Die Zeitenwende – Zum Ukraine-Konflikt

Im Deutschen Bundestag wurde von den Protagonisten der aktuellen deutschen Außenpolitik der Begriff der Zeitenwende entdeckt.

Von Published On: 22. April 2022Kategorien: Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 04.03.2022 auf www.drgeffken.de unter der URL <https://www.drgeffken.de/48_Die_Zeitenwende_-_Zum_Ukraine-Konflikt.php> veröffentlicht. Lizenz: © Dr. Rolf Geffken

„Die 3. Bundestagswahl am 15. September 1957 – Deutscher Michel sägt am eigenen Ast – Applaudierende Sowjetsoldaten“
(Plakat: Konrad Adenaujer Stiftung/1957, Wikimedia Commons, Lizenz CC-BY-SA-3.0-DE)

Dieser Begriff (Anm. Red. „Zeitenwende“) kennzeichnet in der Tat – völlig unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine – die gegenwärtige Lage Deutschlands. In der Innenpolitik wie in der Außenpolitik. Im Folgenden soll auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen des Autors untersucht werden, wie die aktuelle Lage aus den früheren Phasen der Politik Nachkriegsdeutschlands hervorgegangen ist und wie sie sich von diesen unterscheidet.

Der Kalte Krieg 1950 – 1965

Der Verfasser dieser Zeilen hat noch als Jugendlicher die innenpolitischen Auswirkungen eines (erhitzten) Kalten Krieges in der deutschen Außenpolitik erlebt. Es gab einen Zusammenhang zwischen regierungsamtlichem Antikommunismus und dem Korea-Krieg 1951 – 1953 einerseits und einen Zusammenhang von Korea-Krieg und KPD-Verbot. Beide Zusammenhänge lassen sich vielfach empirisch belegen. Gleiches gilt für den Zusammenhang der (west-) deutschen Wiederbewaffnung mit dem sog. Ungarn-Aufstand und später der „Kuba-Krise“ mit der militärischen und ideologischen Aufrüstung des Westens. Das alles hatte gravierende Folgen für das politische Klima im Lande selbst. Dieses Klima wurde von einem besonders einseitigen aggressivem „Zeitgeist“ beherrscht.

Die Stimmen gegen die „Wiederbewaffnung“ und Aufrüstung – auch die atomare Aufrüstung – wurden durch diesen Zeitgeist denunziert als Stimmen der „Feinde“. Kritiker im Inneren wurden gleichgesetzt mit Gegnern im Äußeren. Deren Stimmen galten als „Gefährder“ der „Freiheit“. Nicht Frieden wurde zur Losung der Politik Adenauers und seiner Verbündeten, sondern „Freiheit“, wobei diese Freiheit nur vom inneren und äußeren Feind, dem Kommunismus, bedroht war. Pazifisten wurden mit Feinden gleichgesetzt. Über „Friedensfreunde“ wurden Witze gerissen, wenn man sie nicht gleich diffamierte. Die „Deutsche Friedens-Union“ wurde im Jargon des Kalten Krieges „umbenannt“ in „Die Freunde Ulbrichts“. Der Nazijargon von „ d e m Russen“ wurde reaktiviert und ergänzt um den Vasallen aus dem Reich des Bösen: Walter Ulbricht.

Neue Feindbilder entstanden und doch waren es die alten von 1933 bis 1945. Die sich gegen diese Feindbilder richtende Hetze war nur vordergründig gegen „den Kommunismus“ gerichtet. Dominiert wurde diese Hetze von dem Hass gegen alles Östliche, russische, fremde, kurz: gegen die Gefahr aus dem Osten. Es war nicht zufällig ein asiatisches Gesicht, auf das in dem CDU-Wahlplakat der 1950er Jahre „alle Wege nach Moskau“ liefen. Alle Wege? Nein: Die des Marxismus, wobei – wie in der Nazizeit – Marxist stand für „kein Kommunist, aber mindestens Sozialdemokrat!“. Dieses Prädikat war also gegen alles, was „anders“ als der Mainstream war, gerichtet. Das war die Assoziationskette: „Marx – Fremd – Feind – Osten“. Diese Kette hatte den entscheidenden Vorteil, den Hass gegen das Fremde mit dem politischen Hass gegen die andere Seite der „Front“ und gegen die Feinde im Inneren verbinden zu können.

Wir alle wissen, dass diese Propaganda uns alle ganz nah an den Abgrund führte. Es war nicht etwa nur ein anderer „Standpunkt“, der hinter dieser Propaganda stand, er zielte nicht auf eine Debatte oder Diskussion. Er zielte vielmehr auf: Krieg. Auf die Legitimierung von Krieg durch die Strategie der Vorwärtsverteidigung: So wurde der Marsch auf den Abgrund hin zum nuklearen Krieg vorbereitet: Selbst für die „liberale“ Wochenzeitung DIE ZEIT war plötzlich klar, dass der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1951 mitten im Korea-Konflikt nur einem nützte und der hieße „Stalin!“ Alles, was „irgendwie“ dem Feind tatsächlich oder vermeintlich „nutzen“ konnte, und sei es nur ein Streik, konnte aus außenpolitischen Gründen zur „Gefahr“ werden. Übrigens folgte wenig später das Diktum von Hans Carl Nipperdey, dass „Arbeitskämpfe im allgemeinen unerwünscht“ seien, weil sei „schadeten“….

Nicht die Innenpolitik kam Jahre später auf die Idee, ideologisch abzurüsten. Es war die außenpolitische Lage, die die „Anerkennung von Realitäten“ verlangte und die keinen Raum mehr für die Phantastereien von Reaktionären bot. Die „Ostgebiete“ konnten ebenso wenig „heim ins Reich“ geholt werden wie die „Russische Zone“ oder die SBZ, die „Sowjetische Zone“, mit der die DDR gemeint war. Ein Staat, den die Springer-Presse noch bis in die 1970er Jahre in Anführungszeichen setzte. Keiner wäre damals auf die Idee gekommen, diese Vergewaltigung der Sprache im Interesse einer bestimmten Politik als Sprachpolizei zu kennzeichnen, obwohl sie genau d a s war. Erst aus der allmählich einsetzenden Erkenntnis, dass diese Politik gescheitert war, entstand der Begriff der „Entspannung“. Kreiert wurde er ausgerechnet von einem „Frontstadtpolitiker“ namens Willy Brandt, der bald darauf zum Befürworter einer „Entspannungspolitik zwischen Ost und West“ wurde.

Aber voraus ging dem die unerbittliche Phase einer gegen demokratische Strukturen, demokratische Denkweisen, gegen Verständigung und gegen Dialog und Debatten gerichteten Politik. Einfache Bürger, die schon in den 1950er Jahren für eine „Verständigung mit dem Osten“ eintraten, Reisen zu den Weltjugendfestspielen nach Berlin unternahmen, Einladungen von Organisationen in der DDR folgten oder sich gar für die FDJ und die VVN engagierten, wurden zu Straftätern. Sie gerieten in die Fänge des jungen „politischen Strafrechts“, das den Geist des Kalten Krieges und des Antikommunismus atmete. Wie wenig später auch in Südkorea wurden bloße „Kontakte“ zum Feind, bloße „Besuche“, ja bloße „Treffen“ mit angeblichen Tarnorganisationen der KPD (z.B. dem FDGB) zu konspirativ-verfassungsfeindlichen Aktionen. Der Journalist Lutz Lehmann hat darüber ausführlich und detailliert in den 1960er Jahren berichtet. Die Zahl der gegen solche Menschen eingeleiteten Ermittlungsverfahren schätzte er auf 100.000. Darunter waren auch viele Menschen, die 1945 als Überlebende des Naziterrors aus den KZs befreit worden waren. Nicht selten wurden sie von Polizisten verfolgt und von Richtern verurteilt, die zuvor unter den Nazis gedient hatten….

Die Entspannung 1966 – 1970er Jahre

Erst mit der Veränderung der außenpolitischen Lage und vor dem Hintergrund der Bewegung gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg der USA kam es zu einer „Reform“ des politischen Strafrechts, die die schlimmsten Erscheinungen dieser Gesinnungsjustiz beseitigte. Man kann sagen: Äußerer Friede stärkte das innerstaatliche Recht. Liberales auf Meinungsfreiheit ausgerichtetes Recht wurde überhaupt erst durch eine offensive Entspannungspolitik m ö g l i c h, und zwar nicht nur „juristisch“ sondern auch psychologisch.

Die Entspannungspolitik mündete in die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den ehemals „sozialistischen Staaten“ und schließlich in den Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion 1970 und den Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972. Wer weiß, wie sehr noch Mitte der 1960er Jahre Menschen ausgegrenzt und diffamiert wurden, die die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze mit Polen oder die Anerkennung der DDR als Realität (!) forderten, kann nachempfinden, wie sehr diese Zäsur auch das politische Klima im Lande selbst betraf: Der Verfasser hatte als Schüler 1965 in einer Schulzeitschrift die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verlangt und sah sich anschließend massiven Angriffen und Diffamierungen von Funktionären des Vertriebenenverbands und der ostdeutschen „Landsmannschaften“ ausgesetzt. Die Schulleitung erwog den Ausschluss von der Schule…..

Der Weg zum Dialog und zur Verständigung war schwer. Auch im eigenen Land. Letztlich aber nahm er auch juristische Gestalt an, durch die Ostpolitik Willy Brandts. Der Weg zum Frieden war zu einem Weg des R e c h t s geworden.

„Nobelpreisurkunde Willy Brandt im Bundeskanzleramt von 1971“ (Foto: Detlef Emmridet, Januar 2008, Wikimedia Commons, Lizenz: CC-by-sa 2.0/de)

Es ist bezeichnend, dass auch die innenpolitische Linie der Reformpolitik Willy Brandts bis heute beispielgebend blieb (bis auf die Berufsverbote seit 1972). Nie wieder gab es eine vergleichbare Reform der Betriebsverfassung, obwohl diese seit Jahren überfällig ist. Nie wieder gab es eine Reform oder Ausweitung des Mitbestimmungsgesetzes. Allerdings: Nach dem Rücktritt Brandts stand das Land in der Debatte um den sog. Nachrüstungsbeschluss wieder an einem Scheideweg und es gab keinen Kanzler mehr, der sich an die Spitze der Bewegung gestellt hätte. Aber es gab eine Massenbewegung für den Frieden. Unüberhörbar und unübersehbar! Gut 30 Jahre währte dieser Zustand des Friedens in der Mitte Europas, der zu einem Zustand des Rechts und des inneren Friedens wurde.

Die Wende 1990

Die sog. Wende von 1990 hatte im Gefolge die Implosion der DDR und der Gesellschaften der ehemaligen Ostblockländer. Die Sowjetunion zerfiel und der Machtbereich der NATO dehnte sich aus. Zunächst so, dass Russland Versprechen gemacht wurden. Dann aber Stück für Stück so, dass sich Russland hintergangen fühlen musste. Russland wurde zu allem Überfluss von einem US-Präsidenten als bloße „Regionalmacht“ denunziert und diffamiert.

Die Sowjetunion existierte nicht mehr und mit ihr gut 1/3 ihres Territoriums nicht mehr. Die Sowjetunion unter Boris Jelzin war schwach. Die Wirtschaft war weitgehend ausgeblutet. Das Land war inzwischen alles andere als „kommunistisch“. Dennoch wurde auch dem Nachfolger Putins signalisiert, dass er „nicht dazu“ gehöre. In nördlichen Nachbarländern Russlands und in Polen etablierte sich eine grundsätzliche Gegnerschaft zu Russland. Dieses wurde durch das massive Drängen der baltischen Staaten und Polens auf eine NATO-Mitgliedschaft verstärkt. Begleitet wurde dieser Prozess durch eine beispiellose völker- und menschenrechtswidrige Ausgrenzung der russischen Minderheiten in den baltischen Staaten. Fast die Hälfte der Bevölkerung wurde quasi über Nacht zu „Fremden“ im ehemals eigenen Land. Sie mussten, obwohl sie dort geboren waren, für ihre angebliche „Okkupation“ bezahlen und eine „Aufenthaltserlaubnis“ beantragen. Inzwischen hat man versucht, einen Teil dieser „Minderheit“ zu assimilieren. Die Diskriminierung der zu „Heimatlosen“ erklärten Russen ist damit nicht beendet. Schlimmer noch: Sie werden immer wieder zu potenziellen „Feinden“ erklärt. Gleiches geschah mit einem gewissen Verzug in der Ukraine, die zum historischen Kernland Russlands gehörte. Russen waren dort ethnisch keine Minderheit. Die meisten Menschen sprachen Russisch. Aber seit einigen Jahren versuchen die Machthaber in der Ukraine den Menschen die russische Sprache „abzugewöhnen“ und die Menschen zum Erlernen der ukrainischen Sprache zu zwingen, obwohl dies allen anerkannten Menschenrechten zuwiderläuft.

Der Zerfall der Sowjetunion setzte gewaltige antirussische Kräfte an den Grenzen Russlands frei. Es geht hier nicht darum, ob Putin „richtig gehandelt“ hat, ob der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine richtig oder rechtmäßig oder rechtswidrig war. Allerdings darf und m u s s gefragt werden, ob er bei der rigorosen Ablehnungspolitik der Regierung in Kiew und bei den Regierungen des Westens ehrlicherweise e r w a r t e t werden konnte. Doch auch d a s ist nicht unser Thema, obwohl in diesen Tagen jeder versucht „Haltungen“ abzufragen und zu unterstellen, man habe das Thema verfehlt, wenn man nicht für „die Ukraine“ offen und besinnungslos Partei ergreift. Nein, die Frage ist ganz einfach die, ob der „Westen“ und vor allem Deutschland so einseitig für die Regierung in der Ukraine Partei ergreifen musste und ob diese insbesondere militärische Parteinahme nicht unser eigenes Land in unverantwortliche Schwierigkeiten bringt und dass und warum binnen kürzester Zeit im Zusammenhang mit dem Konflikt jetzt auch innenpolitisch DENKVERBOTE ausgesprochen und durchgesetzt werden, die unsere demokratischen Strukturen massiv gefährden.

Die Zeitenwende 2022

Die wichtigste Auswirkung der gegenwärtigen, von der Bundesregierung ohne jede Not und äußere Gefahr für das Land ausgerufenen Zeitenwende ist: Meinungen gegen den antirussischen Mainstream haben keinen Platz mehr im innerstaatlichen Meinungsspektrum. Wir erleben zurzeit eine gewaltige Ausgrenzung jeder nur halbwegs besonnenen Stimme. Ja, eine Verfolgung all dessen, was irgendwie in den Verdacht gerät „pro Putin“ zu sein. Und das heißt: Alles, was mühsam in gut 30 Jahren bis zur Wende 1990 und nach Ende des Kalten Krieges aufgebaut worden war – nämlich Grundpfeiler einer liberalen Demokratie – wird in diesen Tagen infrage gestellt.

Der Ukraine-Krieg beseitigt auf vielfach radikalere Weise als der Korea-Krieg demokratische Denk- und Verhaltensweisen. Die Menschen – darunter vor allem junge Menschen, die keinen Krieg erlebt haben – sind geradezu besessen darin, sich in immer schlimmeren Attacken gegen „Putin“, den „Putin-Krieg“, den Überfall auf die Ukraine usw. zu ergehen. Dabei wird nichts hinterfragt. Jede noch so schlimme Geschichte über Putin, Russland und die Russen wird unbesehen geglaubt und weiterverbreitet.

„Deutsches antisowjetisches, antijüdisches Propagandaplakat, das 1943 in den umkämpften Gebieten Polens und der Ukraine herausgegeben wurde“
(Bild von: 1940, Wikimedia Commons, Lizenz Public Domain)

All dieser Hass macht blind. Und er soll blind machen, denn der ökonomische Krieg des Westens gegen Russland hat weitaus schlimmere Auswirkungen als ein „normaler“ Krieg. Da ist es wichtig, dass Hass blind macht und die eigene Bevölkerung dieses – wenigstens eine gewisse Zeit – akzeptiert. Durch eine rigorose Sanktionspolitik gegen Russland wird praktisch ein ganzes Land in Geiselhaft genommen und ausgeblutet. Wer dafür bezahlt, interessiert nicht. „Putin“ ist es jedenfalls nicht. Auch nicht die viel zitierten Oligarchen. Das Ausbluten begann schon v o r dem Inkrafttreten der Sanktionen. Schon haben tausende von Firmen angekündigt, die Produktion einzustellen. Mit hunderttausenden von Arbeitslosen ist zu rechnen, mit dem Verlust aller Ersparnisse von Millionen einfacher Menschen. Doch bekanntlich bleibt es nicht bei „Sanktionen“ gegen Russland. Noch v o r dem Angriff Russlands auf die Ukraine erklärte die Bundesregierung die Gaspipeline Nord Stream 2 faktisch zur Industrieruine und legte die Gasversorgung Deutschlands vertrauensvoll in die uneigennützigen Hände der USA, die uns nun mit dem umweltschädlichen Fracking-Gas überschwemmen dürfen. Eine absolut kontraproduktive Maßnahme, die der deutschen Wirtschaft und den hiesigen Bürgern schweren Schaden zufügen wird.

Vorher strikt abgelehnte LNG-Terminals werden in Kurzzeit gebaut werden. „Umständliche“ Umweltprüfungen umgangen werden. Das Umweltrecht und die groß angekündigte Klimapolitik werden auf der Strecke bleiben. Kein Geringerer als Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte es fast wörtlich im deutschen Fernsehen: „Krieg geht vor Klima“. Wirklich eine Zeitenwende. Oder besser eine 180-Grad-Wende grüner Politik. Und das gleich doppelt: als ehemalige Friedenspartei und als ehemalige Umwelt- und angebliche Klimapartei.

In diesen Stunden wird über den „Angriff der Russen auf ein Atomkraftwerk“ berichtet. Gleichzeitig heißt es, nur ein Schulungsgebäude sei „getroffen“ worden. Der Brand sei gelöscht. Russland erklärt, man wolle die AKW gegen Sabotage sichern. Wie auch immer: Schon erklärt Friedrich Merz, man müsse darüber nachdenken, ob nicht ein Angriff auf ein Atomkraftwerk auch ein Angriff auf Deutschland sei. Das mache – wieder mal – eine „Neubewertung“ der Lage notwendig. Endlich: Mit einem Angriff wäre der „Verteidigungsfall“ gegeben und „Gegenangriffe“ wären „gerechtfertigt“. Will man das? Das Tor zum Atomkrieg wäre ganz weit offen. Das Ende der Spirale wäre erreicht. Es wäre das eingetreten, was Politiker wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und sogar Helmut Kohl zu verhindern trachteten. Die heute Regierenden sprechen hingegen im Wehrmachtjargon von „keinem Millimeter“, den man preisgeben werde.

Es gab vor kurzer Zeit die Invasion eines Landes und die Okkupation einer ganzen Provinz dieses Landes durch ein NATO-Mitglied. Die Türkei marschierte in den souveränen Staat Syrien ein. Zuvor waren die Truppen des Okkupanten an der Grenze aufmarschiert. Nichts geschah. Kein Protest aus dem

Westen. Nach der Invasion keine Berichte, obwohl gegen die kurdische Bevölkerung der Angriff galt, seit Jahren ein brutaler Krieg geführt wird. Welche Rechtfertigung gibt es für dieses Schweigen all der Menschenrechtsverteidiger, die heute ihre Stimme gegen Russland erheben? Mit zweierlei Maß wird auch in der Flüchtlingspolitik gemessen. Ukrainische Flüchtlinge werden bereitwillig in Polen und Ungarn aufgenommen. Und das ist gut so. Aber zur gleichen Zeit kampieren immer noch Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak in den Wäldern von Weißrussland und werden beim Gelingen ihrer Flucht nach den Regeln des „Pushbacks“ zurückgeschoben in ihr Elend. Welch eine Menschenrechtskatastrophe!

Doch all das geht in der unablässigen Kampagne gegen das Russland Putins unter. Die dabei betriebene immer mehr unverblümter auftretende Hetze hat nicht nur ihre Funktion gegenüber der eigenen Bevölkerung. Sie soll auch der maximalen Verteufelung Putins und zugleich der Glorifizierung des Regimes Selenskyj dienen. In kürzester Frist (viel kürzer als im Falle des Korea-Krieges!) gelang es, eine gesellschaftliche Stimmung gegen Russland zu erzeugen, die ihresgleichen sucht und die ihrerseits zu einer beispiellosen Eskalation der militärischen Auseinandersetzung führte: Deutschland verabschiedete sich von allen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Bestimmungen als es sich mit dem 100 Milliarden Sondervermögen für eine Aufrüstung der Bundeswehr entschied, obwohl es weder heute noch gestern eine Bedrohung der Sicherheit Deutschlands gab und diese Aufrüstung keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Krieg haben k a n n. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, Dämme zu brechen, Deiche zu öffnen, Schleusen zu öffnen. Schluss zu machen mit jeder aktiven Friedenspolitik. Militärisches Machtstreben heißt die Losung. Dabei ist der Bruch der Regeln einer sparsamen Haushaltspolitik wie einer gegen das Klimaziel gerichteten militärischen Ausgabenpolitik in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig. Vor allem aber liegt in den Waffenlieferungen an die Ukraine eine massive Eskalation des Krieges. Diese wiegt umso schwerer, als die Ukraine kein Bündnispartner war und ist und obwohl es sich bislang um die Auseinandersetzung zwischen zwei Ländern handelte, die man angeblich nicht eskalieren wollte. Die Ukraine wird zum Empfänger von massiven Transferleistungen aus den USA, die der dortige Kongress bereits beschloss. Was wird mit diesem Geld geschehen?

Screenshot 2022-04-20 at 22-10-35 Krieg & Recht – Zerstörung des Rechts durch den Krieg – Rolf Geffken zum Ukrainekrieg – Video 45.png
https://www.youtube.com/watch?v=7TU5H1xqjRw&t=29s

Die Medien forcieren diese Politik und verschweigen zugleich gegenüber der Öffentlichkeit wichtige Zusammenhänge: So wird in keinem der Qualitätsmedien bisher erwähnt, was jedenfalls noch ein paar Jahre zuvor gar kein Geheimnis war: Die Ukraine ist das korrupteste Land Europas! Man kann das in den Verlautbarungen von Transparency International lesen. Es ist allgemein bekannt. Als ich dies aber bei Facebook postete, fiel man über mich her: „Nein, Russland ist viel korrupter. Sie lügen!“ Was aber bedeutet Korruption? Korruption bedeutet die Abwesenheit von Recht, die ständige Affinität und Anfälligkeit für Verbrechen und auch für Krieg. Jeder, der die Bürgerkriege in Afrika verfolgt hat, weiß, dass das so ist. Wer ein solches Regime schützt und zugleich die von diesem Regime immer wieder geforderte Eskalation unterstützt und mitbetreibt, macht sich selbst zum Kriegstreiber. Vor allem aber konterkariert er sein eigenes angebliches Engagement für die Einhaltung von Menschenrechten: Ein solches Regime k a n n keine Menschenrechte einhalten. D a s wusste bislang auch die EU als sie vor dem Krieg der Ukraine mehrfach mitgeteilt hatte, es bestünden gewaltige Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruption im Staatsapparat. Nun aber hat der Schauspieler Selenskyj dazu aufgerufen, in einem Kurzverfahren über die EU-Mitgliedschaft zu entscheiden und dabei vor allem den „Mut“ der ukrainischen Soldaten hervorgehoben. Unterstützt wurde er dabei von Ursula von der Leyen, die ihm eine Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Man stelle sich das vor: Andere Länder mussten aus gutem Grund langwierige Prozeduren über sich ergehen lassen, um die „Prüfung“ ihrer Justiz durch die EU zu bestehen. Aber Selenskyj ersetzt Recht durch den „Mut der Soldaten“. Ein schlimmerer Zusammenhang von Unrecht und Kriegstreiberei ist kaum denkbar.

Es besteht kein Zweifel: Dieser Krieg zerstört wie alle Kriege und Kriegsvorbereitungen das Recht. In der Ukraine, in Russland und in Deutschland. Nicht nur die Wahrheit bleibt im Krieg „zuerst“ auf der Strecke, sondern auch das Recht. Schon wurde unverhohlen im deutschen Fernsehen von einem Professor Heinemann-Grüder ein Mord an Wladimir Putin empfohlen, ohne dass diese strafrechtlich relevante Erklärung irgendwelche Folgen gehabt hätte… Aber, dass der russischstämmige Dirigent der Münchener Philharmoniker sich von dem Angriff Putins „nicht distanziert“ hat, führte zu seinem Rauswurf. Eine bloße Haltung oder genauer: Eine „Nicht-Meinung“ ist in diesen Tagen Grund für ein Berufsverbot. Das gab es selbst vor 70 Jahren unter Adenauer nicht. Eine „Nicht-Meinung“ ist eine Meinung. Punkt. Es wird Zeit, zum Recht zurückzukehren und den Frieden wiederherzustellen! Doch die Reaktion eines Facebooknutzers auf diese Feststellung war wie folgt: „Er ist ein Verbrecher. Deshalb ist das gerechtfertigt!“ Ein Verbrecher? Der Dirigent? Nein: Putin. Also sind beide gleich? Ohne Zweifel: Wenn es so weitergeht, bewegen wir uns neben dem allgemeinen Krieg auf ein Tollhaus zu……

Dr. Rolf Geffken, Hamburg

Die Zeitenwende – Zum Ukraine-Konflikt

Im Deutschen Bundestag wurde von den Protagonisten der aktuellen deutschen Außenpolitik der Begriff der Zeitenwende entdeckt.

Von Published On: 22. April 2022Kategorien: Gesellschaft & Geschichte

Dieser Text wurde zuerst am 04.03.2022 auf www.drgeffken.de unter der URL <https://www.drgeffken.de/48_Die_Zeitenwende_-_Zum_Ukraine-Konflikt.php> veröffentlicht. Lizenz: © Dr. Rolf Geffken

„Die 3. Bundestagswahl am 15. September 1957 – Deutscher Michel sägt am eigenen Ast – Applaudierende Sowjetsoldaten“
(Plakat: Konrad Adenaujer Stiftung/1957, Wikimedia Commons, Lizenz CC-BY-SA-3.0-DE)

Dieser Begriff (Anm. Red. „Zeitenwende“) kennzeichnet in der Tat – völlig unabhängig vom Ausgang des Krieges in der Ukraine – die gegenwärtige Lage Deutschlands. In der Innenpolitik wie in der Außenpolitik. Im Folgenden soll auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen des Autors untersucht werden, wie die aktuelle Lage aus den früheren Phasen der Politik Nachkriegsdeutschlands hervorgegangen ist und wie sie sich von diesen unterscheidet.

Der Kalte Krieg 1950 – 1965

Der Verfasser dieser Zeilen hat noch als Jugendlicher die innenpolitischen Auswirkungen eines (erhitzten) Kalten Krieges in der deutschen Außenpolitik erlebt. Es gab einen Zusammenhang zwischen regierungsamtlichem Antikommunismus und dem Korea-Krieg 1951 – 1953 einerseits und einen Zusammenhang von Korea-Krieg und KPD-Verbot. Beide Zusammenhänge lassen sich vielfach empirisch belegen. Gleiches gilt für den Zusammenhang der (west-) deutschen Wiederbewaffnung mit dem sog. Ungarn-Aufstand und später der „Kuba-Krise“ mit der militärischen und ideologischen Aufrüstung des Westens. Das alles hatte gravierende Folgen für das politische Klima im Lande selbst. Dieses Klima wurde von einem besonders einseitigen aggressivem „Zeitgeist“ beherrscht.

Die Stimmen gegen die „Wiederbewaffnung“ und Aufrüstung – auch die atomare Aufrüstung – wurden durch diesen Zeitgeist denunziert als Stimmen der „Feinde“. Kritiker im Inneren wurden gleichgesetzt mit Gegnern im Äußeren. Deren Stimmen galten als „Gefährder“ der „Freiheit“. Nicht Frieden wurde zur Losung der Politik Adenauers und seiner Verbündeten, sondern „Freiheit“, wobei diese Freiheit nur vom inneren und äußeren Feind, dem Kommunismus, bedroht war. Pazifisten wurden mit Feinden gleichgesetzt. Über „Friedensfreunde“ wurden Witze gerissen, wenn man sie nicht gleich diffamierte. Die „Deutsche Friedens-Union“ wurde im Jargon des Kalten Krieges „umbenannt“ in „Die Freunde Ulbrichts“. Der Nazijargon von „ d e m Russen“ wurde reaktiviert und ergänzt um den Vasallen aus dem Reich des Bösen: Walter Ulbricht.

Neue Feindbilder entstanden und doch waren es die alten von 1933 bis 1945. Die sich gegen diese Feindbilder richtende Hetze war nur vordergründig gegen „den Kommunismus“ gerichtet. Dominiert wurde diese Hetze von dem Hass gegen alles Östliche, russische, fremde, kurz: gegen die Gefahr aus dem Osten. Es war nicht zufällig ein asiatisches Gesicht, auf das in dem CDU-Wahlplakat der 1950er Jahre „alle Wege nach Moskau“ liefen. Alle Wege? Nein: Die des Marxismus, wobei – wie in der Nazizeit – Marxist stand für „kein Kommunist, aber mindestens Sozialdemokrat!“. Dieses Prädikat war also gegen alles, was „anders“ als der Mainstream war, gerichtet. Das war die Assoziationskette: „Marx – Fremd – Feind – Osten“. Diese Kette hatte den entscheidenden Vorteil, den Hass gegen das Fremde mit dem politischen Hass gegen die andere Seite der „Front“ und gegen die Feinde im Inneren verbinden zu können.

Wir alle wissen, dass diese Propaganda uns alle ganz nah an den Abgrund führte. Es war nicht etwa nur ein anderer „Standpunkt“, der hinter dieser Propaganda stand, er zielte nicht auf eine Debatte oder Diskussion. Er zielte vielmehr auf: Krieg. Auf die Legitimierung von Krieg durch die Strategie der Vorwärtsverteidigung: So wurde der Marsch auf den Abgrund hin zum nuklearen Krieg vorbereitet: Selbst für die „liberale“ Wochenzeitung DIE ZEIT war plötzlich klar, dass der Hamburger Hafenarbeiterstreik 1951 mitten im Korea-Konflikt nur einem nützte und der hieße „Stalin!“ Alles, was „irgendwie“ dem Feind tatsächlich oder vermeintlich „nutzen“ konnte, und sei es nur ein Streik, konnte aus außenpolitischen Gründen zur „Gefahr“ werden. Übrigens folgte wenig später das Diktum von Hans Carl Nipperdey, dass „Arbeitskämpfe im allgemeinen unerwünscht“ seien, weil sei „schadeten“….

Nicht die Innenpolitik kam Jahre später auf die Idee, ideologisch abzurüsten. Es war die außenpolitische Lage, die die „Anerkennung von Realitäten“ verlangte und die keinen Raum mehr für die Phantastereien von Reaktionären bot. Die „Ostgebiete“ konnten ebenso wenig „heim ins Reich“ geholt werden wie die „Russische Zone“ oder die SBZ, die „Sowjetische Zone“, mit der die DDR gemeint war. Ein Staat, den die Springer-Presse noch bis in die 1970er Jahre in Anführungszeichen setzte. Keiner wäre damals auf die Idee gekommen, diese Vergewaltigung der Sprache im Interesse einer bestimmten Politik als Sprachpolizei zu kennzeichnen, obwohl sie genau d a s war. Erst aus der allmählich einsetzenden Erkenntnis, dass diese Politik gescheitert war, entstand der Begriff der „Entspannung“. Kreiert wurde er ausgerechnet von einem „Frontstadtpolitiker“ namens Willy Brandt, der bald darauf zum Befürworter einer „Entspannungspolitik zwischen Ost und West“ wurde.

Aber voraus ging dem die unerbittliche Phase einer gegen demokratische Strukturen, demokratische Denkweisen, gegen Verständigung und gegen Dialog und Debatten gerichteten Politik. Einfache Bürger, die schon in den 1950er Jahren für eine „Verständigung mit dem Osten“ eintraten, Reisen zu den Weltjugendfestspielen nach Berlin unternahmen, Einladungen von Organisationen in der DDR folgten oder sich gar für die FDJ und die VVN engagierten, wurden zu Straftätern. Sie gerieten in die Fänge des jungen „politischen Strafrechts“, das den Geist des Kalten Krieges und des Antikommunismus atmete. Wie wenig später auch in Südkorea wurden bloße „Kontakte“ zum Feind, bloße „Besuche“, ja bloße „Treffen“ mit angeblichen Tarnorganisationen der KPD (z.B. dem FDGB) zu konspirativ-verfassungsfeindlichen Aktionen. Der Journalist Lutz Lehmann hat darüber ausführlich und detailliert in den 1960er Jahren berichtet. Die Zahl der gegen solche Menschen eingeleiteten Ermittlungsverfahren schätzte er auf 100.000. Darunter waren auch viele Menschen, die 1945 als Überlebende des Naziterrors aus den KZs befreit worden waren. Nicht selten wurden sie von Polizisten verfolgt und von Richtern verurteilt, die zuvor unter den Nazis gedient hatten….

Die Entspannung 1966 – 1970er Jahre

Erst mit der Veränderung der außenpolitischen Lage und vor dem Hintergrund der Bewegung gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg der USA kam es zu einer „Reform“ des politischen Strafrechts, die die schlimmsten Erscheinungen dieser Gesinnungsjustiz beseitigte. Man kann sagen: Äußerer Friede stärkte das innerstaatliche Recht. Liberales auf Meinungsfreiheit ausgerichtetes Recht wurde überhaupt erst durch eine offensive Entspannungspolitik m ö g l i c h, und zwar nicht nur „juristisch“ sondern auch psychologisch.

Die Entspannungspolitik mündete in die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den ehemals „sozialistischen Staaten“ und schließlich in den Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion 1970 und den Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972. Wer weiß, wie sehr noch Mitte der 1960er Jahre Menschen ausgegrenzt und diffamiert wurden, die die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze mit Polen oder die Anerkennung der DDR als Realität (!) forderten, kann nachempfinden, wie sehr diese Zäsur auch das politische Klima im Lande selbst betraf: Der Verfasser hatte als Schüler 1965 in einer Schulzeitschrift die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verlangt und sah sich anschließend massiven Angriffen und Diffamierungen von Funktionären des Vertriebenenverbands und der ostdeutschen „Landsmannschaften“ ausgesetzt. Die Schulleitung erwog den Ausschluss von der Schule…..

Der Weg zum Dialog und zur Verständigung war schwer. Auch im eigenen Land. Letztlich aber nahm er auch juristische Gestalt an, durch die Ostpolitik Willy Brandts. Der Weg zum Frieden war zu einem Weg des R e c h t s geworden.

„Nobelpreisurkunde Willy Brandt im Bundeskanzleramt von 1971“ (Foto: Detlef Emmridet, Januar 2008, Wikimedia Commons, Lizenz: CC-by-sa 2.0/de)

Es ist bezeichnend, dass auch die innenpolitische Linie der Reformpolitik Willy Brandts bis heute beispielgebend blieb (bis auf die Berufsverbote seit 1972). Nie wieder gab es eine vergleichbare Reform der Betriebsverfassung, obwohl diese seit Jahren überfällig ist. Nie wieder gab es eine Reform oder Ausweitung des Mitbestimmungsgesetzes. Allerdings: Nach dem Rücktritt Brandts stand das Land in der Debatte um den sog. Nachrüstungsbeschluss wieder an einem Scheideweg und es gab keinen Kanzler mehr, der sich an die Spitze der Bewegung gestellt hätte. Aber es gab eine Massenbewegung für den Frieden. Unüberhörbar und unübersehbar! Gut 30 Jahre währte dieser Zustand des Friedens in der Mitte Europas, der zu einem Zustand des Rechts und des inneren Friedens wurde.

Die Wende 1990

Die sog. Wende von 1990 hatte im Gefolge die Implosion der DDR und der Gesellschaften der ehemaligen Ostblockländer. Die Sowjetunion zerfiel und der Machtbereich der NATO dehnte sich aus. Zunächst so, dass Russland Versprechen gemacht wurden. Dann aber Stück für Stück so, dass sich Russland hintergangen fühlen musste. Russland wurde zu allem Überfluss von einem US-Präsidenten als bloße „Regionalmacht“ denunziert und diffamiert.

Die Sowjetunion existierte nicht mehr und mit ihr gut 1/3 ihres Territoriums nicht mehr. Die Sowjetunion unter Boris Jelzin war schwach. Die Wirtschaft war weitgehend ausgeblutet. Das Land war inzwischen alles andere als „kommunistisch“. Dennoch wurde auch dem Nachfolger Putins signalisiert, dass er „nicht dazu“ gehöre. In nördlichen Nachbarländern Russlands und in Polen etablierte sich eine grundsätzliche Gegnerschaft zu Russland. Dieses wurde durch das massive Drängen der baltischen Staaten und Polens auf eine NATO-Mitgliedschaft verstärkt. Begleitet wurde dieser Prozess durch eine beispiellose völker- und menschenrechtswidrige Ausgrenzung der russischen Minderheiten in den baltischen Staaten. Fast die Hälfte der Bevölkerung wurde quasi über Nacht zu „Fremden“ im ehemals eigenen Land. Sie mussten, obwohl sie dort geboren waren, für ihre angebliche „Okkupation“ bezahlen und eine „Aufenthaltserlaubnis“ beantragen. Inzwischen hat man versucht, einen Teil dieser „Minderheit“ zu assimilieren. Die Diskriminierung der zu „Heimatlosen“ erklärten Russen ist damit nicht beendet. Schlimmer noch: Sie werden immer wieder zu potenziellen „Feinden“ erklärt. Gleiches geschah mit einem gewissen Verzug in der Ukraine, die zum historischen Kernland Russlands gehörte. Russen waren dort ethnisch keine Minderheit. Die meisten Menschen sprachen Russisch. Aber seit einigen Jahren versuchen die Machthaber in der Ukraine den Menschen die russische Sprache „abzugewöhnen“ und die Menschen zum Erlernen der ukrainischen Sprache zu zwingen, obwohl dies allen anerkannten Menschenrechten zuwiderläuft.

Der Zerfall der Sowjetunion setzte gewaltige antirussische Kräfte an den Grenzen Russlands frei. Es geht hier nicht darum, ob Putin „richtig gehandelt“ hat, ob der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine richtig oder rechtmäßig oder rechtswidrig war. Allerdings darf und m u s s gefragt werden, ob er bei der rigorosen Ablehnungspolitik der Regierung in Kiew und bei den Regierungen des Westens ehrlicherweise e r w a r t e t werden konnte. Doch auch d a s ist nicht unser Thema, obwohl in diesen Tagen jeder versucht „Haltungen“ abzufragen und zu unterstellen, man habe das Thema verfehlt, wenn man nicht für „die Ukraine“ offen und besinnungslos Partei ergreift. Nein, die Frage ist ganz einfach die, ob der „Westen“ und vor allem Deutschland so einseitig für die Regierung in der Ukraine Partei ergreifen musste und ob diese insbesondere militärische Parteinahme nicht unser eigenes Land in unverantwortliche Schwierigkeiten bringt und dass und warum binnen kürzester Zeit im Zusammenhang mit dem Konflikt jetzt auch innenpolitisch DENKVERBOTE ausgesprochen und durchgesetzt werden, die unsere demokratischen Strukturen massiv gefährden.

Die Zeitenwende 2022

Die wichtigste Auswirkung der gegenwärtigen, von der Bundesregierung ohne jede Not und äußere Gefahr für das Land ausgerufenen Zeitenwende ist: Meinungen gegen den antirussischen Mainstream haben keinen Platz mehr im innerstaatlichen Meinungsspektrum. Wir erleben zurzeit eine gewaltige Ausgrenzung jeder nur halbwegs besonnenen Stimme. Ja, eine Verfolgung all dessen, was irgendwie in den Verdacht gerät „pro Putin“ zu sein. Und das heißt: Alles, was mühsam in gut 30 Jahren bis zur Wende 1990 und nach Ende des Kalten Krieges aufgebaut worden war – nämlich Grundpfeiler einer liberalen Demokratie – wird in diesen Tagen infrage gestellt.

Der Ukraine-Krieg beseitigt auf vielfach radikalere Weise als der Korea-Krieg demokratische Denk- und Verhaltensweisen. Die Menschen – darunter vor allem junge Menschen, die keinen Krieg erlebt haben – sind geradezu besessen darin, sich in immer schlimmeren Attacken gegen „Putin“, den „Putin-Krieg“, den Überfall auf die Ukraine usw. zu ergehen. Dabei wird nichts hinterfragt. Jede noch so schlimme Geschichte über Putin, Russland und die Russen wird unbesehen geglaubt und weiterverbreitet.

„Deutsches antisowjetisches, antijüdisches Propagandaplakat, das 1943 in den umkämpften Gebieten Polens und der Ukraine herausgegeben wurde“
(Bild von: 1940, Wikimedia Commons, Lizenz Public Domain)

All dieser Hass macht blind. Und er soll blind machen, denn der ökonomische Krieg des Westens gegen Russland hat weitaus schlimmere Auswirkungen als ein „normaler“ Krieg. Da ist es wichtig, dass Hass blind macht und die eigene Bevölkerung dieses – wenigstens eine gewisse Zeit – akzeptiert. Durch eine rigorose Sanktionspolitik gegen Russland wird praktisch ein ganzes Land in Geiselhaft genommen und ausgeblutet. Wer dafür bezahlt, interessiert nicht. „Putin“ ist es jedenfalls nicht. Auch nicht die viel zitierten Oligarchen. Das Ausbluten begann schon v o r dem Inkrafttreten der Sanktionen. Schon haben tausende von Firmen angekündigt, die Produktion einzustellen. Mit hunderttausenden von Arbeitslosen ist zu rechnen, mit dem Verlust aller Ersparnisse von Millionen einfacher Menschen. Doch bekanntlich bleibt es nicht bei „Sanktionen“ gegen Russland. Noch v o r dem Angriff Russlands auf die Ukraine erklärte die Bundesregierung die Gaspipeline Nord Stream 2 faktisch zur Industrieruine und legte die Gasversorgung Deutschlands vertrauensvoll in die uneigennützigen Hände der USA, die uns nun mit dem umweltschädlichen Fracking-Gas überschwemmen dürfen. Eine absolut kontraproduktive Maßnahme, die der deutschen Wirtschaft und den hiesigen Bürgern schweren Schaden zufügen wird.

Vorher strikt abgelehnte LNG-Terminals werden in Kurzzeit gebaut werden. „Umständliche“ Umweltprüfungen umgangen werden. Das Umweltrecht und die groß angekündigte Klimapolitik werden auf der Strecke bleiben. Kein Geringerer als Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte es fast wörtlich im deutschen Fernsehen: „Krieg geht vor Klima“. Wirklich eine Zeitenwende. Oder besser eine 180-Grad-Wende grüner Politik. Und das gleich doppelt: als ehemalige Friedenspartei und als ehemalige Umwelt- und angebliche Klimapartei.

In diesen Stunden wird über den „Angriff der Russen auf ein Atomkraftwerk“ berichtet. Gleichzeitig heißt es, nur ein Schulungsgebäude sei „getroffen“ worden. Der Brand sei gelöscht. Russland erklärt, man wolle die AKW gegen Sabotage sichern. Wie auch immer: Schon erklärt Friedrich Merz, man müsse darüber nachdenken, ob nicht ein Angriff auf ein Atomkraftwerk auch ein Angriff auf Deutschland sei. Das mache – wieder mal – eine „Neubewertung“ der Lage notwendig. Endlich: Mit einem Angriff wäre der „Verteidigungsfall“ gegeben und „Gegenangriffe“ wären „gerechtfertigt“. Will man das? Das Tor zum Atomkrieg wäre ganz weit offen. Das Ende der Spirale wäre erreicht. Es wäre das eingetreten, was Politiker wie Willy Brandt, Helmut Schmidt und sogar Helmut Kohl zu verhindern trachteten. Die heute Regierenden sprechen hingegen im Wehrmachtjargon von „keinem Millimeter“, den man preisgeben werde.

Es gab vor kurzer Zeit die Invasion eines Landes und die Okkupation einer ganzen Provinz dieses Landes durch ein NATO-Mitglied. Die Türkei marschierte in den souveränen Staat Syrien ein. Zuvor waren die Truppen des Okkupanten an der Grenze aufmarschiert. Nichts geschah. Kein Protest aus dem

Westen. Nach der Invasion keine Berichte, obwohl gegen die kurdische Bevölkerung der Angriff galt, seit Jahren ein brutaler Krieg geführt wird. Welche Rechtfertigung gibt es für dieses Schweigen all der Menschenrechtsverteidiger, die heute ihre Stimme gegen Russland erheben? Mit zweierlei Maß wird auch in der Flüchtlingspolitik gemessen. Ukrainische Flüchtlinge werden bereitwillig in Polen und Ungarn aufgenommen. Und das ist gut so. Aber zur gleichen Zeit kampieren immer noch Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Irak in den Wäldern von Weißrussland und werden beim Gelingen ihrer Flucht nach den Regeln des „Pushbacks“ zurückgeschoben in ihr Elend. Welch eine Menschenrechtskatastrophe!

Doch all das geht in der unablässigen Kampagne gegen das Russland Putins unter. Die dabei betriebene immer mehr unverblümter auftretende Hetze hat nicht nur ihre Funktion gegenüber der eigenen Bevölkerung. Sie soll auch der maximalen Verteufelung Putins und zugleich der Glorifizierung des Regimes Selenskyj dienen. In kürzester Frist (viel kürzer als im Falle des Korea-Krieges!) gelang es, eine gesellschaftliche Stimmung gegen Russland zu erzeugen, die ihresgleichen sucht und die ihrerseits zu einer beispiellosen Eskalation der militärischen Auseinandersetzung führte: Deutschland verabschiedete sich von allen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Bestimmungen als es sich mit dem 100 Milliarden Sondervermögen für eine Aufrüstung der Bundeswehr entschied, obwohl es weder heute noch gestern eine Bedrohung der Sicherheit Deutschlands gab und diese Aufrüstung keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Krieg haben k a n n. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, Dämme zu brechen, Deiche zu öffnen, Schleusen zu öffnen. Schluss zu machen mit jeder aktiven Friedenspolitik. Militärisches Machtstreben heißt die Losung. Dabei ist der Bruch der Regeln einer sparsamen Haushaltspolitik wie einer gegen das Klimaziel gerichteten militärischen Ausgabenpolitik in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig. Vor allem aber liegt in den Waffenlieferungen an die Ukraine eine massive Eskalation des Krieges. Diese wiegt umso schwerer, als die Ukraine kein Bündnispartner war und ist und obwohl es sich bislang um die Auseinandersetzung zwischen zwei Ländern handelte, die man angeblich nicht eskalieren wollte. Die Ukraine wird zum Empfänger von massiven Transferleistungen aus den USA, die der dortige Kongress bereits beschloss. Was wird mit diesem Geld geschehen?

Screenshot 2022-04-20 at 22-10-35 Krieg & Recht – Zerstörung des Rechts durch den Krieg – Rolf Geffken zum Ukrainekrieg – Video 45.png
https://www.youtube.com/watch?v=7TU5H1xqjRw&t=29s

Die Medien forcieren diese Politik und verschweigen zugleich gegenüber der Öffentlichkeit wichtige Zusammenhänge: So wird in keinem der Qualitätsmedien bisher erwähnt, was jedenfalls noch ein paar Jahre zuvor gar kein Geheimnis war: Die Ukraine ist das korrupteste Land Europas! Man kann das in den Verlautbarungen von Transparency International lesen. Es ist allgemein bekannt. Als ich dies aber bei Facebook postete, fiel man über mich her: „Nein, Russland ist viel korrupter. Sie lügen!“ Was aber bedeutet Korruption? Korruption bedeutet die Abwesenheit von Recht, die ständige Affinität und Anfälligkeit für Verbrechen und auch für Krieg. Jeder, der die Bürgerkriege in Afrika verfolgt hat, weiß, dass das so ist. Wer ein solches Regime schützt und zugleich die von diesem Regime immer wieder geforderte Eskalation unterstützt und mitbetreibt, macht sich selbst zum Kriegstreiber. Vor allem aber konterkariert er sein eigenes angebliches Engagement für die Einhaltung von Menschenrechten: Ein solches Regime k a n n keine Menschenrechte einhalten. D a s wusste bislang auch die EU als sie vor dem Krieg der Ukraine mehrfach mitgeteilt hatte, es bestünden gewaltige Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz und der Korruption im Staatsapparat. Nun aber hat der Schauspieler Selenskyj dazu aufgerufen, in einem Kurzverfahren über die EU-Mitgliedschaft zu entscheiden und dabei vor allem den „Mut“ der ukrainischen Soldaten hervorgehoben. Unterstützt wurde er dabei von Ursula von der Leyen, die ihm eine Mitgliedschaft in Aussicht stellte. Man stelle sich das vor: Andere Länder mussten aus gutem Grund langwierige Prozeduren über sich ergehen lassen, um die „Prüfung“ ihrer Justiz durch die EU zu bestehen. Aber Selenskyj ersetzt Recht durch den „Mut der Soldaten“. Ein schlimmerer Zusammenhang von Unrecht und Kriegstreiberei ist kaum denkbar.

Es besteht kein Zweifel: Dieser Krieg zerstört wie alle Kriege und Kriegsvorbereitungen das Recht. In der Ukraine, in Russland und in Deutschland. Nicht nur die Wahrheit bleibt im Krieg „zuerst“ auf der Strecke, sondern auch das Recht. Schon wurde unverhohlen im deutschen Fernsehen von einem Professor Heinemann-Grüder ein Mord an Wladimir Putin empfohlen, ohne dass diese strafrechtlich relevante Erklärung irgendwelche Folgen gehabt hätte… Aber, dass der russischstämmige Dirigent der Münchener Philharmoniker sich von dem Angriff Putins „nicht distanziert“ hat, führte zu seinem Rauswurf. Eine bloße Haltung oder genauer: Eine „Nicht-Meinung“ ist in diesen Tagen Grund für ein Berufsverbot. Das gab es selbst vor 70 Jahren unter Adenauer nicht. Eine „Nicht-Meinung“ ist eine Meinung. Punkt. Es wird Zeit, zum Recht zurückzukehren und den Frieden wiederherzustellen! Doch die Reaktion eines Facebooknutzers auf diese Feststellung war wie folgt: „Er ist ein Verbrecher. Deshalb ist das gerechtfertigt!“ Ein Verbrecher? Der Dirigent? Nein: Putin. Also sind beide gleich? Ohne Zweifel: Wenn es so weitergeht, bewegen wir uns neben dem allgemeinen Krieg auf ein Tollhaus zu……

Dr. Rolf Geffken, Hamburg