Europäischer Kontinentalismus
Poppel: Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserem heutigen Interview mit Herrn Algis Klimaitis. Herr Klimaitis, Sie waren Chefredakteur der in den 80er Jahren in Wien gegründeten Ostnachrichten unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Michael Osslenski, danach waren Sie Leiter des Büros des Baltischen Weltrates in Straßburg und Generalsekretär der Baltic Intergroup im Europäischen Parlament. Nach der Wiederherstellung der Souveränität Litauens waren Sie der Berater des Litauischen Präsidenten Algirdas Brazauskas. Jetzt sind Sie als Publizist tätig, leben in Litauen und in Wien und Sie haben ein Buch herausgebracht mit dem Titel: Der europäische Kontinentalismus. Wo steht Europa im fragwürdig gewordenen Transatlantismus? Dieses Buch ist im Verlag des österreichischen Medienhauses im Institut für Angewandte Politische Ökonomie in Wien und Millstatt erschienen.
Herr Klimaitis, Ihr Buch beleuchtet den Werdegang und die Hintergründe der angelsächsischen Einflüsse zur Gründung der Europäischen Union und ihrer Vorläuferorganisationen und hat eine sehr kritische Haltung zum Transatlantismus. Es beschreibt auch darüber hinaus: „die Mutationen vom ursprünglich proletarisch geprägten Sozialismus hin zur Verbindung mit Großfinanz und Konzernstrukturen und ihre geopolitischen Einflüsse auf Russland und andere Länder.“ Aktuell behandelt es auch die Entwicklung eines neuen Kalten Krieges, wo sich der sogenannte Ost-West-Konflikt in einen West-Ost-Konflikt gewandelt hat. Ihr Buch behandelt ebenfalls die momentan sehr starke NATO-Agitation gegen Russland. Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, dieses
Buch zu schreiben? Welche Beweggründe haben Sie veranlasst, sich die Zeit zu nehmen und zu recherchieren, Ihre Erfahrungen einzubringen, die Sie im politischen Bereich erworben haben,
um dieses Werk zu verfassen?
Klimaitis: Ja, das ist in wenigen Worten eigentlich zu sagen. Die Entwicklung der letzten Jahre hin zu einem nahezu totalitären Relativismus, der vollkommen den alten europäischen Werten widerspricht, ein Prozess, den man früher hat schon sehen können, denn es gab gleich nach dem Kriege sogar viele Intellektuelle, die haben gesagt: Moment, also dieses ganze Amerikanische, dieses ganze Transatlantische, das sei eigentlich uneuropäisch etc. aber viele Menschen, unter anderem auch ich, bin also Jahrgang 1948, ich bin also nicht Vorkriegsmodell, wie man so schön sagt, haben diese Entwicklung nicht so deutlich gesehen. Es gab bekanntlicherweise ja auch den alten Ost-West-Konflikt, d. h. also eine kommunistische Bedrohung auch Westeuropas, und man war eigentlich mit
dem Vorhandensein einer NATO und eines Transatlantismus gleich unmittelbar nach den Kriegsjahren mehr oder weniger einverstanden. Aber die letzten Jahre, besonders auch in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Krise, mit einer Finanzkrise, mit dem Zunehmen von Finanzstrukturen als einzige praktisch übergebliebene Machtstrukturen, des Heruntergehens staatlicher Souveränitäten etc. haben zu einer tieferen Analyse geführt, die, das darf ich wohl schon sagen bei mir, seit mindestens 20 Jahren in etwa immer deutlicher und deutlicher wurden und immer mehr heraus wollten. Und dieses war letztlich der Grund des Schreibens dieses Buches, mit Gedanken, dass das Europäische, das Klassische, das genuin Europäische, nach meinem Gefühl noch lange nicht zu Ende ist und kaputt ist, und dass es sehr wohl Kräfte in Europa gibt, die sich jetzt wieder dem Europäischen, dem genuin Europäischen zuwenden wollen.
Poppel: Der Buchtitel Kontinentalismus ist ja fett gedruckt auf dem Buch und ist ein Begriff, den man eigentlich nicht besonders oft kennt. Transatlantismus ist ein bekannter Begriff. Ist das jetzt eine neue Begrifflichkeit, die Sie entwickelt haben, gibt es diesen Ausdruck schon in der Literatur bzw. wird er momentan noch
verbreitet?
Klimaitis: Das ist eine interessante Frage natürlich. Also, Kontinentalismus vom rein Inhaltlichen her, bedeutet natürlich irgendetwas mit einem Kontinent und Transatlantismus ist als politischer Begriff sehr viel bekannter oder überhaupt sehr bekannt, währenddessen Kontinentalismus etwas völlig Unbekanntes ist. Nun möchte ich dazu natürlich sagen, es handelt sich hier nicht um den Kontinentalismus, den ich meine, sondern den europäischen Kontinentalismus, d. h. ganz konkret der europäische Kontinent. Darüber zu reden, wie weit der geht usw., können wir gerne noch, wenn wir inhaltlich weitergehen. Für mich, ich will das gleich am Anfang sagen, endet er nicht am Ural, d. h. also Russland ist selbstverständlich Teil Europas, es endet aber nicht am Ural, sondern ich betrachte z. B. die seinerzeitige Erwerbung des Russischen Imperiums unter Katharina der Großen z. B. oder mag das schon ein bisschen früher stattgefunden haben, die Erwerbung Sibiriens als einer
Art Osterweiterung Europas, und für mich zählt dieses absolut mit zu Europa und ich glaube, dass es immer mehr und mehr Menschen gibt, die dieses so sehen.
Das wäre sozusagen vom geografischen Bereich her der Kontinentalismus, der europäische Kontinentalismus. Aber dieser Begriff, da haben Sie vollkommen Recht, ist völlig unbekannt. Transatlantismus ist sehr viel bekannter und darunter versteht man merkwürdigerweise nur die Verbindung der USA zur NATO und dem westeuropäischen Teil Europas, obwohl, wenn wir den Atlantik nehmen und das Wort „Trans“ nehmen, natürlich letztlich auch eine Verbindung von, sagen wir mal, Südamerika zu Westafrika gemeint sein könnte, das ist natürlich auch transatlantisch, aber das ist selbstverständlich nicht unter Transatlantismus zu verstehen, sondern ganz konkret der starke Einfluss der USA auf Europa durch die Instrumente NATO und auch die Instrumente der Europäischen Union.
Der Kontinentalismus ist keine Ideologie. Man könnte es meinen, wenn man immer wieder das Wort „ismus“ am Ende hört, also die Endung „ismus“, nein, das ist damit nicht gemeint, es ist eher eine Haltung. Eine Haltung, die sagen möchte: Stopp, irgendetwas ist da nicht mehr ganz in Ordnung mit dem Transatlantismus, der ist vollkommen mutiert, der hat sich in eine Richtung entwickelt, wie es uns hier in Europa nicht mehr sehr gefällt.
Poppel: Wie realistisch sind die Gedankengänge, die teilweise in diesem Buch schon angestrebt werden zur kontinentalen Arbeit in Europa? Wie realistisch sind diese Gedankengänge im Bereich der Wirtschaft, Gesellschaftspolitik? Wie realistisch ist die Umsetzung dieser Gedanken, die Sie hier in diesem ersten Werk über den Kontinentalismus äußern?
Klimaitis: Das hängt natürlich sehr eng mit der jetzigen Situation im wirtschaftlichen und im sozialen Bereich Europas zusammen. Wir haben seit vielen Jahren eine große Finanzkrise, wir haben dieStaatsverschuldungskrisen, weltweit kann man sagen, aber wir beschränken uns jetzt hier einmal auf die Staaten in Europa und auch auf die USA, weil dieses doch sehr eng zusammenhängt wirtschaftlich und auch geistespolitisch. Also, wie ich ja am Anfang schon sagte, ist der Kontinentalismus als Idee, der europäische
Kontinentalismus als Idee entstanden, nicht nur von mir, sondern ganz bestimmt auch noch von anderen Personen, Denkern, die die Entwicklung der letzten Jahre einfach sehr kritisch betrachten und dieses in Verbindung mit den jetzigen Wirtschafts- und Sozialkrisen, die wir in Europa haben, lässt doch Hoffnung aufkommen, dass man sich zurück erinnert an bestimmte Dinge, die man sehr früh zur Seite geschoben hat. Sie sind nicht begraben, aber sie sind zur Seite geschoben. Ich spreche hier von den genuinen, europäischen Werten. D. h. konkret, wir
haben eine riesige Arbeitslosigkeit, wir haben eine sehr starke Einwanderungswelle von Arbeitern oder von Arbeitnehmern aus nichteuropäischen Ländern oder auch aus europäischen Ländern natürlich, aber das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Wirtschaft Arbeitskräfte benötigt und diese benötigt sie deswegen, weil das einfach im Inland, also wenn wir das einmal so sagen, also in den westeuropäischen Ländern viel zu wenig autochthone Menschen gibt, die noch arbeiten, d. h. also es fehlen Kinder mit anderen Worten, und das wiederum steht in Verbindung mit einer bestimmten Missachtung der Familie, mit einer bestimmten jahrzehntelangen Demontierung, kann man sagen, der Familie, es fehlen einfach Kinder, es fehlen damit einfach Arbeitskräfte und die werden von außen hereingebracht und das alles führt natürlich zu ganz großen sozialen, auch wirtschaftspolitischen Problemen.
Nicht außer Acht zu lassen ist natürlich auch das sehr starke Anwachsen der Finanzindustrie, die eigentlich schon anfangen Staaten zu beherrschen und nicht mehr, dass die Volkssouveränität der jeweiligen Staaten existieren, sondern Souveränitäten weniger finanzstarker Kräfte, die irgendwo angesiedelt sind, darüber können wir auch noch sprechen, wo sie angesiedelt sind, aber das sind nurnoch wenige Kräfte, die da sind. Diese ganzen, also wenige Kräfte, meine ich, dass es eine Konzentration weniger, die sehr sehr breite Macht bekommen haben, dass das stattgefunden hat.
Diese ganze Umgebung, wenn ich das einmal so sagen darf, lässt doch Hoffnung aufkommen, dass Konzeptionen eines europäischen Kontinentalismus, sogar in Gegenwart und baldiger Zukunft mehr versprechen als manch einer im Moment an Pessimismus wahrhaben will. Vielleicht darf ich eine Stelle zitieren, die mir sehr wesentlich erscheint und zwar, wenn ich von
Werten spreche, die zerstört worden sind im Kontinentalismus, wo ich ja so der Meinung bin, dass ein europäischer Kontinentalismus, den ich ja auch eine selbstbewusste Haltung der europäischen Nation mit eben einer Besinnung auf genuin europäische, kulturelle gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Werte nenne und behaupte, dass das von Nöten sei, um von dem, wie ich es ebenfalls in dem Buch ausarbeite, immer offensichtlicher und stark relativistisch geprägten Postulaten loszukommen, die, wie ich ebenfalls ausführe, gezielt übrigens seit Jahrzehnten eine Beeinflussung mit verheerenden Folgen für die Alltagsvernunft der Bevölkerungsmehrheit der Europäer ausübt und es ist natürlich sehr sehr wesentlich und auch sehr bedauerlich auf der anderen Seite, dass von bestimmten transatlantischen Lobbyschreibern, den, wie man sie mehr und mehr heute nennt, Systemmedien, weil man so unabhängige Medien kaum noch vorfindet, dadurch, dass sie unisono eigentlich immer dasselbe schreiben oder behaupten, und dass diese Lobbyschreiber, die diese Postulate dieses Relativismus mit gewisser Vorliebe, möchte man sagen, immer wieder als westliche Werte bezeichnet.
Und dieses Ergebnis dieser transatlantischen Weltsicht ist, denke ich, überdeutlich zu sehen, und zwar haben wir erstens einmal die Entgottung der Welt, dann die Auflösung der Familie, dann das tragische Defizit an Nachwuchs, die Übergabe der noch vorhandenen Kinder an die „Gesellschaft“, die Auflösung der Nation, die Vereinsamung des Einzelnen, und die totale Kommerzialisierung seiner Lebenswelt.
Das allerdings bezweifle ich sehr, denn europäisch – charakteristisch europäisch – sind eigentlich andere Werte, und zwar die, die in der Dreieinheit des Wahren, Schönen und Guten eingeschlossen sind. Aber diese transatlantische Ideologie von heute, die eine sogenannte Toleranz uns einredet, dass alles relativ sei, also alles egal sei, damit werden ja über den Transatlantismus ganz andere Wertedimensionen transportiert, die den wirklich genuinen europäischen Werten zum Teil diametral widersprechen. Und dieses Ergebnis dieser Weltsicht, dieser transatlantischen Weltsicht ist, denke ich, überdeutlich zu sehen, und zwar haben wir erstens einmal die Entgottung der Welt, dann die Auflösung der Familie, dann das tragische Defizit an Nachwuchs, die Übergabe der noch vorhandenen Kinder an die „Gesellschaft“, die Auflösung der Nation, die Vereinsamung des Einzelnen, und die totale Kommerzialisierung seiner Lebenswelt.
Dieses mit der Kommerzialisierung, wir erleben das ja sehr stark, indem ja schon junge Leute von morgens beim Aufstehen bis abends zum Schlafen gehen eigentlich nur vor einem Handy sitzen mit einem Bildschirm und diese ganzen Dinge, die dort transportiert werden, werden ja überwiegend bezahlt durch eine Kommerzialisierung, durch Apps, durch Reklame usw. Diese, und das ist das Interessante, und das ist, glaube ich, sogar der Kernsatz des Kontinentalismus, diese Ziele, die da in der Kommerzialisierung drin sind und in der Egalisierung der Welt, in der Gleichmachung,
die sind ursprünglich im proletarischen Sozialismus angesiedelt.
Und da gab es eine staatliche Ausformung des proletarischen Sozialismus und zwar im sowjetischen Bolschewismus. Aber diese Ziele, die sind peu à peu eine Verbindung mit globalen Finanz-
und Konzernstrukturen eingegangen, und zwar wegen der von ihnen – von diesen Strukturen – entdeckten Erkenntnis, dass sich im Relativismus und in der Egalität, die dort in diesen beiden Dingen verpackten ideologischen Zielen, den ungeheuren Kommerzialisierungsmöglichkeiten, die mit den atomisierten Individuen zu erreichen sind, absolut bestens erreichbar sind. D. h., dass sich diese Ziele nicht widersprechen. Und das ist das Interessante, dass gerade dieser Prozess des Übergangs nicht weniger ursprünglich Ziele des proletarischen Sozialismus, bolschewistischer Ausprägung in die westlichen Gesellschaften hinein, vielen Zeitgenossen viel zu wenig bekannt ist und bewusst ist. Sich des Transatlantismus bedienend, haben die Betreiber dieses Prozesses in jahrzehntelangen, schrittweisen „Eroberungen“, nenne ich das jetzt einmal, die Deutungshoheit gesellschaftlicher Begriffe angestrebt und dabei tiefe Spuren bei Politikern, Medienvertretern und letztlich auch bei den ökonomischen Managern hinterlassen, die bis zur Mutation führen, jene ursprünglichen marxistischen und im Laufe des Prozesses vermutlich extra verklausulierten Ziele nunmehr westliche Werte zu nennen.
Also, diese Schaffung des Begriffes Europäischer Kontinentalismus, das war eines der Ziele dieser Publikation, dieses Buches von mir, und ich hoffe sehr, dass das einfach zur Diskussion anregt. Es gibt jetzt hier noch keine festen fertigen Rezepte. Europa allerdings, und das europäische Denken, da bin ich ganz überzeugt von, ist so reich und so vielfältig, und es gibt so viele tiefe Denker und Menschen, die politische Verantwortung fühlen und in diese Richtung denken, fühlen und handeln werden, dass ich hoffe, dass dieses Buch eben diese Menschen anregt, und dass es zu weiteren Diskussionen zum Begriff „Europäischer Kontinentalismus“ kommt.
Poppel: Ja, dann bedanke ich mich sehr für das Interview und für die kurze Buchpräsentation. Wir hoffen auch sehr, dass das Buch eine Verbreitung findet und gerade auch im journalistischen Bereich und auch in den noch gesunden Denkfabriken, die es noch gibt, zu einem Umdenken in der Frage der europäischen Entwicklung führen wird. Ja, herzlichen Dank für das Interview.
Klimaitis: Sehr gerne, es war mir ein Vergnügen, Herr Poppel.
Europäischer Kontinentalismus
Poppel: Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße Sie zu unserem heutigen Interview mit Herrn Algis Klimaitis. Herr Klimaitis, Sie waren Chefredakteur der in den 80er Jahren in Wien gegründeten Ostnachrichten unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Michael Osslenski, danach waren Sie Leiter des Büros des Baltischen Weltrates in Straßburg und Generalsekretär der Baltic Intergroup im Europäischen Parlament. Nach der Wiederherstellung der Souveränität Litauens waren Sie der Berater des Litauischen Präsidenten Algirdas Brazauskas. Jetzt sind Sie als Publizist tätig, leben in Litauen und in Wien und Sie haben ein Buch herausgebracht mit dem Titel: Der europäische Kontinentalismus. Wo steht Europa im fragwürdig gewordenen Transatlantismus? Dieses Buch ist im Verlag des österreichischen Medienhauses im Institut für Angewandte Politische Ökonomie in Wien und Millstatt erschienen.
Herr Klimaitis, Ihr Buch beleuchtet den Werdegang und die Hintergründe der angelsächsischen Einflüsse zur Gründung der Europäischen Union und ihrer Vorläuferorganisationen und hat eine sehr kritische Haltung zum Transatlantismus. Es beschreibt auch darüber hinaus: „die Mutationen vom ursprünglich proletarisch geprägten Sozialismus hin zur Verbindung mit Großfinanz und Konzernstrukturen und ihre geopolitischen Einflüsse auf Russland und andere Länder.“ Aktuell behandelt es auch die Entwicklung eines neuen Kalten Krieges, wo sich der sogenannte Ost-West-Konflikt in einen West-Ost-Konflikt gewandelt hat. Ihr Buch behandelt ebenfalls die momentan sehr starke NATO-Agitation gegen Russland. Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, dieses
Buch zu schreiben? Welche Beweggründe haben Sie veranlasst, sich die Zeit zu nehmen und zu recherchieren, Ihre Erfahrungen einzubringen, die Sie im politischen Bereich erworben haben,
um dieses Werk zu verfassen?
Klimaitis: Ja, das ist in wenigen Worten eigentlich zu sagen. Die Entwicklung der letzten Jahre hin zu einem nahezu totalitären Relativismus, der vollkommen den alten europäischen Werten widerspricht, ein Prozess, den man früher hat schon sehen können, denn es gab gleich nach dem Kriege sogar viele Intellektuelle, die haben gesagt: Moment, also dieses ganze Amerikanische, dieses ganze Transatlantische, das sei eigentlich uneuropäisch etc. aber viele Menschen, unter anderem auch ich, bin also Jahrgang 1948, ich bin also nicht Vorkriegsmodell, wie man so schön sagt, haben diese Entwicklung nicht so deutlich gesehen. Es gab bekanntlicherweise ja auch den alten Ost-West-Konflikt, d. h. also eine kommunistische Bedrohung auch Westeuropas, und man war eigentlich mit
dem Vorhandensein einer NATO und eines Transatlantismus gleich unmittelbar nach den Kriegsjahren mehr oder weniger einverstanden. Aber die letzten Jahre, besonders auch in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Krise, mit einer Finanzkrise, mit dem Zunehmen von Finanzstrukturen als einzige praktisch übergebliebene Machtstrukturen, des Heruntergehens staatlicher Souveränitäten etc. haben zu einer tieferen Analyse geführt, die, das darf ich wohl schon sagen bei mir, seit mindestens 20 Jahren in etwa immer deutlicher und deutlicher wurden und immer mehr heraus wollten. Und dieses war letztlich der Grund des Schreibens dieses Buches, mit Gedanken, dass das Europäische, das Klassische, das genuin Europäische, nach meinem Gefühl noch lange nicht zu Ende ist und kaputt ist, und dass es sehr wohl Kräfte in Europa gibt, die sich jetzt wieder dem Europäischen, dem genuin Europäischen zuwenden wollen.
Poppel: Der Buchtitel Kontinentalismus ist ja fett gedruckt auf dem Buch und ist ein Begriff, den man eigentlich nicht besonders oft kennt. Transatlantismus ist ein bekannter Begriff. Ist das jetzt eine neue Begrifflichkeit, die Sie entwickelt haben, gibt es diesen Ausdruck schon in der Literatur bzw. wird er momentan noch
verbreitet?
Klimaitis: Das ist eine interessante Frage natürlich. Also, Kontinentalismus vom rein Inhaltlichen her, bedeutet natürlich irgendetwas mit einem Kontinent und Transatlantismus ist als politischer Begriff sehr viel bekannter oder überhaupt sehr bekannt, währenddessen Kontinentalismus etwas völlig Unbekanntes ist. Nun möchte ich dazu natürlich sagen, es handelt sich hier nicht um den Kontinentalismus, den ich meine, sondern den europäischen Kontinentalismus, d. h. ganz konkret der europäische Kontinent. Darüber zu reden, wie weit der geht usw., können wir gerne noch, wenn wir inhaltlich weitergehen. Für mich, ich will das gleich am Anfang sagen, endet er nicht am Ural, d. h. also Russland ist selbstverständlich Teil Europas, es endet aber nicht am Ural, sondern ich betrachte z. B. die seinerzeitige Erwerbung des Russischen Imperiums unter Katharina der Großen z. B. oder mag das schon ein bisschen früher stattgefunden haben, die Erwerbung Sibiriens als einer
Art Osterweiterung Europas, und für mich zählt dieses absolut mit zu Europa und ich glaube, dass es immer mehr und mehr Menschen gibt, die dieses so sehen.
Das wäre sozusagen vom geografischen Bereich her der Kontinentalismus, der europäische Kontinentalismus. Aber dieser Begriff, da haben Sie vollkommen Recht, ist völlig unbekannt. Transatlantismus ist sehr viel bekannter und darunter versteht man merkwürdigerweise nur die Verbindung der USA zur NATO und dem westeuropäischen Teil Europas, obwohl, wenn wir den Atlantik nehmen und das Wort „Trans“ nehmen, natürlich letztlich auch eine Verbindung von, sagen wir mal, Südamerika zu Westafrika gemeint sein könnte, das ist natürlich auch transatlantisch, aber das ist selbstverständlich nicht unter Transatlantismus zu verstehen, sondern ganz konkret der starke Einfluss der USA auf Europa durch die Instrumente NATO und auch die Instrumente der Europäischen Union.
Der Kontinentalismus ist keine Ideologie. Man könnte es meinen, wenn man immer wieder das Wort „ismus“ am Ende hört, also die Endung „ismus“, nein, das ist damit nicht gemeint, es ist eher eine Haltung. Eine Haltung, die sagen möchte: Stopp, irgendetwas ist da nicht mehr ganz in Ordnung mit dem Transatlantismus, der ist vollkommen mutiert, der hat sich in eine Richtung entwickelt, wie es uns hier in Europa nicht mehr sehr gefällt.
Poppel: Wie realistisch sind die Gedankengänge, die teilweise in diesem Buch schon angestrebt werden zur kontinentalen Arbeit in Europa? Wie realistisch sind diese Gedankengänge im Bereich der Wirtschaft, Gesellschaftspolitik? Wie realistisch ist die Umsetzung dieser Gedanken, die Sie hier in diesem ersten Werk über den Kontinentalismus äußern?
Klimaitis: Das hängt natürlich sehr eng mit der jetzigen Situation im wirtschaftlichen und im sozialen Bereich Europas zusammen. Wir haben seit vielen Jahren eine große Finanzkrise, wir haben dieStaatsverschuldungskrisen, weltweit kann man sagen, aber wir beschränken uns jetzt hier einmal auf die Staaten in Europa und auch auf die USA, weil dieses doch sehr eng zusammenhängt wirtschaftlich und auch geistespolitisch. Also, wie ich ja am Anfang schon sagte, ist der Kontinentalismus als Idee, der europäische
Kontinentalismus als Idee entstanden, nicht nur von mir, sondern ganz bestimmt auch noch von anderen Personen, Denkern, die die Entwicklung der letzten Jahre einfach sehr kritisch betrachten und dieses in Verbindung mit den jetzigen Wirtschafts- und Sozialkrisen, die wir in Europa haben, lässt doch Hoffnung aufkommen, dass man sich zurück erinnert an bestimmte Dinge, die man sehr früh zur Seite geschoben hat. Sie sind nicht begraben, aber sie sind zur Seite geschoben. Ich spreche hier von den genuinen, europäischen Werten. D. h. konkret, wir
haben eine riesige Arbeitslosigkeit, wir haben eine sehr starke Einwanderungswelle von Arbeitern oder von Arbeitnehmern aus nichteuropäischen Ländern oder auch aus europäischen Ländern natürlich, aber das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Wirtschaft Arbeitskräfte benötigt und diese benötigt sie deswegen, weil das einfach im Inland, also wenn wir das einmal so sagen, also in den westeuropäischen Ländern viel zu wenig autochthone Menschen gibt, die noch arbeiten, d. h. also es fehlen Kinder mit anderen Worten, und das wiederum steht in Verbindung mit einer bestimmten Missachtung der Familie, mit einer bestimmten jahrzehntelangen Demontierung, kann man sagen, der Familie, es fehlen einfach Kinder, es fehlen damit einfach Arbeitskräfte und die werden von außen hereingebracht und das alles führt natürlich zu ganz großen sozialen, auch wirtschaftspolitischen Problemen.
Nicht außer Acht zu lassen ist natürlich auch das sehr starke Anwachsen der Finanzindustrie, die eigentlich schon anfangen Staaten zu beherrschen und nicht mehr, dass die Volkssouveränität der jeweiligen Staaten existieren, sondern Souveränitäten weniger finanzstarker Kräfte, die irgendwo angesiedelt sind, darüber können wir auch noch sprechen, wo sie angesiedelt sind, aber das sind nurnoch wenige Kräfte, die da sind. Diese ganzen, also wenige Kräfte, meine ich, dass es eine Konzentration weniger, die sehr sehr breite Macht bekommen haben, dass das stattgefunden hat.
Diese ganze Umgebung, wenn ich das einmal so sagen darf, lässt doch Hoffnung aufkommen, dass Konzeptionen eines europäischen Kontinentalismus, sogar in Gegenwart und baldiger Zukunft mehr versprechen als manch einer im Moment an Pessimismus wahrhaben will. Vielleicht darf ich eine Stelle zitieren, die mir sehr wesentlich erscheint und zwar, wenn ich von
Werten spreche, die zerstört worden sind im Kontinentalismus, wo ich ja so der Meinung bin, dass ein europäischer Kontinentalismus, den ich ja auch eine selbstbewusste Haltung der europäischen Nation mit eben einer Besinnung auf genuin europäische, kulturelle gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Werte nenne und behaupte, dass das von Nöten sei, um von dem, wie ich es ebenfalls in dem Buch ausarbeite, immer offensichtlicher und stark relativistisch geprägten Postulaten loszukommen, die, wie ich ebenfalls ausführe, gezielt übrigens seit Jahrzehnten eine Beeinflussung mit verheerenden Folgen für die Alltagsvernunft der Bevölkerungsmehrheit der Europäer ausübt und es ist natürlich sehr sehr wesentlich und auch sehr bedauerlich auf der anderen Seite, dass von bestimmten transatlantischen Lobbyschreibern, den, wie man sie mehr und mehr heute nennt, Systemmedien, weil man so unabhängige Medien kaum noch vorfindet, dadurch, dass sie unisono eigentlich immer dasselbe schreiben oder behaupten, und dass diese Lobbyschreiber, die diese Postulate dieses Relativismus mit gewisser Vorliebe, möchte man sagen, immer wieder als westliche Werte bezeichnet.
Und dieses Ergebnis dieser transatlantischen Weltsicht ist, denke ich, überdeutlich zu sehen, und zwar haben wir erstens einmal die Entgottung der Welt, dann die Auflösung der Familie, dann das tragische Defizit an Nachwuchs, die Übergabe der noch vorhandenen Kinder an die „Gesellschaft“, die Auflösung der Nation, die Vereinsamung des Einzelnen, und die totale Kommerzialisierung seiner Lebenswelt.
Das allerdings bezweifle ich sehr, denn europäisch – charakteristisch europäisch – sind eigentlich andere Werte, und zwar die, die in der Dreieinheit des Wahren, Schönen und Guten eingeschlossen sind. Aber diese transatlantische Ideologie von heute, die eine sogenannte Toleranz uns einredet, dass alles relativ sei, also alles egal sei, damit werden ja über den Transatlantismus ganz andere Wertedimensionen transportiert, die den wirklich genuinen europäischen Werten zum Teil diametral widersprechen. Und dieses Ergebnis dieser Weltsicht, dieser transatlantischen Weltsicht ist, denke ich, überdeutlich zu sehen, und zwar haben wir erstens einmal die Entgottung der Welt, dann die Auflösung der Familie, dann das tragische Defizit an Nachwuchs, die Übergabe der noch vorhandenen Kinder an die „Gesellschaft“, die Auflösung der Nation, die Vereinsamung des Einzelnen, und die totale Kommerzialisierung seiner Lebenswelt.
Dieses mit der Kommerzialisierung, wir erleben das ja sehr stark, indem ja schon junge Leute von morgens beim Aufstehen bis abends zum Schlafen gehen eigentlich nur vor einem Handy sitzen mit einem Bildschirm und diese ganzen Dinge, die dort transportiert werden, werden ja überwiegend bezahlt durch eine Kommerzialisierung, durch Apps, durch Reklame usw. Diese, und das ist das Interessante, und das ist, glaube ich, sogar der Kernsatz des Kontinentalismus, diese Ziele, die da in der Kommerzialisierung drin sind und in der Egalisierung der Welt, in der Gleichmachung,
die sind ursprünglich im proletarischen Sozialismus angesiedelt.
Und da gab es eine staatliche Ausformung des proletarischen Sozialismus und zwar im sowjetischen Bolschewismus. Aber diese Ziele, die sind peu à peu eine Verbindung mit globalen Finanz-
und Konzernstrukturen eingegangen, und zwar wegen der von ihnen – von diesen Strukturen – entdeckten Erkenntnis, dass sich im Relativismus und in der Egalität, die dort in diesen beiden Dingen verpackten ideologischen Zielen, den ungeheuren Kommerzialisierungsmöglichkeiten, die mit den atomisierten Individuen zu erreichen sind, absolut bestens erreichbar sind. D. h., dass sich diese Ziele nicht widersprechen. Und das ist das Interessante, dass gerade dieser Prozess des Übergangs nicht weniger ursprünglich Ziele des proletarischen Sozialismus, bolschewistischer Ausprägung in die westlichen Gesellschaften hinein, vielen Zeitgenossen viel zu wenig bekannt ist und bewusst ist. Sich des Transatlantismus bedienend, haben die Betreiber dieses Prozesses in jahrzehntelangen, schrittweisen „Eroberungen“, nenne ich das jetzt einmal, die Deutungshoheit gesellschaftlicher Begriffe angestrebt und dabei tiefe Spuren bei Politikern, Medienvertretern und letztlich auch bei den ökonomischen Managern hinterlassen, die bis zur Mutation führen, jene ursprünglichen marxistischen und im Laufe des Prozesses vermutlich extra verklausulierten Ziele nunmehr westliche Werte zu nennen.
Also, diese Schaffung des Begriffes Europäischer Kontinentalismus, das war eines der Ziele dieser Publikation, dieses Buches von mir, und ich hoffe sehr, dass das einfach zur Diskussion anregt. Es gibt jetzt hier noch keine festen fertigen Rezepte. Europa allerdings, und das europäische Denken, da bin ich ganz überzeugt von, ist so reich und so vielfältig, und es gibt so viele tiefe Denker und Menschen, die politische Verantwortung fühlen und in diese Richtung denken, fühlen und handeln werden, dass ich hoffe, dass dieses Buch eben diese Menschen anregt, und dass es zu weiteren Diskussionen zum Begriff „Europäischer Kontinentalismus“ kommt.
Poppel: Ja, dann bedanke ich mich sehr für das Interview und für die kurze Buchpräsentation. Wir hoffen auch sehr, dass das Buch eine Verbreitung findet und gerade auch im journalistischen Bereich und auch in den noch gesunden Denkfabriken, die es noch gibt, zu einem Umdenken in der Frage der europäischen Entwicklung führen wird. Ja, herzlichen Dank für das Interview.
Klimaitis: Sehr gerne, es war mir ein Vergnügen, Herr Poppel.