Schmutz- und Schundliteratur auf den Scheiterhaufen warfen die Schülerinnen, Schüler und Jungen Pioniere der 18. Grundschule in Berlin-Pankow (Buchholz) am Abend des Internationalen Kindertages am 1.Juni 1955. Sie gaben damit den Auftakt für eine Welle von Elternversammlungen, in denen ein Verbot der Schund- und Schmutzliteratur für das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und Groß-Berlin durch ein Gesetz gefordert wird. (Foto: Bundesarchiv, Wkimedia Commons, Bild 183-30858-001 / Klein / CC-BY-SA 3.0)
Einleitungskommentar zu „Kindesmissbrauch im Kino“:
Durchweg verwaschene Grenzen
„Ich hatte Angst: vor dem Berühren, vor dem Küssen, davor, dass ich ihr nicht gefallen und nicht genügen würde. Aber als wir uns eine Weile gehalten hatten, ich ihren Geruch gerochen und ihre Wärme und Kraft gefühlt hatte, wurde alles selbstverständlich. Das Erforschen ihres Körpers mit Händen und Mund, die Begegnung der Mündern und schließlich sie über mir, Auge in Auge, bis es mir kam und ich die Augen fest schloss und zunächst mich zu beherrschen versuchte und dann so laut schrie, dass sie den Schrei mit ihrer Hand auf meinem Mund erstickte. In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt.“ (Schlink, Bernhard: „Der Vorleser“, 1. Auflage 1997, Diogenes Verlag AG, Zürich, S. 27 f.)
Dieser Text wurde zuerst auf www.free21.org unter der URL <https://free21.org/durchweg-verwaschene-grenzen> veröffentlicht. Lizenz: Alexander Brandt/Advo Kater
Diese Erzählung von der Liebschaft eines 15-jährigen Jungen mit einer ihm zunächst vollkommen fremden und wesentlich älteren Frau gehörte für viele Abiturientinnen und Abiturienten der letzten Jahre mit zur Pflichtlektüre auf dem Weg zu ihrem Abschluss. Das war Auslöser für diese Recherche. Die Sexualität Minderjähriger als Vermittlungsrahmen für Abrechnungen mit der Gesellschaft zu verwenden, hat durchaus mehr Methode, als man zunächst denken würde. Bernhard Schlink‘s „Der Vorleser“ schaffte es, auf diese Weise dem Umgang mit der Shoah im Nachkriegsdeutschland diskutierend, auf die Leseliste manches Schülers, also sogar auf den schulischen Lehrplan. Pier Paolo Pasolinis „Salò oder: Die 120 Tage von Sodom“ wurde 1975 trotz grotesker Missbrauchsszenen zu einem der ganz großen Meisterwerke der Faschismuskritik. Und Pier Giuseppe Murgias „Spielen wir Liebe“ trat nur zwei Jahre später den Versuch an, kindliche Grausamkeit zu analysieren, wofür bei undurchsichtigen Dreharbeiten sogar eine zwölfjährige Schauspielerin an zentralen Sexszenen (!) beteiligt wurde. Damit kam er Ende der 1970‘er Jahre sogar ins Kinoprogramm der alten Bundesländer, seit 2006 ist er als kinderpornografisch beschlagnahmt, während er bei den österreichischen Nachbarn strafrechtlich nach wie vor unbedenklich ist. Wie die Kunstfreiheit auch in Deutschland für die Darstellung von Kindesmissbrauch gelten kann, verdeutlichen wir anhand eines berüchtigten politischen Dramas aus Serbien im zweiten Teil dieses Artikels – „Das ist ein neues Genre“.
Auch die Entstehungsgeschichte des Kinderpornografieverbotes als Gegenpol zur Kunstfreiheit in dieser rechtlichen Grauzone ähnelt einem politischen Drama. Im Januar 1975, als die Bundesrepublik gerade eine Reihe überholter Vorstellungen aussortierte und das generelle Verbot von Pornografie aufhob, wurde der damals noch sehr begrenzte Straftatbestand der Verbreitung von Kinderpornografie aus der Taufe gehoben und von hohen Richtern in viel beachteten Entscheidungen auch einmal in die Schranken gewiesen. Vor allem der Einfluss der USA, der Vereinten Nationen und der Europäischen Union führten zu einer ständigen Erweiterung und Verschärfung oft auch gegen den lautstarken Protest von Opposition und Fachleuten, sodass die Gesetzeslage heute die sexuelle Selbstbestimmung nicht mehr unbedingt schützt, sondern sie zunehmend einschränkt und gefährdet. Nicht nachvollziehbare Einzelfallentscheidungen, sich widersprechende Gerichtsurteile und stumpfe Ignoranz haben für eine Lage gesorgt, in der das Strafgesetzbuch durchaus auch die Minderjährigen mit Haft bedroht, die es eigentlich schützen soll. Eine Übersicht über diese Verknüpfung von Widersinnigkeit, Souveränitätsverlust und Freiheitsbedrohung liefert der erste Teil dieses Artikels – „Zum Schutz irgendwelcher Moralen“.
All das ist besonders schlimm, weil Erotika mit Minderjährigen fester Bestandteil der bundesdeutschen Geschichte sind. Die „Schulmädchen-Reporte“ des Produzenten Wolf C. Hartwig erreichten in den Kinos der 1970‘er Jahre ein Millionenpublikum und wurden schließlich zum größten kommerziellen Erfolg der deutschen Filmgeschichte. Sie prägten die Gesellschaft, die Akzeptanz für Sex und das Ideal der attraktiven, jungen Frau in den Medien, sodass es nur konsequent war, dass Eltern ihre teils minderjährigen Töchter bald mit Stolz zu den Castings der als dezent pervers sicher zutreffend beschriebenen Produktionen schickten. Nach außen von fataler Wirkung auf die weitgehend noch „unaufgeklärte“ Gesellschaft, lockten die Reportfilme ihre Darstellerinnen mit einer guten, im Laufe der Jahre sogar noch steigenden Bezahlung und wahren insofern eher ein Nebenverdienst als ein Fall von Missbrauch. Und von denen, die da für ein Engagement als Darstellerin oder Darsteller meist einen Job im Kaufhaus an den Nagel hängten, wurden einige im Laufe der Zeit bekannte Persönlichkeiten. Wurden Schauspieler, wie Heiner Lauterbach. Oder schafften es sogar in den Bundestag, wie Dagmar Wöhrl von 1994 bis 2017.
Die Geschichte vom beispiellosen Erfolg der höchst verwerflichen Reportfilme ist vor allem eine Geschichte von der Unfähigkeit vieler Jugendschutzinstitutionen und Behörden, sich Hartwigs Machwerk rechtzeitig in den Weg zu stellen. Wie nach einem halben Jahrhundert eine ungünstige Rechtslage die so dringend nötige Aufarbeitung dieser Vergangenheit dauerhaft zu blockieren und Sammler zu Pädophilen abzustempeln droht, erfahren Sie im dritten Teil dieses Artikels – „Die jungen Dinger“.
Der Sinn dieses Artikels und der ihm zugrunde liegenden Recherche soll es sein, zum Nachdenken anzuregen. Zum Nachdenken über Gesetze, die Freiheitsrechte schützen sollen , sie aber gefährden, zum Nachdenken über den Verlust von Souveränität gleichzeitig auf staatlicher und ganz persönlicher Ebene und zum Nachdenken über das Verbot, sich mit der Vergangenheit der eigenen Gesellschaft zu befassen. Die durchweg verwaschenen Grenzen zwischen zulässigem und untersagtem sollen nachvollzogen werden.
- Macht es Sinn, wenn ein generelles Besitzverbot für bestimmte Kunsterzeugnisse und der damit verbundene Eingriff in elementare Freiheitsrechte damit begründet wird, pädophilen Tätern keine Rechtfertigung liefern zu wollen, Erzählungen über vergnüglichen Geschlechtsverkehr zwischen Minderjährigen und Erwachsenen aber gleichzeitig im Unterricht gelesen werden müssen?
- Ist es richtig, dass Gesetze, die Minderjährige schützen sollen, sie für ein in Zeiten von Internet und digitaler Kommunikation vollkommen normales Verhalten mit Gefängnisaufenthalten bedrohen?
- Und kann es in Ordnung sein, dass staatliche und private Akteure gemeinsam den Verkauf der Reize von nackten Mädchen und jungen Frauen begünstigen und die ihnen gegebenen Möglichkeiten zum Widerstand nicht nutzen, dann aber den nachfolgenden Generationen die Aufarbeitung dieser Vorgänge erschweren?
Unser Dank gilt allen, die uns während unserer Arbeit an diesem Artikel unterstützt haben, sei es durch die private Hilfe bei Recherchen, das Zurverfügungstellen von wertvollen Dokumenten, Büchern und sonstigen Medien oder das oft unterschätzte, aber elementare Gegenlesen und Kommentieren unserer Manuskripte. Ohne diese Hilfe wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen. Vielleicht ist es ja tatsächlich interessant geworden.
Einleitungskommentar zu „Kindesmissbrauch im Kino“:
Durchweg verwaschene Grenzen
Dieser Text wurde zuerst auf www.free21.org unter der URL <https://free21.org/durchweg-verwaschene-grenzen> veröffentlicht. Lizenz: Alexander Brandt/Advo Kater
Schmutz- und Schundliteratur auf den Scheiterhaufen warfen die Schülerinnen, Schüler und Jungen Pioniere der 18. Grundschule in Berlin-Pankow (Buchholz) am Abend des Internationalen Kindertages am 1.Juni 1955. Sie gaben damit den Auftakt für eine Welle von Elternversammlungen, in denen ein Verbot der Schund- und Schmutzliteratur für das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und Groß-Berlin durch ein Gesetz gefordert wird. (Foto: Bundesarchiv, Wkimedia Commons, Bild 183-30858-001 / Klein / CC-BY-SA 3.0)
„Ich hatte Angst: vor dem Berühren, vor dem Küssen, davor, dass ich ihr nicht gefallen und nicht genügen würde. Aber als wir uns eine Weile gehalten hatten, ich ihren Geruch gerochen und ihre Wärme und Kraft gefühlt hatte, wurde alles selbstverständlich. Das Erforschen ihres Körpers mit Händen und Mund, die Begegnung der Mündern und schließlich sie über mir, Auge in Auge, bis es mir kam und ich die Augen fest schloss und zunächst mich zu beherrschen versuchte und dann so laut schrie, dass sie den Schrei mit ihrer Hand auf meinem Mund erstickte. In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt.“ (Schlink, Bernhard: „Der Vorleser“, 1. Auflage 1997, Diogenes Verlag AG, Zürich, S. 27 f.)
Diese Erzählung von der Liebschaft eines 15-jährigen Jungen mit einer ihm zunächst vollkommen fremden und wesentlich älteren Frau gehörte für viele Abiturientinnen und Abiturienten der letzten Jahre mit zur Pflichtlektüre auf dem Weg zu ihrem Abschluss. Das war Auslöser für diese Recherche. Die Sexualität Minderjähriger als Vermittlungsrahmen für Abrechnungen mit der Gesellschaft zu verwenden, hat durchaus mehr Methode, als man zunächst denken würde. Bernhard Schlink‘s „Der Vorleser“ schaffte es, auf diese Weise dem Umgang mit der Shoah im Nachkriegsdeutschland diskutierend, auf die Leseliste manches Schülers, also sogar auf den schulischen Lehrplan. Pier Paolo Pasolinis „Salò oder: Die 120 Tage von Sodom“ wurde 1975 trotz grotesker Missbrauchsszenen zu einem der ganz großen Meisterwerke der Faschismuskritik. Und Pier Giuseppe Murgias „Spielen wir Liebe“ trat nur zwei Jahre später den Versuch an, kindliche Grausamkeit zu analysieren, wofür bei undurchsichtigen Dreharbeiten sogar eine zwölfjährige Schauspielerin an zentralen Sexszenen (!) beteiligt wurde. Damit kam er Ende der 1970‘er Jahre sogar ins Kinoprogramm der alten Bundesländer, seit 2006 ist er als kinderpornografisch beschlagnahmt, während er bei den österreichischen Nachbarn strafrechtlich nach wie vor unbedenklich ist. Wie die Kunstfreiheit auch in Deutschland für die Darstellung von Kindesmissbrauch gelten kann, verdeutlichen wir anhand eines berüchtigten politischen Dramas aus Serbien im zweiten Teil dieses Artikels – „Das ist ein neues Genre“.
Auch die Entstehungsgeschichte des Kinderpornografieverbotes als Gegenpol zur Kunstfreiheit in dieser rechtlichen Grauzone ähnelt einem politischen Drama. Im Januar 1975, als die Bundesrepublik gerade eine Reihe überholter Vorstellungen aussortierte und das generelle Verbot von Pornografie aufhob, wurde der damals noch sehr begrenzte Straftatbestand der Verbreitung von Kinderpornografie aus der Taufe gehoben und von hohen Richtern in viel beachteten Entscheidungen auch einmal in die Schranken gewiesen. Vor allem der Einfluss der USA, der Vereinten Nationen und der Europäischen Union führten zu einer ständigen Erweiterung und Verschärfung oft auch gegen den lautstarken Protest von Opposition und Fachleuten, sodass die Gesetzeslage heute die sexuelle Selbstbestimmung nicht mehr unbedingt schützt, sondern sie zunehmend einschränkt und gefährdet. Nicht nachvollziehbare Einzelfallentscheidungen, sich widersprechende Gerichtsurteile und stumpfe Ignoranz haben für eine Lage gesorgt, in der das Strafgesetzbuch durchaus auch die Minderjährigen mit Haft bedroht, die es eigentlich schützen soll. Eine Übersicht über diese Verknüpfung von Widersinnigkeit, Souveränitätsverlust und Freiheitsbedrohung liefert der erste Teil dieses Artikels – „Zum Schutz irgendwelcher Moralen“.
All das ist besonders schlimm, weil Erotika mit Minderjährigen fester Bestandteil der bundesdeutschen Geschichte sind. Die „Schulmädchen-Reporte“ des Produzenten Wolf C. Hartwig erreichten in den Kinos der 1970‘er Jahre ein Millionenpublikum und wurden schließlich zum größten kommerziellen Erfolg der deutschen Filmgeschichte. Sie prägten die Gesellschaft, die Akzeptanz für Sex und das Ideal der attraktiven, jungen Frau in den Medien, sodass es nur konsequent war, dass Eltern ihre teils minderjährigen Töchter bald mit Stolz zu den Castings der als dezent pervers sicher zutreffend beschriebenen Produktionen schickten. Nach außen von fataler Wirkung auf die weitgehend noch „unaufgeklärte“ Gesellschaft, lockten die Reportfilme ihre Darstellerinnen mit einer guten, im Laufe der Jahre sogar noch steigenden Bezahlung und wahren insofern eher ein Nebenverdienst als ein Fall von Missbrauch. Und von denen, die da für ein Engagement als Darstellerin oder Darsteller meist einen Job im Kaufhaus an den Nagel hängten, wurden einige im Laufe der Zeit bekannte Persönlichkeiten. Wurden Schauspieler, wie Heiner Lauterbach. Oder schafften es sogar in den Bundestag, wie Dagmar Wöhrl von 1994 bis 2017.
Die Geschichte vom beispiellosen Erfolg der höchst verwerflichen Reportfilme ist vor allem eine Geschichte von der Unfähigkeit vieler Jugendschutzinstitutionen und Behörden, sich Hartwigs Machwerk rechtzeitig in den Weg zu stellen. Wie nach einem halben Jahrhundert eine ungünstige Rechtslage die so dringend nötige Aufarbeitung dieser Vergangenheit dauerhaft zu blockieren und Sammler zu Pädophilen abzustempeln droht, erfahren Sie im dritten Teil dieses Artikels – „Die jungen Dinger“.
Der Sinn dieses Artikels und der ihm zugrunde liegenden Recherche soll es sein, zum Nachdenken anzuregen. Zum Nachdenken über Gesetze, die Freiheitsrechte schützen sollen , sie aber gefährden, zum Nachdenken über den Verlust von Souveränität gleichzeitig auf staatlicher und ganz persönlicher Ebene und zum Nachdenken über das Verbot, sich mit der Vergangenheit der eigenen Gesellschaft zu befassen. Die durchweg verwaschenen Grenzen zwischen zulässigem und untersagtem sollen nachvollzogen werden.
- Macht es Sinn, wenn ein generelles Besitzverbot für bestimmte Kunsterzeugnisse und der damit verbundene Eingriff in elementare Freiheitsrechte damit begründet wird, pädophilen Tätern keine Rechtfertigung liefern zu wollen, Erzählungen über vergnüglichen Geschlechtsverkehr zwischen Minderjährigen und Erwachsenen aber gleichzeitig im Unterricht gelesen werden müssen?
- Ist es richtig, dass Gesetze, die Minderjährige schützen sollen, sie für ein in Zeiten von Internet und digitaler Kommunikation vollkommen normales Verhalten mit Gefängnisaufenthalten bedrohen?
- Und kann es in Ordnung sein, dass staatliche und private Akteure gemeinsam den Verkauf der Reize von nackten Mädchen und jungen Frauen begünstigen und die ihnen gegebenen Möglichkeiten zum Widerstand nicht nutzen, dann aber den nachfolgenden Generationen die Aufarbeitung dieser Vorgänge erschweren?
Unser Dank gilt allen, die uns während unserer Arbeit an diesem Artikel unterstützt haben, sei es durch die private Hilfe bei Recherchen, das Zurverfügungstellen von wertvollen Dokumenten, Büchern und sonstigen Medien oder das oft unterschätzte, aber elementare Gegenlesen und Kommentieren unserer Manuskripte. Ohne diese Hilfe wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen. Vielleicht ist es ja tatsächlich interessant geworden.