätzlich völkerrechtswidrig. Trotzdem kann man versuchen, die unmittelbare Bedrohung für andere dadurch zu verringern, dass man grenznahes Stationieren vermeidet[4].

[Anmerkung der Redaktion: Orig. „Forward Deployments“ darunter versteht man entweder Stationierungen von Truppen, militärischem Gerät, darunter z.B. auch Atomwaffen, nahe der Grenze eines anderen Staates oder auch auf Auslandsbasen, also auf fremdem Territorium].

Solche Stationierungen sind bedrohlich – doch das ist oft auch beabsichtigt. Diese Waffen können sogar als eine “existenzielle Bedrohung” für die andere Seite angesehen werden. Dieser Staat sieht sich dann möglicherweise einer überwältigenden Bedrohung gegenüber und damit vor der Wahl, entweder zuerst – also präventiv – anzugreifen oder auf jede Möglichkeit der Verteidigung zu verzichten.

Die norwegische Politik hinsichtlich seines Grenzbezirks zur Sowjetunion (Finnmark) ab 1949 sowie die norwegische Atomwaffen- und Stützpunktpolitik zeigen, dass sich Norwegen dieser Herausforderung durchaus bewusst war. Die US-Streitkräfte in Nordnorwegen und die US-Stützpunkte in Norwegen würden als direkte Bedrohung für die sowjetischen strategischen Militärstützpunkte auf der Kola-Halbinsel empfunden werden. Im Falle einer Krisensituation würden solche Streitkräfte das Risiko eines russischen Präventivschlags auf Norwegen (um den Amerikanern zuvorzukommen) erhöhen. In der Vergangenheit haben die nordischen Länder dieses Problem sehr ernst genommen. Sie haben eine “neutrale” Pufferzone oder “Zone niedriger Spannung” zwischen Ost und West eingerichtet. Ab 2022 haben Finnland und Schweden jedoch beschlossen, ihre Neutralität aufzugeben, und Norwegen hat nach einem Parlamentsbeschluss im Juni 2022 vier US-Stützpunkte in Norwegen akzeptiert: drei Luftwaffen- und einen Marinestützpunkt. Damit haben diese Länder ihre traditionelle Entspannungspolitik aufgegeben. Das ist ein radikaler Bruch mit der nordischen Politik seit dem Kalten Krieg.

Am 17. Dezember 2021 hatte Russland ähnliche “nordische” Beschränkungen für seine Nachbarn im Westen vorgeschlagen: Neutralität für die Ukraine, einige “norwegische” Beschränkungen für Atomwaffen sowie die ausländischen Stützpunkte in Polen und andere mitteleuropäische Staaten [5]. Aber Norwegens ehemaliger Ministerpräsident und jetziger NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollte die Angelegenheit nicht einmal diskutieren. Professor Jeffrey Sachs von der Columbia University wandte sich an das Weiße Haus und sagte: “Es wird Krieg geben, wenn die USA keine diplomatischen Gespräche mit Präsident Putin über diese Frage der NATO-Erweiterung aufnehmen.

Mir wurde gesagt, die USA werden das niemals tun. Das sei vom Tisch. Und […] jetzt haben wir einen Krieg, der außerordentlich gefährlich ist.” “Die Vereinigten Staaten lehnten jegliche Diplomatie ab”. [6] Das ist eine “bemerkenswerte Hybris”, sagte Sachs [7]. Die Sicherheit eines Staates könne nicht auf Kosten der Sicherheit anderer hergestellt werden. Jens Stoltenberg erklärte dagegen, dass es jedem Land freistehe, der NATO beizutreten und darüber zu entscheiden, welche Waffen diese Länder auf ihrem Territorium wollen.

Mit anderen Worten: Wir sprechen von zwei sehr unterschiedlichen Auffassungen über europäische Sicherheit. Und darum geht es im Wesentlichen im aktuellen Krieg in der Ukraine.

Screenshot: The Conversation, erstellt am 14.2.2024 – 15:45:10 Uhr, https://theconversation.com/ukraine-crisis-putin-recognizes-breakaway-regions-biden-orders-limited-sanctions-5-essential-reads-177508)

Werfen wir zunächst einen Blick auf die ersten Zeilen der UN-Charta [8]. Kapitel 1 (Artikel 1) beginnt mit:

„Die Ziele der Vereinten Nationen sind: (1) den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck: wirksame kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen oder andere Friedensbrüche zu unterdrücken und mit friedlichen Mitteln und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts eine Regelung oder Beilegung internationaler Streitigkeiten oder Situationen herbeizuführen, die zu einem Friedensbruch führen könnten; (2) freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln, die auf der Achtung des Grundsatzes der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker beruhen, und andere geeignete Maßnahmen zur Stärkung des Weltfriedens zu ergreifen; [… Artikel 2. Die Vereinten Nationen] handeln in Übereinstimmung mit den folgenden Grundsätzen. […] (4) Alle Mitglieder enthalten sich in ihren internationalen Beziehungen der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates”.

Die UN-Charta spricht von der Wahrung des “Weltfriedens”, der “Beseitigung von Bedrohungen des Friedens”, von “Friedensbrüchen” und der “Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen”. Jede Nation soll sich sowohl der “Androhung” von Gewalt als auch der “Anwendung von Gewalt” gegen die andere Nation enthalten, aber jede Nation hat auch das Recht auf “individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs […], bis der Sicherheitsrat die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat” (Art. 51). Die UN-Charta ist hier allgemein formuliert, und man kann dies unterschiedlich interpretieren. Aber die Sprache der Charta betont die Bedeutung der “Erhaltung des Friedens” und “freundschaftlicher Beziehungen”, nicht das Recht, die Stabilität eines Rivalen zu untergraben. In der UN-Charta geht es nicht nur darum, die Souveränität eines jeden Staates zu schützen, sondern auch darum, von Drohungen und Handlungen abzusehen, die andere Staaten bedrohen. Aber auch [die Besonderheiten] moderner Waffensysteme, insbesondere von Atomwaffen, müssen berücksichtigt werden. Auf absehbare Zeit müssen wir die Rolle der nuklearen Abschreckung als Bedrohung anderer Staaten und damit als Verstoß gegen die UN-Charta akzeptieren, aber wir können die unmittelbare Bedrohung und die Auswirkungen solcher Verstöße verringern, indem wir vorgerückte und damit provokative Stationierungen vermeiden.

2. Was waren die russischen Ziele?

Für viele Menschen im Westen ist der Ausgangspunkt, dass Russland mit seiner Invasion versucht habe und immer noch versucht, die Ukraine zu erobern. Sie sagen, dass Russland diesen Krieg selbst zu verantworten hätte, dass es sich um “einen Krieg der Willkür” [9] handele, um Mark Miley zu zitieren, den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der USA.

Wladimir Putin hingegen bezeichnet den Krieg als “existenziell” [10]. In Russland werden die westlichen Waffen in der Ukraine in der Nähe Moskaus als “existenzielle Bedrohung” wahrgenommen, die einen Angriff zur “Selbstverteidigung” erforderlich machen könnte, ähnlich wie die sowjetischen Raketen auf Kuba 1962 von den USA wahrgenommen wurden.

Diese russische Erklärung wurde im Westen oft als “Propaganda” bezeichnet, aber der Nachrichtendienst der US-Verteidigung hat auch erklärt, dass diese russische Behauptung ernst gemeint ist. Vincent Stewart, Direktor des US-Verteidigungsnachrichtendienstes (DIA), sagte dem Kongress (Dezember 2015) [11]: “Der Kreml ist überzeugt, dass die Vereinigten Staaten die Grundlagen für einen Regimewechsel in Russland schaffen. Diese Überzeugung wird durch die Ereignisse in der Ukraine weiter gestärkt. Moskau sieht die Vereinigten Staaten als die entscheidende treibende Kraft hinter der Krise in der Ukraine und glaubt, dass der Sturz des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch der jüngste Schritt in einem seit langem etablierten Muster von durch die USA orchestrierten Regimewechsel-Bemühungen ist.” (Bericht des Kongresses, zitiert von Ray McGovern, 2023 [12]). Putins Verständnis der Bedrohung als “existenziell” wurde von der DIA nicht in Frage gestellt.

Die Wahrnehmungen Moskaus sind ausschlaggebend dafür, dass Russland gewaltsam in die Ukraine eingedrungen ist. Das russische Territorium hat sich seit dem 18. Jahrhundert nicht wesentlich verändert. Russland hat sein Territorium nicht erweitert, ganz im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, die ihr Territorium im 19. Jahrhundert um mehr als ein Drittel vergrößert haben. Die Erfahrungen mit westlichen Armeen, die im 18. Jahrhundert unter Karl XII., im 19. Jahrhundert unter Napoleon und im 20. Jahrhundert unter Adolf Hitler und den Nazis in Russland einmarschierten, haben das russische Verständnis des Westens geprägt.

Die russische Führung ist davon überzeugt, dass diese Expansionspolitik im Westen unter dem Deckmantel des Liberalismus und des Völkerrechts immer noch vorherrscht. Der frühere US-Verteidigungsminister (und spätere Vizepräsident) Richard Cheney hat dies 1991 nicht nur durch sein Drängen auf die Auflösung der Sowjetunion, sondern auch auf die Auflösung Russlands als Staat illustriert, und Robert Gates, der ehemalige Direktor des US-Geheimdienstes CIA, hat es 2016 ausgesprochen. [13].

Die russische Führung ist davon überzeugt, dass es bei der US-Politik gegenüber der Ukraine seit 2008 (Angebot der NATO-Mitgliedschaft), den Ereignissen im Jahr 2014 und der militärischen Aufrüstung ab 2016 nicht in erster Linie um die Ukraine geht, sondern um die Vorbereitung eines Angriffs auf Russland. In Russland wurde Wladimir Putin dafür kritisiert, zu spät zu handeln. Der Krieg in der Ukraine wird als ein Krieg um die Existenz [Russlands] betrachtet, auch von Putin. Aber woher wissen wir, ob dieser “existenzielle Krieg” nicht auch mit der Absicht begonnen wurde, ukrainisches Gebiet zu “erobern”? Ist dieser Krieg nur ein Angriff zur “Selbstverteidigung”?

Hier müssen wir uns fragen, ob es objektive Kriterien gibt, um dies festzustellen.

Die Präsidenten George H. W. Bush und Michail Gorbatschow unterzeichnen im East Room des Weißen Hauses Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, 1.6.1990. (Foto: George Bush Presidential Library and Museum, Wikimedia Commons, CC-PD-Mark)

Wir wissen, wie viel militärische Gewalt als notwendig erachtet wird, um ein fremdes Land zu besetzen. Die Russen machen sich sicherlich keine Illusionen über die ukrainischsprachige Bevölkerung der Westukraine und deren historische Antipathien gegenüber den Russen. Wir wissen auch, dass Russland mit insgesamt hundertsiebzig- bis hundertachtzigtausend Mann in die Ukraine einmarschiert ist (Mark Milley [14]), einschließlich Logistikpersonal. Die Vereinigten Staaten meldeten im Februar 2022 130.000 Soldaten (CNN). Ein Versuch, die Ukraine zu besetzen, würde ein Vielfaches an Truppen erfordern. Nach westlicher Militärtheorie wäre für eine Besetzung mindestens ein Mann pro 50 Einwohner erforderlich [15]. Bei der damaligen Bevölkerungszahl der Ukraine von 44 Millionen würde dies eine Truppe von fast einer Million Soldaten erfordern, also mehr als das 5…8-fache der Truppen, mit denen Russland am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist. Aber höchstwahrscheinlich würde Russland auf Nummer sicher gehen.

Bei der Besetzung der Tschechoslowakei 1968 setzte Moskau eine Truppe ein, die pro Kopf der Bevölkerung mehr als zehnmal so groß war [16].

Und als Nazi-Deutschland Norwegen besetzte, gab es lange Zeit eine deutsche Truppe von mehr als 300.000 Mann, also etwa ein Mann pro 10 Norweger. Hätte Russland also die Absicht gehabt, die Ukraine zu erobern, wäre es höchstwahrscheinlich mit einer mindestens zehnmal so großen Truppe oder mit 1,5 … 2 Millionen Mann angerückt.

Dass für eine Besetzung eine so große Truppe erforderlich wäre, war russischen Militärplanern bekannt. Außerdem hat die derzeitige russische Führung Erfahrungen aus den 1980er Jahren. Die Versuche Moskaus, Länder wie Polen und Afghanistan zu kontrollieren, erwiesen sich als unmöglich. Nach rein objektiven Kriterien können wir sagen, dass die russischen Streitkräfte, die in die Ukraine einmarschierten, keineswegs in der Lage waren, dieses Land zu erobern. Außerdem deutet die Erfahrung mit der russischen Führung kaum darauf hin, dass sie an einer solchen Eroberung interessiert war. Die russischen Streitkräfte waren jedoch möglicherweise in der Lage, die Ostukraine, das russischsprachige Donezk und Lugansk, vor einem Angriff Kiews zu schützen.

Zumindest dürfte dies ihre Absicht gewesen sein. Nach Angaben der OSZE begann Kiew Mitte Februar mit massivem Artilleriebeschuss auf diese Gebiete [17]. Ein westukrainischer Angriff auf den Donbass wurde bereits seit mehreren Jahren vorbereitet. Im Februar 2022 konnte man sich leicht vorstellen, dass Zehntausende Russen und Russischsprachige bei dem bevorstehenden Angriff, auf den ich weiter unten zurückkommen werde, getötet werden würden.

Dies bedarf einer Erklärung. Es gibt viele Behauptungen, dass Russland im Jahr 2014 Truppen in der Ostukraine, im Donbass, stationiert habe. Der ehemalige NATO-Vertreter Jacques Baud (2022) schreibt [18]:

„In einer vom Europäischen Parlament im September 2014 angenommenen Entschließung war von einer ‘direkten militärischen Intervention‘ die Rede, von einer Verletzung des Waffenstillstands ‘durch hauptsächlich reguläre russische Truppen‘ und von einer ‘starken militärischen Präsenz Russlands auf ukrainischem Gebiet‘. Dies war offensichtlich falsch: Die Anschuldigungen stammten vom polnischen Geheimdienst, wurden aber nie von OSZE-Beobachtern bestätigt. [Präsident Petro Poroschenko behauptete, Russland sei mit “200.000 Mann” in die Ukraine eingedrungen, aber es wurden nie russische Truppen beobachtet. Im Januar 2015 bestätigte der Chef des ukrainischen Generalstabs, General Viktor Muschenko,] dass sich keine russischen Truppen in der Ukraine befänden und nur einige russische Freiwillige beobachtet worden seien. Seine Behauptung wurde im Oktober 2015 von General Vasyl Hrytsak, dem Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU), bestätigt. Dieser sagte, dass seit Beginn der Kämpfe in der Ostukraine nur 56 russische Soldaten beobachtet worden seien. […] Die OSZE hat keine Beobachtungen gemacht, die russische Truppen in der Ukraine bestätigen. [Die OSZE sagte, dass] die von den Rebellen verwendete militärische Ausrüstung oft die gleiche ist wie die der ukrainischen Armee, weil die Rebellen ihre Ausrüstung [von abtrünnigen Kräften] übernommen haben.”

Im Jahr 2014 hatte Wladimir Putin zugestimmt, Donezk und Lugansk in begrenztem Umfang russische Unterstützung zu gewähren. Die Bitten der beiden Republiken Donezk und Lugansk um eine russische Intervention zum Schutz deren Bevölkerung hatte er aber abgelehnt. Behauptungen im Westen, russische Truppen seien damals in die Ukraine einmarschiert, waren reine Propaganda.

Putin hatte Donezk und Lugansk die kalte Schulter gezeigt [19]. Die Ukraine verfügte damals nicht über eine Berufsarmee. Wenn Russland die Ukraine hätte erobern wollen, hätte es das tun können. Darüber sind sich inzwischen Vertreter sowohl der US-Armee als auch der ukrainischen Armee einig (siehe unten). Stattdessen akzeptierte Putin das Minsker Abkommen, das die Ostukraine als Teil des ukrainischen Staates anerkennt, obwohl die Republiken Donezk und Lugansk ihn um Schutz gebeten hatten. Im Gegensatz zu einigen russischen Generälen und einem Großteil der Bevölkerung in der Ostukraine wollte Putin, dass die Ostukraine weiterhin Teil des ukrainischen Staates bleibt. Putin rückte nicht mit russischen Truppen ein, obwohl Kiew in der Ostukraine Tausende von Russen oder russischsprachigen Menschen tötete.

Putin hoffte, dass die beträchtliche russischsprachige Bevölkerung im Osten in der Lage sein würde, den ukrainischen Extremismus im Westen zu neutralisieren. Die russischsprachige Bevölkerung war keine kleine Minderheit. Sie hatten die Präsidentschaftswahlen 2010 mit Viktor Janukowitsch (der aus Donezk stammte) gewonnen, und 2019 wurde Wolodymyr Zelenskij mit Unterstützung der Russen zum Präsidenten gewählt, nachdem er eine friedliche Lösung für die Ostukraine im Einklang mit dem Minsker Abkommen versprochen hatte. Wladimir Putins Unterstützung für das Minsker Abkommen widerlegt eindeutig die Behauptung, er wolle die Ukraine erobern oder besetzen.

Am 24. Februar, dem Tag des Einmarsches, sagte Putin in seiner Rede [20]: “Es ist nicht unser Plan, das ukrainische Gebiet zu besetzen”. Auch gab es in seiner Rede keinerlei Hinweis darauf, dass er die Ukraine besetzen wollte oder dahingehende Interessen hätte. Solche Behauptungen sind Teil der Propagandakampagne – einer Propaganda, die inzwischen die westlichen Medien beherrscht. Russland versuchte zunächst, Kiew einzukreisen, um die Führung zu Verhandlungen zu zwingen und große ukrainische Streitkräfte zu binden, um die Kämpfe im Osten zu erleichtern. Die Russen wussten auch, dass es schwierig sein würde, die befestigten ukrainischen Streitkräfte vom Osten aus anzugreifen. Mehrere Jahre lang baute die Ukraine Befestigungen, die sich durch die beiden östlichen Republiken zogen. Ab Januar 2022 hatte die Ukraine 120.000 Soldaten stationiert, die bereit waren, Donezk und Lugansk einzunehmen (siehe unten). Russland wusste auch, dass es vom Norden und vom Süden her angreifen musste, unterschätzte aber wahrscheinlich die Kriegsvorbereitungen der Ukraine und die Unterstützung durch die USA. Die USA konnten alles per Satellit verfolgen. Dadurch waren die ukrainischen Streitkräfte besser auf die russische Invasion vorbereitet als die russischen Soldaten selbst. Die Ukraine ließ die Russen in die Nähe von Kiew vordringen und überfiel sie dann aus dem Hinterhalt. Doch die überlegene russische Feuerkraft zwang die Ukraine in mehreren Gebieten zum Rückzug. Nach den Fortschritten bei den Verhandlungen im März 2022 erklärte Russland, dass es das Gebiet um Kiew als “Geste des guten Willens” [21, 22] verlassen würde, was es auch tat. Moskau versuchte, Verluste zu vermeiden. Nichts deutete darauf hin, dass Russland zu diesem Zeitpunkt an einer Besetzung dieser Gebiete interessiert war. Vielmehr wollten die Russen die Sicherheit von Donezk und Lugansk garantieren.

Wenn es aber bei der russischen Invasion nicht um die Eroberung der Ukraine, eine Wiederherstellung des russischen Reiches oder der Sowjetunion ging, so müssen wir uns fragen, was der Auslöser für die russische Invasion war.

Gespräche im Normandie-Format in Minsk: Angela Merkel, Francois Hollande, Petro Poroschenko und Wladimir Putin nehmen an den Gesprächen über eine Lösung der Situation in der Ukraine teil, 11.2.2015. (Foto: Das Presse- und Informationsamt des russischen Präsidenten, Wikimedia Commons, CC-BY-4.0)

3. Die russischen Erfahrungen mit der NATO-Erweiterung

Wir wissen heute, dass zwischen 1990 und 1993 alle politischen Führer der USA, Westdeutschlands, Frankreichs und Großbritanniens (Bush und Baker, Kohl, Genscher und Wörner, Mitterrand und Thatcher, Major und Hurd) Michail Gorbatschow [23] und Boris Jelzin [24] definitiv versprachen, die NATO nicht über Westdeutschland hinaus zu erweitern. Der amerikanische Präsident Reagan (1981 bis 1989) hatte bereits vor dem Amtsantritt von George H.W. Bush (1989 bis 1993) zugesagt, die Sowjets gleichberechtigt und mit Respekt zu behandeln. Wir sollten nicht als Gewinner des Kalten Krieges auftreten, sagte Jack Matlock, US-Botschafter in Moskau [25]. Matlock hatte 1985 die politische Agenda für Präsident Reagan umrissen und nahm an den Gesprächen Baker – Gorbatschow teil.

Im Februar 1990 sagte der US-Außenminister James Baker [26]:

“Weder der Präsident [Bush] noch ich beabsichtigen, irgendwelche einseitigen Vorteile aus den stattfindenden Prozessen zu ziehen.” Und er fügte hinzu: “Wenn wir eine Präsenz in einem Deutschland aufrechterhalten, das Teil der NATO ist, würde es keine Ausdehnung der NATO-Zuständigkeit für NATO-Kräfte um einen Zoll nach Osten geben”.

Michail Gorbatschow ergänzte [27]: “Natürlich wäre jede Erweitung der NATO-Zone inakzeptabel”. Es “versteht sich von selbst, dass eine Ausweitung der NATO-Zone inakzeptabel wäre”, sagte er. Baker antwortete [28]: “Wir stimmen dem zu”. Am nächsten Tag schrieb Baker an den deutschen Bundeskanzler Kohl und erklärte: “Im Umkehrschluss könnte die NATO in ihrer derzeitigen Zone akzeptabel sein”. Kohl sagte zu Gorbatschow, dass “die NATO ihren Aktionsradius nicht ausweiten sollte”. Präsident Mitterrand wollte sowohl den Warschauer Pakt als auch die NATO abschaffen [29], aber Helmut Kohls Außenminister Hans-Dietrich Genscher sagte: “Wir wollen das NATO-Gebiet nicht erweitern, aber wir wollen auch nicht aus der NATO austreten”. Das haben alle zu Gorbatschow gesagt.

Genscher sagte am selben Tag dem britischen Außenminister Douglas Hurd [30]: “Polen sollte nicht aus dem Warschauer Pakt austreten können, um dann der NATO beizutreten. Die Russen müssen gewisse Zusicherungen haben”. “Wir wollen nicht nach Osten expandieren”, sagte er. Baker wiederholte die Worte Genschers. Die NATO werde sich nicht erweitern: “Kein Zentimeter des derzeitigen militärischen Zuständigkeitsbereichs der NATO wird sich in Richtung Osten ausdehnen”. Dies war eine Voraussetzung für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, für den sowjetischen Abzug von 350.000 Mann aus Ostdeutschland und schließlich für die Auflösung des Warschauer Paktes im Jahr 1991. Im März 1991, als die Polen über einen NATO-Beitritt gesprochen hatten, sagte der britische Premierminister John Major zu Gorbatschow und dem sowjetischen Verteidigungsminister Dmitrij Jasow [31]: “Nichts dergleichen wird geschehen”. Es wird keine Mitgliedschaft für diese Länder geben. NATO-Generalsekretär Manfred Wörner sagte im Juli 1991 [32]: “Wir sollten […] die Isolierung der UdSSR von der Europäischen Gemeinschaft nicht zulassen”, und “Wörner betonte, dass der NATO-Rat und er gegen eine Erweiterung der NATO sind (13 von 16 NATO-Mitgliedern unterstützen diesen Standpunkt).” Bereits im Mai 1990 sagte er in einer von der NATO veröffentlichten Rede [33]:

“Allein die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen über das Gebiet der Bundesrepublik hinaus zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.”

Als Boris Jelzin im Dezember 1991 Michail Gorbatschow [im Wahlkampf; Anm. d. Red.] ausmanövrieren konnte, bekamen die USA einen russischen Führer, der den Amerikanern zu Dank verpflichtet war (die CIA hatte Jelzin im russischen Machtkampf 1991 mit Zustimmung von Präsident Bush unterstützt). Aber Jelzin war immer noch gegen jede NATO-Erweiterung [34]. Er behauptete 1993, der deutsche Einigungsvertrag schließe eine NATO-Erweiterung aus. Für Präsident Jelzin würde eine NATO-Erweiterung nur zu einer “Demütigung” führen. Präsident Bill Clinton sagte 1995 [35]: “Ich werde keine Veränderung unterstützen, die Russlands Sicherheit untergräbt oder Europa neu aufteilt”. Die Entscheidung über die NATO-Erweiterung war jedoch bereits 1993 getroffen worden. In einem freigegebenen russischen Dokument aus dem Jahr 1995 heißt es, dass die NATO-Erweiterung (1) die russische Sicherheit bedrohen, (2) die Idee einer integrativen europäischen Sicherheit, die Gorbatschow und Jelzin anstrebten, untergraben und (3) eine neue Linie quer durch Europa ziehen würde [36].

(Karten: wikifreund, Wikimedia Commons, erstellt am 6.11.2006 (1) und am 13.5.2007 (2), CC BY-SA 3.0)

Der Vater der NATO-Strategie zur Eindämmung [Russlands], Botschafter George Kennan, bezeichnete den US-Vorschlag zur NATO-Erweiterung als einen Fehler “epischen Ausmaßes” [37] (1996), “den verhängnisvollsten Fehler der US-Politik” [38] (1997). US-Verteidigungsminister William Perry (1994-97) war “gegen” die Erweiterung [39]. Es war demütigend für Russland, und Perry fügte 2017 hinzu: “Der Grund für Putins heutige Beliebtheit in Russland ist, dass er Russland erlaubt hat, sich als Großmacht zu behaupten, um diese Demütigung zu überwinden”. Selbst der damalige CIA-Direktor Robert Gates (1991 – 93 und spätere Verteidigungsminister) sagte im Jahr 2000, er sei besorgt über die Folgen einer “forcierten NATO-Osterweiterung, obwohl man Gorbatschow und andere glauben ließ, dass dies nicht passieren würde” [40].

In neueren Büchern und Artikeln wird behauptet, Gorbatschow seien niemals Versprechungen gemacht worden. Der ehemalige US-Botschafter in der Ukraine, Steven Pifer, behauptete 2014 in einem Artikel für die <i>Brookings Institution</i> [eine Denkfabrik in den Vereinigten Staaten, Anm. d. Red.], Gorbatschow habe in einem Interview gesagt, ihm seien keine Versprechungen gemacht worden und das “Thema ‘NATO-Erweiterung’ überhaupt nicht diskutiert wurde” [41]. Bei Bakers “keinen Zentimeter” ging es um die Erweiterung der NATO nach Osten bis nach Ostdeutschland, so Pifer, aber sein Zitat gibt nicht das wahre Bild wieder. Im selben Interview, ein paar Zeilen später, sagt Gorbatschow [42]:

„Für die USA und ihre Verbündeten wurde die Entscheidung, die NATO nach Osten zu erweitern, 1993 endgültig getroffen. Ich habe dies von Anfang an als einen großen Fehler bezeichnet. Es war definitiv ein Verstoß gegen den Geist der Erklärungen und Zusicherungen, die uns 1990 gegeben wurden.“

Ähnlich wie Pifer behauptete die Yale-Historikerin Mary Elise Sarotte, Genscher und Baker hätten “spekuliert”, die NATO nicht nach Osten zu bewegen, “weil sie dachten, dadurch die deutsche Wiedervereinigung für Moskau erträglicher machen zu können” [43]. Aber was Baker, Genscher und andere führende Politiker dachten, spielt keine Rolle. Was zählt, ist, was sie Gorbatschow sagten, und ihre Versprechen sind in Sitzungsprotokollen und anderen Aufzeichnungen im National Security Archive in Washington gut dokumentiert. Sarotte sagt [44]: “Ende Februar [1990 … bestand Präsident Bush] darauf, dass der Außenminister [Baker] solche Formulierungen [‘Not one inch’] nicht mehr verwendet”, aber sowohl Bush als auch Baker sprachen immer noch von einem gesamteuropäischen Prozess und einem “europäischen Haus”, das ein Europa voraussetzen würde, in dem sich die NATO nicht nach Osten ausdehnt, um Europa zu spalten [45]. Aus einem Dokument (6. März 1991) [46] geht hervor, wie alle vier Westmächte darin übereinstimmten, dass eine NATO-Mitgliedschaft der mitteleuropäischen Staaten “inakzeptabel” [47] wäre:”

“Sicherheit in Mittel- und Osteuropa – Zusammenfassung: […] Allgemeine Übereinstimmung, dass die Mitgliedschaft in der NATO und Sicherheitsgarantien inakzeptabel sind. […] Wir haben bei den 2+4-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus erweitern werden. Daher konnten wir Polen und den anderen nicht die Mitgliedschaft in der NATO anbieten. [Der US-Vertreter Raymond Seitz bestätigte während dieses Treffens, dass der Westen den Sowjets klar gemacht habe [48]: Die NATO sollte sich weder formell noch informell nach Osten erweitern.”

Seinen letzten Morgen erlebte der Kontrollpunkt der Westalliierten im Herzen Berlins, der als “Checkpoint Charlie” in die Geschichte eingegangen ist. Zum Auftakt der Zwei-plus-Vier-Außenminstergespräche wurde das Wachgebäude in Anwesenheit hoher Politprominenz demontiert und – “ging in die Luft”, 22.6.1990. (Foto: Peer Grimm, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0-DE)

Das Dokument wurde 2022 vom Historiker des Wilson Center, Joshua Shifrinson, in den britischen Nationalarchiven gefunden. In einem Artikel in der Zeitschrift „International Security“ aus dem Jahr 2016 [49] zeigte er auf, wie Baker darüber sprach, die NATO nicht zu erweitern, und über paneuropäische Institutionen, während der nationale Sicherheitsberater der USA, Brent Scowcroft (offiziell Assistent des Präsidenten für nationale Sicherheitsfragen), Bush bereits im Dezember 1989 aufforderte, dafür zu sorgen, “dass ein wiedervereinigtes Deutschland seine Verbindungen zur NATO aufrechterhält” und gleichzeitig “eine viel robustere und konstruktivere Rolle der USA in der Mitte Europas” zu ermöglichen. Die USA sollten sich “zwischen Deutschland und Russland in Mitteleuropa” positionieren. Dementsprechend sollten die USA die NATO auf Polen und andere Länder ausweiten, während Baker zu Gorbatschow das Gegenteil sagte. Baker erklärte Gorbatschow auch, dass die KSZE (ab 1995 OSZE) “ein wichtiger Eckpfeiler des neuen Europas” sei, während er Scowcroft und Bush insgeheim mit den Worten warnte, dass die “wahre Gefahr für die NATO die KSZE” sei. Präsident Bush erschien als doppelgesichtiger Januskopf, der auf taktischer Ebene eng mit Gorbatschow zusammenarbeitete, während er die Sowjets auf strategischer Ebene zum Rückzug zwang. Bush zollte Gorbatschow Respekt und Gorbatschow drückte Bush sein aufrichtiges Vertrauen aus [50], während die CIA mit Bushs Zustimmung Boris Jelzin in seinem Machtkampf gegen Gorbatschow unterstützte. Als Jelzin und seine ukrainischen und weißrussischen Kollegen den Beschluss gefasst hatten, die Sowjetunion abzuschaffen [51], rief Jelzin nicht Gorbatschow an, um ihm mitzuteilen, dass er Präsident von NICHTS sei, sondern er rief Präsident Bush an und überbrachte ihm diese Nachricht [52]. Die Versprechen von Präsident Bush an Gorbatschow waren nichts als Täuschung. Shifrinson kommt zu dem Schluss, “dass die Vereinigten Staaten die sowjetischen Schwächen ausnutzten, obwohl sie vor allem gegenüber Gorbatschow eine kooperative Fassade aufbauten” [53]. Diese “kooperative Fassade” war das, was von Matlocks politischer Agenda für Präsident Reagan übrig geblieben war. Die Bush-Regierung gewann Gorbatschow für sich, indem sie eine Reihe mündlicher Zusagen machte, ohne die Absicht zu haben, diese einzuhalten.

Man könnte argumentieren, dass es keinen Vertrag an sich gibt, außer im Fall der deutsch-deutschen Vereinigung (formell der Vertrag über die endgültige Regelung in Bezug auf Deutschland; auch bekannt als das 2+4-Abkommen, das am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde [54]), aber dieser Vertrag besagt:

„Nach Abschluß des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus [Ostdeutschland…] werden ausländische Streitkräfte und Kernwaffen oder deren Träger nicht in diesem Teil Deutschlands stationiert oder eingesetzt”.

Der Vertrag besagt eindeutig, dass keine Streitkräfte aus anderen NATO-Staaten in der ehemaligen DDR stationiert werden sollten, und natürlich würde Moskau dann niemals eine Stationierung solcher Streitkräfte weiter östlich, östlich von Deutschland in “Polen und den anderen” akzeptieren. Das kam nicht in Frage, und darüber waren sich offenbar alle Teilnehmer einig. Dementsprechend wurde das Thema NATO-Erweiterung “nicht diskutiert”, wie Gorbatschow 2014 sagte, weil es keine Meinungsverschiedenheiten gab. 1993 sagte Boris Jelzin, dass der “Geist” des Vertrags “die Option einer Ausweitung der NATO-Zone nach Osten ausschließt” [55], und die mündlichen Zusagen, die Gorbatschow 1990/91 von den westlichen Staats- und Regierungschefs gegeben wurden, hätten ihn glauben lassen, dass es einen Konsens gab. Ebenso wichtig: auch dokumentierte mündliche Zusagen zwischen Staats- und Regierungschefs sind rechtlich bindend.

4. Mündliche Verpflichtungen im Völkerrecht und die Forderung nach einer Pufferzone

Im Mittelpunkt der oben erörterten Frage steht die rechtliche Bedeutung von mündlichen Zusagen. Während der Kubakrise war die Vereinbarung zwischen Präsident John F. Kennedy und dem sowjetischen Führer Nikita Chruschtschow eine mündliche. Die Sowjets erklärten sich bereit, ihre Raketen aus Kuba abzuziehen, wenn die USA ihre Raketen aus der Türkei (und Italien) abziehen. Solche mündlichen Vereinbarungen zwischen politischen Führern werden als rechtsverbindlich angesehen. In der “Definition der Schlüsselbegriffe” der UNO heißt es [56]:

“Einerseits definiert [das Wiener Übereinkommen über Vertragsrecht von 1969] Verträge als ‘internationale Vereinbarungen’ […]. Andererseits verwendet es den Begriff ‘internationale Übereinkünfte’ für Instrumente, die seiner Definition von ‘Vertrag’ nicht entsprechen. Ihr Art. 3 bezieht sich auch auf “internationale Vereinbarungen, die nicht in schriftlicher Form vorliegen”. Solche mündlichen Vereinbarungen sind zwar selten, können aber je nach dem Willen der Parteien die gleiche Bindungswirkung haben wie Verträge. Ein Beispiel für eine mündliche Vereinbarung könnte ein Versprechen sein, das der Außenminister eines Staates seinem Amtskollegen eines anderen Staates gibt.”

Mehrere Autoren verweisen auf den “Fall Ostgrönland” [57]. Im Protokoll des norwegischen Außenministers Nils Claus Ihlen aus dem Jahr 1919 heißt es, dass er auf eine dänische Anfrage hin seinem dänischen Amtskollegen mitteilte, dass die norwegische Regierung keine Einwände gegen die dänische Souveränität über Ostgrönland erheben würde [“Keine Schwierigkeiten bei der Regelung dieser Frage machen”]. Ihlens schriftlicher Vermerk über seine mündliche Zusage überzeugte den Ständigen Internationalen Gerichtshof 1933 (14 Jahre später), dass diese mündliche Erklärung für Norwegen verbindlich war [58] (Norwegen musste die dänische Souveränität über ein Gebiet anerkennen, das größer war als Norwegen selbst). Der Ständige Internationale Gerichtshof befand, dass eine mündliche Zusage für die beiden Staaten genauso verbindlich sei wie ein schriftlicher Vertrag. Für die dänische Seite bestand das Problem darin, einen schriftlichen Beweis für diese mündliche Zusage zu haben. Und in diesem Fall gab es die Notizen des norwegischen Außenministers, die seine gegebene mündliche Zusage bestätigten. Diese wurde auch für das internationale Recht entscheidend.

„Die Völkerrechtskommission [59] hat ihrerseits [1962] klargestellt, dass sie trotz des Ausschlusses stillschweigender Vereinbarungen aus dem Anwendungsbereich ihrer Kodifizierung des Vertragsrechts ‚nicht die Absicht [hat], die Rechtskraft mündlicher Vereinbarungen, die mit dem Völkerrecht in Einklang stehen, zu leugnen‘.“

Die „American Society of International Law“ [Amerikanische Gesellschaft für Internationales Recht; Anm. d. Red.] stellte 1997 fest, dass “nach dem Völkergewohnheitsrecht mündliche Vereinbarungen nicht weniger verbindlich sind [als ein förmlicher Vertrag], auch wenn ihre Bedingungen nicht ohne weiteres beweisbar sind” [60]. Der US-Senat schreibt in „Verträge und andere internationale Vereinbarungen“ (vorbereitet für das Komitee ausländischer Beziehungen) im Januar 2001 [61]:

„Die Definition des Begriffs ‚Vertrag‘ [in der Wiener Konvention] schließt mündliche Vereinbarungen nicht ein (Artikel 2), obwohl nach der Konvention ihre Definition die Rechtswirksamkeit solcher Vereinbarungen nicht berührt (Artikel 3 Buchstabe a)). […] Ob eine Erklärung mündlich oder schriftlich abgegeben wird, macht keinen wesentlichen Unterschied. […] Nach dem Völkergewohnheitsrecht sind mündliche Vereinbarungen ebenso verbindlich wie schriftliche.”

Chruschtschow und Kennedy, 1961 (Foto:pingnews.com, Flickr, Gemeinfrei)

Das bedeutet, dass die NATO-Erweiterung nach Polen und in andere mitteleuropäische Staaten im Jahr 1999 und weiter im Jahr 2004 rechtlich gesehen ein “Friedensbruch” war. Die NATO-Erweiterung verstieß gegen die mündlichen Zusagen an Gorbatschow und war in Anbetracht der globalen Auswirkungen dieser US/NATO-Politik ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Länder Mitteleuropas hatten natürlich das Recht, ihr Interesse an einem NATO-Beitritt nach vielen Jahren sowjetischer Vorherrschaft zu bekunden, aber die NATO musste auch die Folgen der Aufnahme neuer Mitglieder bedenken. Und von Moskau würde eine NATO-Osterweiterung definitiv als “aggressiver Akt”, als territoriale Ausdehnung der US-Streitkräfte auf Kosten Russlands, verstanden werden. Doch objektiv gesehen war dies, wie oben dargelegt, ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht. Das Problem ist, ob dieser Verstoß Russland das Recht gibt, in “Selbstverteidigung” einzugreifen, um die territoriale Ausdehnung der USA zu verhindern. 1962 hielten sich Chruschtschow und Kennedy an ihren Teil der Abmachung, und wenn Chruschtschow dies nicht getan hätte, wäre es sehr wahrscheinlich zu einem Krieg gekommen. In den 1990er Jahren jedoch, nachdem Russland seine Streitkräfte aus Ostdeutschland abgezogen hatte, begannen die USA mit der Erweiterung der NATO und weigerten sich, die Versprechen der USA einzuhalten. Bedeutet dies, dass Moskau im Nachhinein das formale Recht hatte, Hunderttausende von Truppen zurück nach Mitteleuropa zu verlegen? Wäre das eine angemessene russische Antwort?

Die Rechtssubjekte der UN-Charta sind “souveräne Staaten”. In Artikel 2 Absatz 4 der Charta heißt es, dass sich die Staaten der “Androhung” von Gewalt und der “Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit” oder “die Unabhängigkeit eines Staates” enthalten. Und die NATO-Erweiterung wurde von Russland definitiv als bedrohlich empfunden. Russland protestierte bereits Mitte der 1990er Jahre gegen die westlichen Vorschläge für eine NATO-Erweiterung nach Mitteleuropa. Ich selbst habe 1995 in der Zeitschrift „Security Dialogue“ vor den Folgen gewarnt [62]. Ich hörte auch die Kritik des russischen Außenministers Jewgeni Primakow an den westlichen Versprechensbrüchen bei seinem Vortrag in Oslo 1997. Primakow hatte ab 1996 eine Reihe westlicher Zusicherungen eingeholt und erklärt, dass eine Fortsetzung der NATO-Osterweiterung gegen den “Geist” des deutschen Einigungsvertrages verstoße. Es wäre eine Bedrohung für die russische Sicherheit. Europa würde in eine Konfrontation abgleiten. Russland hat heftig protestiert, nicht zuletzt bei der Aufnahme der ersten Gruppe von Ländern 1999 und der zweiten im Jahre 2004. Solange Russland die NATO als Bedrohung ansieht, spielt es keine Rolle, was wir denken.

Präsident George W. Bush trifft sich am Freitag, den 18. Januar 2008, im Kabinettsaal des Weißen Hauses mit Dr. Henry Kissinger, dem ehemaligen russischen Premierminister Jewgenij Primakow und anderen hochrangigen amerikanischen und russischen Staatsmännern und Politikexperten. Das Treffen bot dem Präsidenten die Gelegenheit, die Ansichten der Delegation zu einer Vielzahl von Themen zu hören, die für die Vereinigten Staaten und für Russland wichtig sind, und spiegelt den hohen Stellenwert wider, den der Präsident den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland beimisst. Dieser informelle Dialog unter dem gemeinsamen Vorsitz von Dr. Kissinger und Herrn Primakow wurde 2007 mit Unterstützung der Präsidenten Bush und Putin ins Leben gerufen, um die Diskussion über wichtige Themen auf der amerikanisch-russischen Agenda zu fördern. (Foto: Eric Draper, White House, Wikimedia Commons, CC0)

Laut dem damaligen US-Botschafter in Moskau, dem heutigen CIA-Direktor William Burns, erklärten 2008 alle Akteure in Russland, nicht nur Wladimir Putin, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sei eine “rote Linie” [63]. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte [64]:

„Ich war mir sehr sicher […], dass Putin das nicht einfach so geschehen lassen wird. Aus seiner Sicht wäre eine Ausweitung der NATO auf die Ukraine ‘eine Kriegserklärung'”.

Eine Aufnahme der Ukraine in die NATO sei völlig inakzeptabel: “Die deutlichste aller roten Linien”, wie Burns 2008 an seine Außenministerin Condoleezza Rice schrieb [65]. In einem Telegramm nach Washington mit der Überschrift “Nyet Means Nyet: Russia’s NATO Enlargement Red Lines” [66] schrieb Botschafter Burns im Jahr 2008, dass Außenminister Sergej Lawrow die NATO-Erweiterung um die Ukraine als “potenzielle militärische Bedrohung” ansah. Die Russen sagten, dass dies zu einem ukrainischen Bürgerkrieg zwischen Ost und West und einer möglichen russischen Intervention zur Rettung der russischsprachigen Bevölkerung im Osten führen würde. Dies würde “die USA und Russland in eine klassische Konfrontationshaltung versetzen”, sagte er. Die Elite in Washington wusste, dass der Beitritt der Ukraine zur NATO mit ziemlicher Sicherheit zu einem Krieg führen würde. Das hatte nichts damit zu tun, wer in Moskau das Sagen hatte. Wenn Putin jetzt von einem “existenziellen” Krieg spricht, dann deshalb, weil die Ukraine zu einem militärischen Brückenkopf der USA werden soll, der fast bis nach Moskau reicht. Die USA wären nun in der Lage, das “Herz Russlands” anzugreifen. Das wäre so, als ob der Südosten der Vereinigten Staaten mit Texas, Louisiana, Florida, Georgia, Mississippi und Alabama zu unabhängigen, von Russland voll bewaffneten Staaten geworden wäre. Washington würde dies niemals akezeptieren.

Ein Land nach dem anderen hat nun die NATO-Mitgliedschaft und US-Militäreinrichtungen erhalten. Die USA erklärten viele Jahre lang, dass die NATO-Erweiterung nicht gegen Russland gerichtet sei. Gleichzeitig haben die USA ihre Positionen Schritt für Schritt verschoben und sind mit neuen Waffensystemen immer näher an Moskau herangerückt. Wenn sich dieser Prozess fortsetzt, wird es für Russland kaum möglich sein, sich zu verteidigen. Ein einzelner Schritt kann keine militärische Antwort legitimieren, aber in der Summe bedeutet es eine radikale geopolitische Verschiebung. Es handelt sich um eine “Salamitaktik” ähnlich der israelischen, die mit jeder neuen Siedlung mehr und mehr palästinensisches Gebiet erobert, bis kein palästinensisches Land mehr übrig ist. Sie ist auch eine Parallele zur Strategie der USA gegenüber China. Die USA sagen, dass sie Chinas “Ein-China-Politik” anerkennen, aber gleichzeitig erlauben sie US-Spitzenbeamten, Taiwan zu besuchen, und sie empfangen Taiwans Präsidenten in den USA, als ob Taiwan ein unabhängiger Staat wäre. Man macht kleine Schritte, bis man vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Dies muss als eindeutiger Bruch mit den Zielen der UN-Charta gesehen werden, “internationalen Frieden und Sicherheit” zu wahren und “Bedrohungen des Friedens zu beseitigen”. Für Russland wurde es notwendig, eine Art “Pufferzone” zu schaffen, die das Risiko verringert, dass Russland eines Tages zur “Selbstverteidigung” präventiv zuschlagen muss, um seine vitalen Interessen zu schützen.

Am 17. Dezember 2021 rief Russland zu Verhandlungen auf [67], um die USA dazu zu bewegen, ihre vorgeschobenen Waffenanlagen und Stützpunkte aus Mitteleuropa und den neuen NATO-Mitgliedsstaaten abzuziehen und Garantien für die Neutralität der Ukraine zu erhalten, um so eine Art “nordische Pufferzone” durch Mitteleuropa zu schaffen. Dies würde die Bedrohung Moskaus und das Risiko einer Konflikteskalation verringern und damit die “Bedrohungen für den Frieden” beseitigen. Dies war Gorbatschows Vorschlag von 1988, mit einem neutralen Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn – einer europäischen “neutralen Pufferzone” ähnlich jener im Norden. Gorbatschow stand unter dem Einfluss von Giorgio Arbatow und der Palme-Kommission [68] und dachte an eine Zone geringer Spannung zwischen den großen Atommächten, um die Risiken von Präventivschlägen zu begrenzen. Die Amerikaner hingegen dachten an “Abschreckung”, nicht nur auf strategischer, sondern auch auf lokaler taktischer Ebene. Sie würden bedrohliche Positionierungen in der Nähe der russischen Grenze vorziehen, um “die Russen von jeglichen Abenteuern abzuhalten”. In einem RAND-Bericht [RAND Corp.: einflussreiche US-Denkfabrik zur Beratung der US-Streitkräfte; Anm. d. Red.] mit dem Titel “Enhancing Deterrence and Defense on NATO’s Northern Flank” [Stärkung der Abschreckung und Verteidigung an der Nordflanke der NATO; Anm. d. Red.] (2020) wird die Stationierung westlicher Raketen mit einer Reichweite von 900 km vorgeschlagen, um Norwegen die Fähigkeit zur „Abschreckung“ zu verleihen [69]. In einer angespannten Situation könnte dies jedoch einen russischen Präventivschlag provozieren, und dasselbe gilt für die Ukraine. Westliche Militärplaner wissen sehr wohl, dass Russland nicht in der Lage wäre, sich zu verteidigen, wenn westliche Streitkräfte in der Ukraine in der Nähe von Moskau stationiert würden. Im Jahr 2007 schrieben der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, der ehemalige Außenminister George Shultz, der ehemalige Verteidigungsminister William Perry und der ehemalige Vorsitzende des Senatsausschusses für Streitkräfte Sam Nunn für das „Nuclear Security Project“ über die Notwendigkeit, vorgeschobene Positionierungen zu vermeiden, um das Risiko einer Eskalation zu verringern [70]. Solche vorgeschobenen Verlegungen können einen Präventivschlag provozieren. Für Russland geht es nicht um die “Eroberung ukrainischen Territoriums”, sondern darum, dem Westen eine vorgelagerte Militärpräsenz zu verwehren – einen Brückenkopf in der Nähe der wichtigsten Interessen Russlands. Es gibt also eine direkte Parallele zur Kubakrise, als die US-Führung der Meinung war, dass die sowjetischen Atomwaffen viel zu nahe an den vitalen Interessen der USA stationiert worden waren.

Lassen Sie uns hier einige Beispiele aus der Geschichte der US-Sicherheitspolitik und der Rechtsgeschichte, aus Krisen und Kriegen (Kubakrise 1962, Kosovokrieg 1999, Irakkrieg 2003, Libyenkrieg 2011) anführen, die die russische Seite nun genutzt hat oder nutzen kann. Beginnen wir mit den Worten von US-Präsident John F. Kennedy zu den sowjetischen Raketen auf Kuba in seiner Rede am 22. Oktober 1962, die definitiv eine Parallele zur heutigen Situation darstellen.

Quellen:

[1] War on the Rocks Plattform für Analysen, Mark Hull „“Vengeance is Not Our Goal”: A Conversation with Nuremberg Prosecutor Benjamin Ferencz“, am 5.8.2014 <https://warontherocks.com/2014/08/vengeance-is-not-our-goal-a-conversation-with-nuremberg-prosecutor-benjamin-ferencz/>
[2] Internationaler Gerichtshof „Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons“, am 8.7.1996:  <https://www.icj-cij.org/case/95>
[3] Internationaler Gerichtshof „Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons“, Stellungnahme vom 8.7.1996: <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/95/7497.pdf>
[4] Zentrum für globale Sicherheitsforschung, Newell L. Highsmith „On the Legality of
Nuclear Deterrence“, im April 2019: <https://cgsr.llnl.gov/content/assets/docs/CGSR-LivermorePaper6.pdf>
[5] Außenministerium der Russischen Föderation Соглашение о мерах обеспечения безопасности Российской Федерации и государств-членов Организации Североатлантического договора“, am 17.12.2021: <https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en>
[6] Democracy Now! Organisation, Jeffrey Sachs „“Dangerous” U.S. Policy & “West’s False Narrative” Stoking Tensions with Russia, China“, am 30.8.2022: <https://www.democracynow.org/2022/8/30/wests_false_narrative_china_russia_ukraine?jwsource=cl>
[7] Consortiumnews Nachrichtenportal, Jeffrey Sachs „Ukraine Is the Latest Neocon Disaster“, am 1.7.2022: <https://consortiumnews.com/2022/07/01/ukraine-is-the-latest-neocon-disaster/>
[8] Vereinte Nationen „United Nations Charter (full text)“, unterzeichnet am 26.6.1945:  <https://www.un.org/en/about-us/un-charter/full-text>
[9] C-Span Fernsehsender „Secretary Austin and General Milley News Conference“, am 16.11.2022: <https://www.c-span.org/video/?524313-1/secretary-austin-general-milley-news-conference>
[10] Consortiumnews Nachrichtenportal,Wladimir Putin „Text of Putin’s Announcement of Military Action“, am 1.3.2022: <https://consortiumnews.com/2022/03/01/text-of-putins-announcement-of-military-action/>
[11] YouTube, Judge Napolitano „Putin’s Plan for Ukraine Now – Ray McGovern“, am 24.5.2023: <https://www.youtube.com/watch?v=lQzRtyqyIUk>
[12] ebd.
[13] Amazon, Robert M. Gates „Duty: Memoirs of a Secretary at War“, am 12.5.2015: <https://www.amazon.com/Duty-Memoirs-Secretary-at-War/dp/030794963X>
[14] siehe [9]
[15] Washington Post, Stephen Budiansky „A Proven Formula for How Many Troops We Need“, am 8.5.2004: <https://www.washingtonpost.com/archive/opinions/2004/05/09/a-proven-formula-for-how-many-troops-we-need/5c6dbfc9-33f8-4648-bd07-40d244a1daa4/>
[16] Wikipedia, diverse Autoren „Warsaw Pact invasion of Czechoslovakia“, zuletzt bearbeitet am 14.2.2024: <https://en.wikipedia.org/wiki/Warsaw_Pact_invasion_of_Czechoslovakia>
[17] Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) „Daily Report 39/2022“, am 19.2.2022: <https://www.osce.org/files/2022-02-19 Daily Report.pdf>
[18] Amazon,  Jacques Baud „Operation Z: The Hidden Truth of the War in Ukraine Revealed“, am 24.11.2022: <https://www.amazon.co.uk/Operation-Hidden-Truth-Ukraine-Revealed/dp/2315010640>
[19] ebd.
[20] siehe [10]
[22] Le Monde Zeitung, Le Monde with AP „Russia says it will cut back operations near Ukraine capital“, am 23.3.2022: <https://www.lemonde.fr/en/international/article/2022/03/29/russia-says-it-will-cut-back-operations-near-ukraine-capital_5979289_4.html>
[23] TASS Nachrichtenagentur, Red. „New Kiev-drafted agreement marks departure from provisions recorded in Istanbul — Lavrov“, am 7.4.2022: <https://tass.com/world/1434121>
[23] National Security Archive (NGO) „NATO Expansion: What Gorbachev Heard“, am 12.12.2017: <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early>
[24] National Security Archive (NGO) „NATO Expansion: What Yeltsin Heard“, am 16.3.2018: <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2018-03-16/nato-expansion-what-yeltsin-heard>
[25] Columbia Harriman Institute, Interviewer: Mary Marshall Clark – Interviewee: Jack Foust Matlock Jr. „The Reminiscences of Jack Foust Matlock Jr.“, am 2.2.2017: <https://oralhistory.harriman.columbia.edu/interview/18>
[26] siehe [23]
[27] ebd.
[28] ebd.
[29] ebd.
[30] ebd.
[31] ebd.
[32] ebd.
[33] NATO On-line library, Rede von Generalsekretär Manfred Wörnervor dem Bremer Tabaks-Kollegium „The Atlantic Alliance and European Security
in the 1990s “, am 17.5.1990: <https://www.nato.int/docu/speech/1990/s900517a_e.htm>
[34] siehe [24]
[35] ebd.
[36] ebd.
[37] New World Encyclopedia George F. Kennan„“, in 2023: <https://www.newworldencyclopedia.org/entry/George_F._Kennan>
[38] New York Times, Georg F. Kennan „A Fateful Error“, am 5.2.1997: <https://www.nytimes.com/1997/02/05/opinion/a-fateful-error.html>
[39] Truthdig publizistische Website, Emma Niles „Former Defense Secretary Warns Civilization Is at Risk“, am 1.9.2017: <https://www.truthdig.com/articles/former-defense-secretary-william-j-perry-on-the-nuclear-threat/>
[40] Miller Center Einrichtung der University of Virginia, Naftali „Robert M. Gates Oral History“, Interview, am 23. und 24.7.2000:  <https://millercenter.org/the-presidency/presidential-oral-histories/robert-m-gates-deputy-director-central>
[41] Brookings Denkfabrik, Steven Pifer „Did NATO Promise Not to Enlarge? Gorbachev says “No”“, am 6.11.2014: <https://www.brookings.edu/articles/did-nato-promise-not-to-enlarge-gorbachev-says-no/>
[42] Russia Beyond Zeitung, Maxim Kórshunov „Mikhail Gorbachev: I am against all walls“, am 16.10.2014: <https://www.rbth.com/international/2014/10/16/mikhail_gorbachev_i_am_against_all_walls_40673.html>
[43] Google books, M. E. Sarotte „Not One Inch“, in 2021: <https://www.google.no/books/edition/Not_One_Inch/4ghMEAAAQBAJ?hl=no&gbpv=1>
[44] Financial Times, Mary Elise Sarotte „‘Not one inch’: unpicking Putin’s deadly obsession with the details of history“, am 17.2.2023: <https://www.ft.com/content/24f81b4d-420e-4217-b498-cf13c6e254f2>
[45] siehe [23] <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early>
[46] Spiegel, Klaus Wiegrefe „Neuer Aktenfund von 1991 stützt russischen Vorwurf“, am 18.2.2022: <https://www.spiegel.de/ausland/nato-osterweiterung-aktenfund-stuetzt-russische-version-a-1613d467-bd72-4f02-8e16-2cd6d3285295>
[47] Twitter, Declassified UK „@derspiegel
find in UK archives shows that in 1991 the West “made it clear during…negotiations that we would not extend Nato beyond the Elbe”, the river that runs through Germany.
“, am 21.2.2022: <https://twitter.com/declassifiedUK/status/1495725360952094720/photo/1>
[48] Opinio Jurisf freie juristische Bibliothek, Paul Emtsev und Julia Emtseva „Why 2+4 Does Not Always Add Up: In Search of NATO`s Non Enlargement-Promises“, am 11.3.2022: <http://opiniojuris.org/2022/03/11/why-24-does-not-always-add-up-in-search-of-natos-non-enlargement-promises/>
[49] Belfer-Zentrum für Wissenschaft und internationale Angelegenheiten, Joshua R. Itzkowitz Shifrinson „Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion“, im Frühling 2016: <https://www.belfercenter.org/publication/deal-or-no-deal-end-cold-war-and-us-offer-limit-nato-expansion>
[50] National Security Archive, Gorbachev „Record of Dinner Conversation between Gorbachev, Bush, Gonzalez and King Juan Carlos of Spain“, am 29.10.1991: <https://nsarchive.gwu.edu/document/27269-document-6-record-dinner-conversation-between-gorbachev-bush-gonzalez-and-king-juan>
[51] National Security Archive „U.S. Policy to Gorbachev: “We Support the Center and You Personally” – New Documents Include USSR State Council Transcripts, Highest-Level Memcons“, am 21.12.2021: <https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2021-12-21/end-soviet-union-1991>
[52] National Security Archive „Memorandum of Telephone Conversation, Bush-Yeltsin, December 8, 1991“:   <https://nsarchive.gwu.edu/document/27272-document-9-memorandum-telephone-conversation-bush-yeltsin-december-8-1991>
[53] siehe [49]
[54] Diplomatische Vertretung der USA in Deutschland „Treaty on the Final Settlement with Respect to Germany September 12, 1990“: <https://usa.usembassy.de/etexts/2plusfour8994e.htm>
[55] siehe [24]
[56] Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Definition der in der UN-Vertragssammlung verwendeten Schlüsselbegriffe: <https://treaties.un.org/Pages/overview.aspx?path=overview/definition/page1_en.xml>
[57] QIL (Questions fo International Law) E-Journal, Jean d’Aspremont „The International Court of Justice and tacit conventionality“, am 15.6.2015: <http://www.qil-qdi.org/the-international-court-of-justice-and-tacit-conventionality/>
[58] Internationaler Gerichtshof „STATUT JURIDIQUEDU GROËNLAND
ORIENTAL“, am 5.4.1933: <https://www.icj-cij.org/sites/default/files/permanent-court-of-international-justice/serie_AB/AB_53/01_Groenland_Oriental_Arret.pdf>
[59] siehe [57]
[60]Amerikanische Gesellschaft für internationales Recht (ASIL), Frederic L. Kirgis „Treaties as Binding International Obligation“, am 14.5.2017:  <https://www.asil.org/insights/volume/2/issue/4/treaties-binding-international-obligation>
[61] GovInfo offizielle Website der Regierung der Vereinigten Staaten „TREATIES AND OTHER INTERNATIONAL AGREEMENTS: THE ROLE OF THE UNITED STATES SENATE“, im Januar 2001: <https://www.govinfo.gov/content/pkg/CPRT-106SPRT66922/html/CPRT-106SPRT66922.htm>
[62] Jstor Online-Archiv „Security Dialogue“, Vol. 26, publiziert von  Sage Publications, Ltd., am 3.9.1995:<https://www.jstor.org/stable/i26296480>
[63] Wikileaks „NYET MEANS NYET: RUSSIA’S NATO ENLARGEMENT REDLINES“, am 1.2.2008: <https://wikileaks.org/plusd/cables/08MOSCOW265_a.html>
[64] Deutsche Wellte (DW), Alistair Walsh, Rina Goldenberg „Angela Merkel opens up on Ukraine, Putin and her legacy“, am 7.6.2022: <https://www.dw.com/en/angela-merkel-opens-up-on-ukraine-putin-and-her-legacy/a-62052345>
[65] Amazon, William J. Burns  „The Back Channel: A Memoir of American Diplomacy and the Case for Its Renewal“, am 13.3.2019: <https://www.amazon.com/Back-Channel-American-Diplomacy-Renewal/dp/0525508864>
[66] siehe [63]
[67] Außenministerium der Russischen Föderation „Agreement on measures to ensure the security of The Russian Federation and member States of the North Atlantic Treaty Organization“, am 17.12.2021: <https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en>
[68] The Russian Quest for Peace and Democracy, Metta Spencer im Interwiew mit Egon Bahr „Egon Bahr, (common security idea) 1994“, am 28.4.1994: <http://russianpeaceanddemocracy.com/egon-bahr-1994>
[69] Regjeringen.no Webpräsenz der norwegischen Regierung „Enhancing deterrence and
defence on NATO’s northern flank“, publiziert von der RAND Corporation (Denkfabrik), in 2020: <https://www.regjeringen.no/contentassets/b6f5ea0d2d6248b4ae4131c554365e93/rand-rr-4381-enhancing-deterrence-and-defence-on-natos-northern-flank.pdf>
[70] Nuclear Threat Initiative (NTI) Friedens-Organisation, George P. Shultz, William J. Perry, Henry A. Kissinger, Sam Nunn „Toward a World without Nuclear Weapons“: <https://media.nti.org/pdfs/NSP_op-eds_final_.pdf>