Nach dem Brexit:

Die Existenzkrise der EU

Von Published On: 11. Januar 2017Kategorien: Allgemein

Die andauernde Krise um Griechenland offenbart exemplarisch die Schwächen des Eurosystems: Statt zu sozialer und ökonomischer Konvergenz unter den Euroländern beizutragen, führt es zur Auseinanderentwicklung von Löhnen und Produktivität. Neben Griechenland sind auch Portugal, Spanien und selbst Italien hiervon betroffen. In einigen Ländern mehren sich daher bereits die Forderungen, nicht nur die Eurozone, sondern auch die EU zu verlassen. Es sei dringend an der Zeit, offensiv „Gegen eine EU der Banken und Konzerne und für Solidarität und Demokratie“ einzutreten, meint auch Winfried Wolf, Autor von „Die griechische Tragödie. Rebellion, Kapitulation, Ausverkauf“ und Chefredakteur von Lunarpark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, im Interview mit Jens Wernicke.

 

Jens Wernicke: Herr Wolf, Sie sind einer der herausgebenden Autoren von „FaktenCheck: Europa“, einer Zeitschrift, die gerade mit der zweiten Ausgabe erschien und in ganz Deutschland verteilt wird. Worum geht es dabei?

 

Winfried Wolf: „Europa“ bzw. die „Europäische Union“ sind ja Begriffe, die von vielen Mythen und Legenden umrankt sind. Eine dieser Legenden ist die Gleichsetzung des geographischen Begriffs mit der politischen Einheit EU, die wiederum in der Namensgebung eine „Union“ für ganz Europa, also einschließlich Schweiz, Norwegen, Island und vor allem Ukraine, Weißrussland und Russland, behauptet. Noch ohne Berücksichtigung des Brexit steht die EU mit 508 Millionen Einwohnern allerdings nur für gut 60 Prozent der europäischen Bevölkerung mit 820 Millionen Einwohnern. Nach vollzogenem Brexit werden es nur noch rund 55 Prozent sein. Es handelt sich dabei übrigens um dasselbe Konstrukt, das auch mit der Staatenbundbezeichnung „USA“ praktiziert wird. Wobei wir hier in der Regel mit der Begrifflichkeit „US-amerikanisch“ in aller Regel noch die Anmaßung zu relativieren versuchen, dass „Amerika“ sich ausschließlich auf die USA beschränkt.

 

Ein weiterer Mythos, der mit „Europa“ und der „EU“ verbunden ist, bezieht sich auf die griechische Götterwelt und die in dieser auftretenden Gestalt Europa, der heimlichen Geliebten von Zeus. Eng damit zusammenhängend gibt es dann die vielfach vorgetragene Behauptung, die EWG, später die EG und heute die EU stünden für Demokratie, wobei in jüngerer Zeit hinzugefügt wird, dass schließlich die „Wiege der Demokratie“ in Griechenland zu finden sei. Liest man die Gründungstexte der EU, also die Römischen Verträge aus dem Jahr 1957 als Grundlage der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, fällt allerdings auf, dass die Worte „Demokratie“ oder „demokratisch“ dort gar nicht vorkommen. Erst im Maastrichter Vertrag – inzwischen als „Vertrag über die Europäische Union“ bezeichnet – gibt es ein Bekenntnis zu den „Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte“.

 

Was davon allerdings zu halten ist, hat die Sendung „Die Anstalt“ in ihrer Folge „Grand Hotel Europa“ wunderbar seziert. In einem Satz: Demokratie ist, was die Eliten darunter verstehen. Da geht es dann folgelogisch primär um Profite und kaum überhaupt mehr um soziale Standards und Lebensabsicherung.

 

Jens Wernicke: Beispielsweise in Griechenland, zu welchem Sahra Wagenknecht im NachDenkSeiten-Interview bereits vor einiger Zeit konstatierte: „Von Demokratie kann in Griechenland keine Rede mehr sein.“

 

Winfried Wolf: So ist es, Demokratie wird zunehmend nur noch als „Standortnachteil“ und Wirtschaftsbremse interpretiert und überall dort bekämpft, wo sie die Profite der Reichen und Mächtigen bedroht.

 

Und was in Griechenland geschah und noch immer geschieht, ist, davon dürfen wir ausgehen, auch nur ein autoritär-neoliberaler Testballon, dessen Etablierung nur die Probe ist, derlei Entrechtung der arbeitenden Bevölkerung auch andernorts in der EU zu etablieren.

 

Jens Wernicke: Viele behaupten aber, die Bevölkerung in Griechenland hätte das so gewollt – und überhaupt sei alternativlos, was dort aktuell geschieht.

 

Winfried Wolf: Beide Aussagen sind falsch. 2015 erlebte Griechenland eine Art demokratisches Desaster: Dort sagte der demos, das Volk, im Referendum vom 5. Juli, mit 61,3 Prozent „Ochi“, also „Nein“ zu einem weiteren „Memorandum“, einem dritten Spardiktat der EU. Doch die Europäische Union bzw. die EU-Institutionen in Brüssel und die Bundesregierung in Berlin ignorierten diese Entscheidung souverän und zwangen der griechischen Regierung am 13. Juli 2015 eben ein solch neues, nochmals härteres Spardiktat auf. Gegen das klare Votum der Bevölkerung hiergegen, eine Tatsache, die gern in Vergessenheit gerät.

 

Vor diesem Hintergrund ist es im Übrigen grotesk, dass der scheidende US-Präsident Barack Obama am 15. November in Athen eine Rede zum Thema Demokratie hielt, die er als eine Art Vermächtnis seiner Amtszeit ansieht. Er ging in der Rede nicht auf das Referendum ein und auch nicht darauf, dass die USA damals, vermittelt über ihren starken Einfluss auf den IWF, es in der Hand gehabt hätten, eine solche Verletzung elementarer Demokratie-Grundsätze zu verhindern.

 

Hier ist im Übrigen der Vergleich mit Großbritannien interessant. Am 23. Juni 2016 sprach sich mit 51,9 Prozent der Stimmen eine wesentlich knappere Mehrheit für den wesentlich weiterreichenden Schritt eines Austritts aus der EU aus. Doch seither sind sich alle relevanten Kräfte in der EU und in Großbritannien einig: Brexit heißt Brexit.

 

Die unterschiedliche Bewertung der zwei angeführten Referenda hat offensichtlich wenig mit Demokratie und viel mit wirtschaftlichem Gewicht zu tun. Etwas, das im Übrigen auch bereits Anfang der 1990er Jahre demonstriert wurde, als die Däninnen und Dänen solange über den Maastrichter Vertrag abstimmen mussten, bis das Ergebnis im Sinne der Mainstream-EU passend war. Und was dann vor wenigen Wochen nochmals verdeutlicht wurde, als die wallonische Regionalregierung, die gewagt hatte, CETA abzulehnen, solange gegrillt wurde, bis sie sich eines Schlechteren besann.

 

Vor dem Hintergrund dieser immer deutlicher zutage tretenden antidemokratischen Entwicklungen, die beständig von Propaganda begleitet werden, die den europäischen Bevölkerungen den Geist vernebeln soll, hatten ein paar Freunde und ich im Frühjahr 2015 die Publikation Faktencheck: HELLAS ins Leben gerufen, die mit ihren fünf Ausgaben eine addierte Auflage von immerhin 240.000 Exemplaren erreichte und mit Übersetzungen in fünf Sprachen erschien. Unser Folgeprojekt FaktenCheck: EUROPA erschien mit der ersten Ausgabe bewusst zum Jahrestag des Griechenland-Referendums, Anfang Juli 2016, und trägt den Untertitel: „Gegen eine EU der Banken & Konzerne – für Solidarität und Demokratie“. Denn es muss etwas geschehen gegen diese EU der Konzerne, die sich mehr und mehr abzeichnet, und wir bemühen uns hier um Aufklärung sowie die Widerlegung von Mythen und Propaganda, die dringend notwendig erscheint.

 

Und überhaupt ist „die EU“ kein linkes Projekt und war das auch nie…

 

Jens Wernicke: Inwiefern?

 

Winfried Wolf: Nun, historisch… Die Römischen Verträge mit dem Vorläufer der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl stehen in einer langen Tradition deutscher Eliten-Politik. Nur wenige Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs, am 7. September 1914, formulierte der AEG-Industrielle Walter Rathenau:

 

„Unter diesen Umständen erscheint es als der stärkste Umschwung unserer Politik, wenn wir Frankreich zu einem freiwilligen Frieden gewinnen. (…) Das Endziel wäre

der Zustand, der allein ein (sinnvolles) künftiges Gleichgewicht Europa bringen kann: Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung – gegen England und Amerika einerseits, gegen Russland andererseits politisch und wirtschaftlich gefestigt. (…) Es ist die deutsche Aufgabe, den alteuropäischen Körper zu verwalten und zu stärken.“

Und in einer Denkschrift des Auswärtigen Amtes vom 9. September 1943 wurde formuliert:

 

„Die Einigung Europas (…) ist eine zwangsläufige Entwicklung. (…) Die Lösung der europäischen Frage kann nur auf föderativer Basis herbeigeführt werden (…) Ziel ist eine europäische Zollunion und ein freier europäischer Markt, europäische (…) feste Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Wirtschaftsunion.“

 

Das heißt: Aufgeklärte deutsche Unternehmer wollten bereits im Ersten Weltkrieg – und wohlgemerkt als Resultat des Angriffskriegs! – eine „Union des alteuropäischen Körpers“ unter deutscher Dominanz schaffen. Dieses Ziel wurde vom NS-Regime auch mit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt.

 

Natürlich gab es gewaltige Brüche in der deutschen Geschichte; ich will hier nicht behaupten, dass sich die EU direkt aus den im Ersten und Zweiten Weltkrieg formulierten Kriegszielen ableiten ließe. Dennoch gibt es eben diese lange Tradition von „Europastrategien des deutschen Kapitals“ – so ja auch der Titel einer 1100-seitigen Dokumentensammlung, die Reinhard Opitz zusammengestellt hatte und der die beiden Zitate entnommen sind.

 

Jens Wernicke: In welcher Situation befindet sich die EU heute und wie bewerten Sie den innerlinken Streit, ob mit dieser EU, wie wir sie haben, eine linke Utopie jemals verwirklichbar sein wird?

 

Winfried Wolf: Ich bin mir unsicher, ob es jemals größere linke Utopien gab, die sich mit den Projekten EWG, EG und EU verbanden. Es war wohl vielmehr so, dass die Linke den Prozess der behaupteten europäischen Einigung zur Kenntnis nahm und diesen dann weder kritisch noch euphorisch begleitete; die Marxistinnen und Marxisten sahen hierin wohl eine Art objektive Tendenz des Kapitals. Es gab ja auch ein Vierteljahrhundert lang kaum eine Debatte darüber, dass diese EU keinerlei demokratische Legitimation hatte. Die erste Europawahl fand 1979 statt.

 

Wenn die Sozialdemokratie und die Friedrich-Ebert-Stiftung in den 1970er und 1990er Jahren in größerem Maß in der EG bzw. in der EU aktiv wurden, dann gingen damit damals bereits problematische und wenig demokratische Tendenzen einher. So ging es bei entsprechenden Interventionen in Spanien und Portugal etwa darum, gegen die starken Positionen der jeweiligen Kommunistischen Partei und der kommunistisch geprägten Gewerkschaften, die erhebliche Verdienste im Kampf gegen das Caetano-Regime und gegen den Franco-Faschismus errungen hatten, mit viel Geld anzugehen, starke sozialdemokratische Parteien aufzubauen und für einen Eintritt in die EU und eine Stärkung der Nato zu werben. Die derart aufgebauten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien müssen heute als extrem korrupt und als machtversessen bezeichnet werden.

 

Eine wirkliche innerlinke Debatte über die EU entwickelte sich dann erst in den 1990er Jahren, weitgehend als Reaktion auf den Maastrichter Vertrag. In den 1990er Jahren zeigte sich auch, dass ausgerechnet die EU in Europa spalterisch auftrat: Es waren die EU im Allgemeinen und die deutsche Regierung im Besonderen, die maßgeblich dazu beitrugen, dass damals Jugoslawien in ein halbes Dutzend Einzelstaaten aufgespalten, die gesamte Region in Kriege und Bürgerkriege gestürzt und der Lebensstandard der dort lebenden Menschen teilweise drastisch gesenkt wurde. Das war besonders tragisch, weil es mit der strikt föderal ausgerichteten Bundesrepublik Jugoslawien immerhin ein halbes Jahrhundert lang geglückt war, die Region Balkan, auf der sich zuvor mehr als 150 Jahre lang unterschiedliche Volksgruppen blutig bekämpft hatten, zu befrieden, wofür auch mehr als sieben Millionen interethnische Mischehen Zeugnis ablegten.

 

Der Höhepunkt dieses spalterischen Vorgehens der EU auf dem Balkan war dann der völkerrechtswidrige Kosovo-Krieg, in dem deutsche, britische, italienische, französische und spanische Kampfflugzeuge – zusammen mit dem „Marktführer“ auf diesem Gebiet, den USA – überwiegend zivile Strukturen mit Bomben belegten. Es ist bezeichnend, dass der einzige echt europäische Konzern, den es bislang überhaupt gibt, als Resultat dieses Krieges entstand – und dass es sich dabei mit EADS um einen Rüstungskonzern handelt.

 

Es war im Übrigen der Ex-BND-Agent Erich Schmidt-Eenbohm, der im Detail darlegte, dass der deutsche Geheimdienst BND im Verbund mit den Geheimdiensten Österreichs und Italiens seit dem Tod von Marschall Tito im Jahr 1980 systematisch auf eine Aufspaltung Jugoslawiens hingearbeitet hatte, um dann in den 1990er Jahren schließlich Vollzug melden zu können.

 

In seinem Buch „Der Schattenkrieger – Klaus Kinkel und der BND“ stellt Schmidt-Eenboom fest:

 

„In Rom gab es bereits 1981 ernsthafte Konsultationen zwischen Deutschland, Österreich und Italien über die Frage, wer welche Aufgabe beim Zerfall des Tito-Staates nach dem Tod des Marschalls am 5. Mai 1980 übernehmen sollte. Selbst auf der politischen Bühne Deutschlands waren bald darauf die ersten Versuche zu verzeichnen, einen kroatischen Nationalstaat zu fördern. Als Mate Mestrovic, der Sohn des berühmten Bildhauers und CIA-Agenten Ivan Mestrovic, 1982 nach Bonn kam, empfing ihn der Bundespräsident persönlich. Richard von Weizsäcker versicherte ihm, dass er die Forderung nach einem unabhängigen Kroatien unterstütze. Als die jugoslawische Spionageabwehr davon erfuhr (…), war sie einigermaßen erstaunt, weil die offizielle Politik Bonns zu diesem Zeitpunkt noch für den Erhalt Gesamtjugoslawiens als Stabilitätsfaktor in Südosteuropa eintrat.“

 

So sehr die Aufspaltung Jugoslawiens eine Scheidewende und der Kosovo-Krieg einen Tabubruch darstellten, so gab es damals in der EU doch gleichwohl nur erste Risse, die auf eine kommende, umfassende Krise hindeuteten. Nochmals zwei Jahrzehnte später erleben wir jedoch eine tiefe ökonomische, soziale und politische Krise dieser EU, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schließlich zu einem Aufbrechen der Eurozone, zu einem Ende des Euro als Einheitswährung für eine große Zahl von EU-Mitgliedsländern und möglicherweise sogar zu einer Auflösung der EU führen wird.

 

Jens Wernicke: Zum Thema EU gibt es eine rege linke Debatte. Die Positionen, soweit ich sie nachzuvollziehen vermag, sind „Wer gegen die EU ist, ist völkisch und nationalistisch; wir müssen für eine soziale EU streiten“ auf der einen und „Mit dieser EU ist nichts Soziales mehr zu realisieren, wer diese Mär weiter kolportiert, macht sich mit der Macht der Banken und Konzerne und den diese schützenden Legenden nur gemein“ auf der anderen Seite. Oskar Lafontaine hat diesbezüglich schon vor Längerem ein „Ende des Euro“ gefordert. Wie bewerten Sie diesen Disput?

 

Winfried Wolf: Wir sollten die Themen Euro und EU voneinander trennen.

 

Eine Debatte über die EU als Ganzes mit der Forderung, aus dieser auszutreten, fand bislang hierzulande kaum statt. Das britische Ja zum Brexit hat jetzt auch diese Debatte auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei entschied das Thema EU in der Ukraine über Krieg und Frieden. Es war dort die 2013/14 von Brüssel und Berlin ultimativ vorgetragene Forderung, das Land solle in die EU eintreten und gleichzeitig die privilegierten Beziehungen zu Russland aufgeben, die zur Spaltung des Landes und zu den bekannten kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hatten.

 

Das Brexit-Ja in Großbritannien wiederum kann noch enorme Turbulenzen bewirken. In Schottland wurde damit die Forderung nach Abspaltung vom United Kingdom erneut auf die Tagesordnung gesetzt. In Bälde könnte sich auch die Forderung nach einer Einheit Irlands stellen. Immerhin gestatteten die EG/EU, dass es mit Großbritannien einen Mitgliedsstaat gibt, der sich mit Nordirland faktisch eine innereuropäische Halbkolonie hält.

 

Übrigens wurden in den Römischen Verträgen in einem „Annex IV“ mehr als ein halbes hundert „Überseegebiete“ aufgeführt, für die der EWG-Vertrag ganz oder in Teilen Gültigkeit haben sollte. Es handelte sich dabei überwiegend um Kolonien und Halbkolonien der EWG-Mitgliedstaaten – zum Beispiel Belgisch-Kongo oder Französisch-Äquatorial-Afrika oder das zu den Niederlanden gerechnete Neu Guinea. Es waren dann nicht hehre europäische Prinzipien, die zur Entkolonialisierung geführt hatten, sondern der antikoloniale Kampf der betreffenden Völker.

 

Völlig übersehen in der grundsätzlichen Debatte EU Ja oder Nein wird, dass diese Frage für ein europäisches Land jüngst existentielle Bedeutung erhielt: für Island. Dieser Inselstaat stand vor einem Jahrzehnt an der Schwelle zu einem EU-Beitritt. Dann geriet Island in eine hausgemachte Finanzkrise. Das Land konnte die Krise in nur vier bis fünf Jahren überwinden – mit Maßnahmen wie einer drastischen Abwertung der Währung und der Verstaatlichung des Bankensektors. Als EU-Mitgliedsland oder gar Eurozonenland hätte Island deutlich weniger Chancen gehabt, die Krise zu bewältigen.

 

Dies wird deutlich, wenn man die beiden Inselstaaten Island und Zypern miteinander vergleicht: Zwei weitgehend gleich große Inselrepubliken, beide gerieten in eine hausgemachte Finanzkrise. Island konnte sich, wie beschrieben, aus eigener Kraft aus dieser Krise befreien. Im EU-Land Zypern, zugleich Mitglied der Eurozone, kam es nach Ausbruch der Krise zu massiven Interventionen seitens der EU und der Troika. Das Land wurde zu einem Sparprogramm gezwungen, ähnlich den Memoranden, die Griechenland auferlegt wurden. Das Ergebnis ist eine ständig steigende Arbeitslosenquote – von 2010 auf 2015 etwa von 6,3 auf 16 Prozent – eine Verdopplung der öffentlichen Schulden und deutliche Einschnitte beim Lebensstandard der Bevölkerung.

 

Wie dies von Leuten wie Flassbeck, Lafontaine oder Wagenknecht immer wieder richtig betont wird, spielt der Euro für die Eurozonen-Peripherie-Länder eine die Krisentendenzen verschärfende Rolle. Das ist inzwischen so deutlich, dass auch Linke, die am Euro festhalten wollen, das einräumen. Der Parteichef der LINKEN, Bernd Riexinger, sagte jüngst:

 

„Wir haben einen Konsens, dass der Euro als Währungssystem in der bestehenden Form die Schwachen schwächt und die Starken stärkt.“.

 

An sich ist das ja eine klare Ansage, die klare Kante erfordern sollte. Doch Riexinger argumentiert im Anschluss:

 

„Die Forderung nach einem Austritt aus dem Euro spaltet überall, in den europäischen Linksparteien und in den Gewerkschaften.“

 

Tatsächlich können wir Riexingers wesentliche Aussage, wonach mit dem Euro „die Schwachen schwächer und die Starken stärker“ werden, auf drei Ebenen

konkretisieren: hinsichtlich der sozialen, der ökonomischen und der politischen Realität.

 

Soziale Realität:

Wir haben inzwischen in allen Peripheriestaaten der Eurozone – und dazu zähle ich Frankreich, Spanien, Portugal, Irland, Italien, Zypern und Griechenland – eine deutlich überproportionale Arbeitslosenquote. Vor allem haben wir dort eine skandalös hohe Jugendarbeitslosigkeit, die bei 35 bis 50 Prozent liegt. In all diesen Ländern kam es zu einem Reallohnabbau.

 

Ökonomische Realität:

Alle Eurozonen-Peripherieländer erleben seit Einführung des Euro eine beschleunigte Deindustrialisierung und einen rasanten Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit. So wurde zum Beispiel in Italien die Autoproduktion seit Einführung des Euro von jährlich 2 Millionen Kraftfahrzeugen auf weniger als 750.000 im Jahr 2016 reduziert. Während Fiat die Kfz-Fertigung im Euroland Italien herunterfährt, erhöht es diese in Polen – nicht Eurozone – und bei der Fiat-Tochter Chrysler in den USA. Weniger prominent, aber ebenfalls eindrucksvoll: Seit 2004 wurde in Italien die Fertigung von Kühlschränken von 30 Millionen auf weniger als 10 Millionen geschrumpft.

 

Politische Realität:

Parallel mit der Einführung der Einheitswährung wurde die Eurogroup als Treffen der Finanzminister der Eurozone eingeführt. Eine Eurogroup ist als EU-Institution nirgendwo in den EU-Verträgen vorgesehen und schon gar nicht demokratisch legitimiert. Doch die Eurogroup agiert inzwischen wie ein geheim tagendes Politbüro der EU. Die von der EU und dem IWF installierte Troika wiederum agiert im Auftrag der Eurogroup u.a. in den Peripherie-Ländern. Sie verordnete dort Radikalkuren, die in Widerspruch zu den Grundsätzen der EU stehen. So nennt die EU als offizielle Ziele eine allgemeine „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte“ und die „Verringerung des Abstands zwischen den einzelnen Gebieten“. Die Maßnahmen der Eurogroup und der Troika haben die entgegengesetzte Intention und Wirkung.

 

Meine Bilanz lautet: Das Projekt EWG war von Anfang kein demokratisches oder allgemein fortschrittliches Vorhaben. In den 60 Jahren, in denen dieses Projekt vorangetrieben wurde, kam es zu keiner Demokratisierung. Seit mindestens 15 Jahren und weitgehend seit Einführung des Euro kommt es in der EU, wie beschrieben, zu Verschlechterungen hinsichtlich der ökonomischen Lage bei rund einem Drittel der EU-Mitgliedsländer und zu einer Verschlechterung der sozialen Lage bei rund der Hälfte der in der EU lebenden Menschen. Insbesondere gibt es in der gesamten EU einen allgemeinen Demokratieabbau. Es ist die EU selbst, die spaltet. Ich sehe keine Chance für eine demokratische Revitalisierung der EU.

 

Jens Wernicke: Wenn die EU, wie wir sie kennen, aber zunehmend zur Geißel der Finanzeliten wird und deren Wirken mit bisherigen Praxen kaum aufzuhalten ist – nun, was tun wir dann als Demokraten und Basisbewegte, welche Art Widerstand organisieren wir?

 

Winfried Wolf: Notwendig sind Aufklärung und Gegenformation. Erforderlich ist eine offene Debatte über die EU und ein Ende mit der Tabuisierung einer linken EU-Kritik. Die Behauptung, eine solche Kritik spalte oder man arbeite damit den Rechten in die Hände, ist falsch. Das verkrampfte Festhalten an der Möglichkeit einer „Demokratisierung der EU“ trägt vielmehr zur Stärkung der rechten und faschistischen Positionen bei. Auf diese Weise bleibt die Kritik von EU und Euro das Monopol der Rechten.

 

Das heißt natürlich auch, dass die Entwicklung eines linken Gegenmodells zur bestehenden kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Nationalstaaten und supranationalen Blöcken wie NAFTA und EU erforderlich ist. Ein solches Gegenmodell einer solidarischen, nichtkapitalistischen Gesellschaft kann sich jedoch nur aus den konkreten Kämpfen heraus entwickeln.

 

Diese Kämpfe sind aktuell defensiver Art: CETA und TTIP bekämpfen. Dem Aufstieg der Rechten und Faschisten begegnen. Sich für eine solidarische Praxis gegenüber den Geflüchteten engagieren. Sich gegen die kapitalistischen, zerstörerischen Großprojekte wie Airportausbau, Stuttgart 21, Braunkohleabbau und atomares Endlager zur Wehr setzen.

 

Vor allem aber gilt es, alle unsere Kräfte darauf zu konzentrieren, dass die Kriegsgefahr gebannt, die Rüstungsexporte eingestellt und die Auslandseinsätze der Bundeswehr beendet werden. Für das Letztere gibt es klare Mehrheiten in der Bevölkerung. Dieses Thema muss auch als Lackmus-Test für jede Art linker Ablösung der gegenwärtigen Regierung, also für Rot-Rot-Grün, gelten.

 

Jens Wernicke: Gibt es etwas, das jeder Einzelne von uns tun kann, um den Eliten bei ihrem Schalten und Walten ggf. ein wenig „Sand im Getriebe“ zu sein?

 

Winfried Wolf: Ich glaube, dass jeder Einzelne in seinem Umfeld konkrete Betätigungsfelder finden wird für ein soziales und solidarisches Engagement, wie ich es eben skizzierte.

 

Oft eröffnen sich auch erstaunliche, neue Möglichkeiten. Als wir Ende 2015 im Rahmen einer Bilanz, die die Griechenland-Solidaritätskomitees zogen, das Projekt vorstellten, die Zeitung FaktenCheck: HELLAS in ein mehr allgemeines Projekt FaktenCheck: EUROPA zu überführen, da meldeten sich Leute aus Wuppertal. Sie schlugen vor, für ihre Stadt dann eine eigene ergänzende Zeitung zu machen, in der gewissermaßen das neoliberale Modell der EU-Politik für die Verhältnisse in Wuppertal das Hauptthema ist.

 

Gesagt, getan. Seit Mitte November gibt es FaktenCheck: WUPPERTAL. In Wuppertal wird seit dem 15. November eine 12-seitige Zeitung verteilt, diese besteht als „Buch 1“ aus der vierseitigen FaktenCheck: WUPPERTAL und als „Buch 2“ aus der 8-seitigen FaktenCheck: EUROPA Nummer 2. Die – aus meiner Sicht ganz ausgezeichneten! – Texte in FaktenCheck:WUPPERTAL entstanden vor Ort – in einer neuen Bündnisstruktur, in der die meisten relevanten linken Kräfte in Wuppertal zusammenfanden. Wir als „Zentralredaktion“ konnten wesentliche Hilfe dafür leisten, dass dieses lokale Projekt auch konkret umgesetzt werden konnte – unter anderem, indem wir die Gestaltung und den Druck von FaktenCheck: WUPPERTAL organisierten.

 

Die Wuppertaler und wir sind der Meinung: Solch eine Publikation als Kombi von FaktenCheck: Europa und lokaler ergänzender, aber autonomer Publikation sollte Schule machen. Und wir ermuntern dazu, im Frühjahr 2017, wenn Nummer 3 von FaktenCheck: EUROPA erscheint, in mehreren Städten solche lokale Zeitungen ins Leben zu rufen und weitere „Huckepack“-Publikationen mit FaktenCheck: EUROPA ins Leben zu rufen.

 

Jens Wernicke: Ich bedanke mich für das Gespräch.

 

Quellen:

Mikroskop, Europ. Linksparteien verstärken Ruf nach Plan B <https://makroskop.eu/2016/11/europaeische-linksparteien-verstaerken-ruf-nach-plan-b/>

Telepolis, „Demokratie ist, was die Eliten darunter verstehen“ <https://www.heise.de/tp/features/Demokratie-ist-was-die-Eliten-darunter-verstehen-3399370.html>

Die Anstalt auf YouTube, Folge 21 vom 06.09.2016: „Grand Hotel Europa“ <https://www.youtube.com/watch?v=rrJ70ixPWNY>

Nachdenkseiten, „Von Demokratie kann in Griechenland keine Rede sein“ <http://www.nachdenkseiten.de/?p=27052>

Jens Wernicke: „Demokratie als Standortnachteil“ <https://jensewernicke.wordpress.com/2013/06/08/demokratie-als-standortnachteil/>

YouTube, Winfried Wolf: „Griechenland unterm Hammer: Scheitern des Reformismus?“ <https://www.youtube.com/watch?v=1An_o6lgRPM>

Faktencheck: Hellas <http://faktencheckhellas.org>

Nachdenkseiten: „Es begann mit einer Lüge“ <http://www.nachdenkseiten.de/?p=33128>

Spiegel Online, „Krise Griechenland“ Lafontaine fordert Ende des Euro <http://www.spiegel.de/politik/deutschland/oskar-lafontaine-fordert-ende-des-euro-a-1043084.html>

Harald Schumann auf YouTube: „Macht ohne Kontrolle – die Troika“ <https://www.youtube.com/watch?v=LFNGN3HTJGk>

Faktencheck Europa, Ausgabe 2 <http://faktencheckhellas.org/faktencheckeuropa-ausgabe-2-online/>

Wolf, Winfried / Chilas, Nikos: „Die griechische Tragödie. Rebellion, Kapitulation, Ausverkauf“, Promedia-Verlag, 2016. ISBN: 978-3-85371-403-4

Nach dem Brexit:

Die Existenzkrise der EU

Von Published On: 11. Januar 2017Kategorien: Allgemein

Die andauernde Krise um Griechenland offenbart exemplarisch die Schwächen des Eurosystems: Statt zu sozialer und ökonomischer Konvergenz unter den Euroländern beizutragen, führt es zur Auseinanderentwicklung von Löhnen und Produktivität. Neben Griechenland sind auch Portugal, Spanien und selbst Italien hiervon betroffen. In einigen Ländern mehren sich daher bereits die Forderungen, nicht nur die Eurozone, sondern auch die EU zu verlassen. Es sei dringend an der Zeit, offensiv „Gegen eine EU der Banken und Konzerne und für Solidarität und Demokratie“ einzutreten, meint auch Winfried Wolf, Autor von „Die griechische Tragödie. Rebellion, Kapitulation, Ausverkauf“ und Chefredakteur von Lunarpark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, im Interview mit Jens Wernicke.

 

Jens Wernicke: Herr Wolf, Sie sind einer der herausgebenden Autoren von „FaktenCheck: Europa“, einer Zeitschrift, die gerade mit der zweiten Ausgabe erschien und in ganz Deutschland verteilt wird. Worum geht es dabei?

 

Winfried Wolf: „Europa“ bzw. die „Europäische Union“ sind ja Begriffe, die von vielen Mythen und Legenden umrankt sind. Eine dieser Legenden ist die Gleichsetzung des geographischen Begriffs mit der politischen Einheit EU, die wiederum in der Namensgebung eine „Union“ für ganz Europa, also einschließlich Schweiz, Norwegen, Island und vor allem Ukraine, Weißrussland und Russland, behauptet. Noch ohne Berücksichtigung des Brexit steht die EU mit 508 Millionen Einwohnern allerdings nur für gut 60 Prozent der europäischen Bevölkerung mit 820 Millionen Einwohnern. Nach vollzogenem Brexit werden es nur noch rund 55 Prozent sein. Es handelt sich dabei übrigens um dasselbe Konstrukt, das auch mit der Staatenbundbezeichnung „USA“ praktiziert wird. Wobei wir hier in der Regel mit der Begrifflichkeit „US-amerikanisch“ in aller Regel noch die Anmaßung zu relativieren versuchen, dass „Amerika“ sich ausschließlich auf die USA beschränkt.

 

Ein weiterer Mythos, der mit „Europa“ und der „EU“ verbunden ist, bezieht sich auf die griechische Götterwelt und die in dieser auftretenden Gestalt Europa, der heimlichen Geliebten von Zeus. Eng damit zusammenhängend gibt es dann die vielfach vorgetragene Behauptung, die EWG, später die EG und heute die EU stünden für Demokratie, wobei in jüngerer Zeit hinzugefügt wird, dass schließlich die „Wiege der Demokratie“ in Griechenland zu finden sei. Liest man die Gründungstexte der EU, also die Römischen Verträge aus dem Jahr 1957 als Grundlage der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, fällt allerdings auf, dass die Worte „Demokratie“ oder „demokratisch“ dort gar nicht vorkommen. Erst im Maastrichter Vertrag – inzwischen als „Vertrag über die Europäische Union“ bezeichnet – gibt es ein Bekenntnis zu den „Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte“.

 

Was davon allerdings zu halten ist, hat die Sendung „Die Anstalt“ in ihrer Folge „Grand Hotel Europa“ wunderbar seziert. In einem Satz: Demokratie ist, was die Eliten darunter verstehen. Da geht es dann folgelogisch primär um Profite und kaum überhaupt mehr um soziale Standards und Lebensabsicherung.

 

Jens Wernicke: Beispielsweise in Griechenland, zu welchem Sahra Wagenknecht im NachDenkSeiten-Interview bereits vor einiger Zeit konstatierte: „Von Demokratie kann in Griechenland keine Rede mehr sein.“

 

Winfried Wolf: So ist es, Demokratie wird zunehmend nur noch als „Standortnachteil“ und Wirtschaftsbremse interpretiert und überall dort bekämpft, wo sie die Profite der Reichen und Mächtigen bedroht.

 

Und was in Griechenland geschah und noch immer geschieht, ist, davon dürfen wir ausgehen, auch nur ein autoritär-neoliberaler Testballon, dessen Etablierung nur die Probe ist, derlei Entrechtung der arbeitenden Bevölkerung auch andernorts in der EU zu etablieren.

 

Jens Wernicke: Viele behaupten aber, die Bevölkerung in Griechenland hätte das so gewollt – und überhaupt sei alternativlos, was dort aktuell geschieht.

 

Winfried Wolf: Beide Aussagen sind falsch. 2015 erlebte Griechenland eine Art demokratisches Desaster: Dort sagte der demos, das Volk, im Referendum vom 5. Juli, mit 61,3 Prozent „Ochi“, also „Nein“ zu einem weiteren „Memorandum“, einem dritten Spardiktat der EU. Doch die Europäische Union bzw. die EU-Institutionen in Brüssel und die Bundesregierung in Berlin ignorierten diese Entscheidung souverän und zwangen der griechischen Regierung am 13. Juli 2015 eben ein solch neues, nochmals härteres Spardiktat auf. Gegen das klare Votum der Bevölkerung hiergegen, eine Tatsache, die gern in Vergessenheit gerät.

 

Vor diesem Hintergrund ist es im Übrigen grotesk, dass der scheidende US-Präsident Barack Obama am 15. November in Athen eine Rede zum Thema Demokratie hielt, die er als eine Art Vermächtnis seiner Amtszeit ansieht. Er ging in der Rede nicht auf das Referendum ein und auch nicht darauf, dass die USA damals, vermittelt über ihren starken Einfluss auf den IWF, es in der Hand gehabt hätten, eine solche Verletzung elementarer Demokratie-Grundsätze zu verhindern.

 

Hier ist im Übrigen der Vergleich mit Großbritannien interessant. Am 23. Juni 2016 sprach sich mit 51,9 Prozent der Stimmen eine wesentlich knappere Mehrheit für den wesentlich weiterreichenden Schritt eines Austritts aus der EU aus. Doch seither sind sich alle relevanten Kräfte in der EU und in Großbritannien einig: Brexit heißt Brexit.

 

Die unterschiedliche Bewertung der zwei angeführten Referenda hat offensichtlich wenig mit Demokratie und viel mit wirtschaftlichem Gewicht zu tun. Etwas, das im Übrigen auch bereits Anfang der 1990er Jahre demonstriert wurde, als die Däninnen und Dänen solange über den Maastrichter Vertrag abstimmen mussten, bis das Ergebnis im Sinne der Mainstream-EU passend war. Und was dann vor wenigen Wochen nochmals verdeutlicht wurde, als die wallonische Regionalregierung, die gewagt hatte, CETA abzulehnen, solange gegrillt wurde, bis sie sich eines Schlechteren besann.

 

Vor dem Hintergrund dieser immer deutlicher zutage tretenden antidemokratischen Entwicklungen, die beständig von Propaganda begleitet werden, die den europäischen Bevölkerungen den Geist vernebeln soll, hatten ein paar Freunde und ich im Frühjahr 2015 die Publikation Faktencheck: HELLAS ins Leben gerufen, die mit ihren fünf Ausgaben eine addierte Auflage von immerhin 240.000 Exemplaren erreichte und mit Übersetzungen in fünf Sprachen erschien. Unser Folgeprojekt FaktenCheck: EUROPA erschien mit der ersten Ausgabe bewusst zum Jahrestag des Griechenland-Referendums, Anfang Juli 2016, und trägt den Untertitel: „Gegen eine EU der Banken & Konzerne – für Solidarität und Demokratie“. Denn es muss etwas geschehen gegen diese EU der Konzerne, die sich mehr und mehr abzeichnet, und wir bemühen uns hier um Aufklärung sowie die Widerlegung von Mythen und Propaganda, die dringend notwendig erscheint.

 

Und überhaupt ist „die EU“ kein linkes Projekt und war das auch nie…

 

Jens Wernicke: Inwiefern?

 

Winfried Wolf: Nun, historisch… Die Römischen Verträge mit dem Vorläufer der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl stehen in einer langen Tradition deutscher Eliten-Politik. Nur wenige Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs, am 7. September 1914, formulierte der AEG-Industrielle Walter Rathenau:

 

„Unter diesen Umständen erscheint es als der stärkste Umschwung unserer Politik, wenn wir Frankreich zu einem freiwilligen Frieden gewinnen. (…) Das Endziel wäre

der Zustand, der allein ein (sinnvolles) künftiges Gleichgewicht Europa bringen kann: Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung – gegen England und Amerika einerseits, gegen Russland andererseits politisch und wirtschaftlich gefestigt. (…) Es ist die deutsche Aufgabe, den alteuropäischen Körper zu verwalten und zu stärken.“

Und in einer Denkschrift des Auswärtigen Amtes vom 9. September 1943 wurde formuliert:

 

„Die Einigung Europas (…) ist eine zwangsläufige Entwicklung. (…) Die Lösung der europäischen Frage kann nur auf föderativer Basis herbeigeführt werden (…) Ziel ist eine europäische Zollunion und ein freier europäischer Markt, europäische (…) feste Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Wirtschaftsunion.“

 

Das heißt: Aufgeklärte deutsche Unternehmer wollten bereits im Ersten Weltkrieg – und wohlgemerkt als Resultat des Angriffskriegs! – eine „Union des alteuropäischen Körpers“ unter deutscher Dominanz schaffen. Dieses Ziel wurde vom NS-Regime auch mit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt.

 

Natürlich gab es gewaltige Brüche in der deutschen Geschichte; ich will hier nicht behaupten, dass sich die EU direkt aus den im Ersten und Zweiten Weltkrieg formulierten Kriegszielen ableiten ließe. Dennoch gibt es eben diese lange Tradition von „Europastrategien des deutschen Kapitals“ – so ja auch der Titel einer 1100-seitigen Dokumentensammlung, die Reinhard Opitz zusammengestellt hatte und der die beiden Zitate entnommen sind.

 

Jens Wernicke: In welcher Situation befindet sich die EU heute und wie bewerten Sie den innerlinken Streit, ob mit dieser EU, wie wir sie haben, eine linke Utopie jemals verwirklichbar sein wird?

 

Winfried Wolf: Ich bin mir unsicher, ob es jemals größere linke Utopien gab, die sich mit den Projekten EWG, EG und EU verbanden. Es war wohl vielmehr so, dass die Linke den Prozess der behaupteten europäischen Einigung zur Kenntnis nahm und diesen dann weder kritisch noch euphorisch begleitete; die Marxistinnen und Marxisten sahen hierin wohl eine Art objektive Tendenz des Kapitals. Es gab ja auch ein Vierteljahrhundert lang kaum eine Debatte darüber, dass diese EU keinerlei demokratische Legitimation hatte. Die erste Europawahl fand 1979 statt.

 

Wenn die Sozialdemokratie und die Friedrich-Ebert-Stiftung in den 1970er und 1990er Jahren in größerem Maß in der EG bzw. in der EU aktiv wurden, dann gingen damit damals bereits problematische und wenig demokratische Tendenzen einher. So ging es bei entsprechenden Interventionen in Spanien und Portugal etwa darum, gegen die starken Positionen der jeweiligen Kommunistischen Partei und der kommunistisch geprägten Gewerkschaften, die erhebliche Verdienste im Kampf gegen das Caetano-Regime und gegen den Franco-Faschismus errungen hatten, mit viel Geld anzugehen, starke sozialdemokratische Parteien aufzubauen und für einen Eintritt in die EU und eine Stärkung der Nato zu werben. Die derart aufgebauten sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien müssen heute als extrem korrupt und als machtversessen bezeichnet werden.

 

Eine wirkliche innerlinke Debatte über die EU entwickelte sich dann erst in den 1990er Jahren, weitgehend als Reaktion auf den Maastrichter Vertrag. In den 1990er Jahren zeigte sich auch, dass ausgerechnet die EU in Europa spalterisch auftrat: Es waren die EU im Allgemeinen und die deutsche Regierung im Besonderen, die maßgeblich dazu beitrugen, dass damals Jugoslawien in ein halbes Dutzend Einzelstaaten aufgespalten, die gesamte Region in Kriege und Bürgerkriege gestürzt und der Lebensstandard der dort lebenden Menschen teilweise drastisch gesenkt wurde. Das war besonders tragisch, weil es mit der strikt föderal ausgerichteten Bundesrepublik Jugoslawien immerhin ein halbes Jahrhundert lang geglückt war, die Region Balkan, auf der sich zuvor mehr als 150 Jahre lang unterschiedliche Volksgruppen blutig bekämpft hatten, zu befrieden, wofür auch mehr als sieben Millionen interethnische Mischehen Zeugnis ablegten.

 

Der Höhepunkt dieses spalterischen Vorgehens der EU auf dem Balkan war dann der völkerrechtswidrige Kosovo-Krieg, in dem deutsche, britische, italienische, französische und spanische Kampfflugzeuge – zusammen mit dem „Marktführer“ auf diesem Gebiet, den USA – überwiegend zivile Strukturen mit Bomben belegten. Es ist bezeichnend, dass der einzige echt europäische Konzern, den es bislang überhaupt gibt, als Resultat dieses Krieges entstand – und dass es sich dabei mit EADS um einen Rüstungskonzern handelt.

 

Es war im Übrigen der Ex-BND-Agent Erich Schmidt-Eenbohm, der im Detail darlegte, dass der deutsche Geheimdienst BND im Verbund mit den Geheimdiensten Österreichs und Italiens seit dem Tod von Marschall Tito im Jahr 1980 systematisch auf eine Aufspaltung Jugoslawiens hingearbeitet hatte, um dann in den 1990er Jahren schließlich Vollzug melden zu können.

 

In seinem Buch „Der Schattenkrieger – Klaus Kinkel und der BND“ stellt Schmidt-Eenboom fest:

 

„In Rom gab es bereits 1981 ernsthafte Konsultationen zwischen Deutschland, Österreich und Italien über die Frage, wer welche Aufgabe beim Zerfall des Tito-Staates nach dem Tod des Marschalls am 5. Mai 1980 übernehmen sollte. Selbst auf der politischen Bühne Deutschlands waren bald darauf die ersten Versuche zu verzeichnen, einen kroatischen Nationalstaat zu fördern. Als Mate Mestrovic, der Sohn des berühmten Bildhauers und CIA-Agenten Ivan Mestrovic, 1982 nach Bonn kam, empfing ihn der Bundespräsident persönlich. Richard von Weizsäcker versicherte ihm, dass er die Forderung nach einem unabhängigen Kroatien unterstütze. Als die jugoslawische Spionageabwehr davon erfuhr (…), war sie einigermaßen erstaunt, weil die offizielle Politik Bonns zu diesem Zeitpunkt noch für den Erhalt Gesamtjugoslawiens als Stabilitätsfaktor in Südosteuropa eintrat.“

 

So sehr die Aufspaltung Jugoslawiens eine Scheidewende und der Kosovo-Krieg einen Tabubruch darstellten, so gab es damals in der EU doch gleichwohl nur erste Risse, die auf eine kommende, umfassende Krise hindeuteten. Nochmals zwei Jahrzehnte später erleben wir jedoch eine tiefe ökonomische, soziale und politische Krise dieser EU, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schließlich zu einem Aufbrechen der Eurozone, zu einem Ende des Euro als Einheitswährung für eine große Zahl von EU-Mitgliedsländern und möglicherweise sogar zu einer Auflösung der EU führen wird.

 

Jens Wernicke: Zum Thema EU gibt es eine rege linke Debatte. Die Positionen, soweit ich sie nachzuvollziehen vermag, sind „Wer gegen die EU ist, ist völkisch und nationalistisch; wir müssen für eine soziale EU streiten“ auf der einen und „Mit dieser EU ist nichts Soziales mehr zu realisieren, wer diese Mär weiter kolportiert, macht sich mit der Macht der Banken und Konzerne und den diese schützenden Legenden nur gemein“ auf der anderen Seite. Oskar Lafontaine hat diesbezüglich schon vor Längerem ein „Ende des Euro“ gefordert. Wie bewerten Sie diesen Disput?

 

Winfried Wolf: Wir sollten die Themen Euro und EU voneinander trennen.

 

Eine Debatte über die EU als Ganzes mit der Forderung, aus dieser auszutreten, fand bislang hierzulande kaum statt. Das britische Ja zum Brexit hat jetzt auch diese Debatte auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei entschied das Thema EU in der Ukraine über Krieg und Frieden. Es war dort die 2013/14 von Brüssel und Berlin ultimativ vorgetragene Forderung, das Land solle in die EU eintreten und gleichzeitig die privilegierten Beziehungen zu Russland aufgeben, die zur Spaltung des Landes und zu den bekannten kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hatten.

 

Das Brexit-Ja in Großbritannien wiederum kann noch enorme Turbulenzen bewirken. In Schottland wurde damit die Forderung nach Abspaltung vom United Kingdom erneut auf die Tagesordnung gesetzt. In Bälde könnte sich auch die Forderung nach einer Einheit Irlands stellen. Immerhin gestatteten die EG/EU, dass es mit Großbritannien einen Mitgliedsstaat gibt, der sich mit Nordirland faktisch eine innereuropäische Halbkolonie hält.

 

Übrigens wurden in den Römischen Verträgen in einem „Annex IV“ mehr als ein halbes hundert „Überseegebiete“ aufgeführt, für die der EWG-Vertrag ganz oder in Teilen Gültigkeit haben sollte. Es handelte sich dabei überwiegend um Kolonien und Halbkolonien der EWG-Mitgliedstaaten – zum Beispiel Belgisch-Kongo oder Französisch-Äquatorial-Afrika oder das zu den Niederlanden gerechnete Neu Guinea. Es waren dann nicht hehre europäische Prinzipien, die zur Entkolonialisierung geführt hatten, sondern der antikoloniale Kampf der betreffenden Völker.

 

Völlig übersehen in der grundsätzlichen Debatte EU Ja oder Nein wird, dass diese Frage für ein europäisches Land jüngst existentielle Bedeutung erhielt: für Island. Dieser Inselstaat stand vor einem Jahrzehnt an der Schwelle zu einem EU-Beitritt. Dann geriet Island in eine hausgemachte Finanzkrise. Das Land konnte die Krise in nur vier bis fünf Jahren überwinden – mit Maßnahmen wie einer drastischen Abwertung der Währung und der Verstaatlichung des Bankensektors. Als EU-Mitgliedsland oder gar Eurozonenland hätte Island deutlich weniger Chancen gehabt, die Krise zu bewältigen.

 

Dies wird deutlich, wenn man die beiden Inselstaaten Island und Zypern miteinander vergleicht: Zwei weitgehend gleich große Inselrepubliken, beide gerieten in eine hausgemachte Finanzkrise. Island konnte sich, wie beschrieben, aus eigener Kraft aus dieser Krise befreien. Im EU-Land Zypern, zugleich Mitglied der Eurozone, kam es nach Ausbruch der Krise zu massiven Interventionen seitens der EU und der Troika. Das Land wurde zu einem Sparprogramm gezwungen, ähnlich den Memoranden, die Griechenland auferlegt wurden. Das Ergebnis ist eine ständig steigende Arbeitslosenquote – von 2010 auf 2015 etwa von 6,3 auf 16 Prozent – eine Verdopplung der öffentlichen Schulden und deutliche Einschnitte beim Lebensstandard der Bevölkerung.

 

Wie dies von Leuten wie Flassbeck, Lafontaine oder Wagenknecht immer wieder richtig betont wird, spielt der Euro für die Eurozonen-Peripherie-Länder eine die Krisentendenzen verschärfende Rolle. Das ist inzwischen so deutlich, dass auch Linke, die am Euro festhalten wollen, das einräumen. Der Parteichef der LINKEN, Bernd Riexinger, sagte jüngst:

 

„Wir haben einen Konsens, dass der Euro als Währungssystem in der bestehenden Form die Schwachen schwächt und die Starken stärkt.“.

 

An sich ist das ja eine klare Ansage, die klare Kante erfordern sollte. Doch Riexinger argumentiert im Anschluss:

 

„Die Forderung nach einem Austritt aus dem Euro spaltet überall, in den europäischen Linksparteien und in den Gewerkschaften.“

 

Tatsächlich können wir Riexingers wesentliche Aussage, wonach mit dem Euro „die Schwachen schwächer und die Starken stärker“ werden, auf drei Ebenen

konkretisieren: hinsichtlich der sozialen, der ökonomischen und der politischen Realität.

 

Soziale Realität:

Wir haben inzwischen in allen Peripheriestaaten der Eurozone – und dazu zähle ich Frankreich, Spanien, Portugal, Irland, Italien, Zypern und Griechenland – eine deutlich überproportionale Arbeitslosenquote. Vor allem haben wir dort eine skandalös hohe Jugendarbeitslosigkeit, die bei 35 bis 50 Prozent liegt. In all diesen Ländern kam es zu einem Reallohnabbau.

 

Ökonomische Realität:

Alle Eurozonen-Peripherieländer erleben seit Einführung des Euro eine beschleunigte Deindustrialisierung und einen rasanten Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit. So wurde zum Beispiel in Italien die Autoproduktion seit Einführung des Euro von jährlich 2 Millionen Kraftfahrzeugen auf weniger als 750.000 im Jahr 2016 reduziert. Während Fiat die Kfz-Fertigung im Euroland Italien herunterfährt, erhöht es diese in Polen – nicht Eurozone – und bei der Fiat-Tochter Chrysler in den USA. Weniger prominent, aber ebenfalls eindrucksvoll: Seit 2004 wurde in Italien die Fertigung von Kühlschränken von 30 Millionen auf weniger als 10 Millionen geschrumpft.

 

Politische Realität:

Parallel mit der Einführung der Einheitswährung wurde die Eurogroup als Treffen der Finanzminister der Eurozone eingeführt. Eine Eurogroup ist als EU-Institution nirgendwo in den EU-Verträgen vorgesehen und schon gar nicht demokratisch legitimiert. Doch die Eurogroup agiert inzwischen wie ein geheim tagendes Politbüro der EU. Die von der EU und dem IWF installierte Troika wiederum agiert im Auftrag der Eurogroup u.a. in den Peripherie-Ländern. Sie verordnete dort Radikalkuren, die in Widerspruch zu den Grundsätzen der EU stehen. So nennt die EU als offizielle Ziele eine allgemeine „Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte“ und die „Verringerung des Abstands zwischen den einzelnen Gebieten“. Die Maßnahmen der Eurogroup und der Troika haben die entgegengesetzte Intention und Wirkung.

 

Meine Bilanz lautet: Das Projekt EWG war von Anfang kein demokratisches oder allgemein fortschrittliches Vorhaben. In den 60 Jahren, in denen dieses Projekt vorangetrieben wurde, kam es zu keiner Demokratisierung. Seit mindestens 15 Jahren und weitgehend seit Einführung des Euro kommt es in der EU, wie beschrieben, zu Verschlechterungen hinsichtlich der ökonomischen Lage bei rund einem Drittel der EU-Mitgliedsländer und zu einer Verschlechterung der sozialen Lage bei rund der Hälfte der in der EU lebenden Menschen. Insbesondere gibt es in der gesamten EU einen allgemeinen Demokratieabbau. Es ist die EU selbst, die spaltet. Ich sehe keine Chance für eine demokratische Revitalisierung der EU.

 

Jens Wernicke: Wenn die EU, wie wir sie kennen, aber zunehmend zur Geißel der Finanzeliten wird und deren Wirken mit bisherigen Praxen kaum aufzuhalten ist – nun, was tun wir dann als Demokraten und Basisbewegte, welche Art Widerstand organisieren wir?

 

Winfried Wolf: Notwendig sind Aufklärung und Gegenformation. Erforderlich ist eine offene Debatte über die EU und ein Ende mit der Tabuisierung einer linken EU-Kritik. Die Behauptung, eine solche Kritik spalte oder man arbeite damit den Rechten in die Hände, ist falsch. Das verkrampfte Festhalten an der Möglichkeit einer „Demokratisierung der EU“ trägt vielmehr zur Stärkung der rechten und faschistischen Positionen bei. Auf diese Weise bleibt die Kritik von EU und Euro das Monopol der Rechten.

 

Das heißt natürlich auch, dass die Entwicklung eines linken Gegenmodells zur bestehenden kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Nationalstaaten und supranationalen Blöcken wie NAFTA und EU erforderlich ist. Ein solches Gegenmodell einer solidarischen, nichtkapitalistischen Gesellschaft kann sich jedoch nur aus den konkreten Kämpfen heraus entwickeln.

 

Diese Kämpfe sind aktuell defensiver Art: CETA und TTIP bekämpfen. Dem Aufstieg der Rechten und Faschisten begegnen. Sich für eine solidarische Praxis gegenüber den Geflüchteten engagieren. Sich gegen die kapitalistischen, zerstörerischen Großprojekte wie Airportausbau, Stuttgart 21, Braunkohleabbau und atomares Endlager zur Wehr setzen.

 

Vor allem aber gilt es, alle unsere Kräfte darauf zu konzentrieren, dass die Kriegsgefahr gebannt, die Rüstungsexporte eingestellt und die Auslandseinsätze der Bundeswehr beendet werden. Für das Letztere gibt es klare Mehrheiten in der Bevölkerung. Dieses Thema muss auch als Lackmus-Test für jede Art linker Ablösung der gegenwärtigen Regierung, also für Rot-Rot-Grün, gelten.

 

Jens Wernicke: Gibt es etwas, das jeder Einzelne von uns tun kann, um den Eliten bei ihrem Schalten und Walten ggf. ein wenig „Sand im Getriebe“ zu sein?

 

Winfried Wolf: Ich glaube, dass jeder Einzelne in seinem Umfeld konkrete Betätigungsfelder finden wird für ein soziales und solidarisches Engagement, wie ich es eben skizzierte.

 

Oft eröffnen sich auch erstaunliche, neue Möglichkeiten. Als wir Ende 2015 im Rahmen einer Bilanz, die die Griechenland-Solidaritätskomitees zogen, das Projekt vorstellten, die Zeitung FaktenCheck: HELLAS in ein mehr allgemeines Projekt FaktenCheck: EUROPA zu überführen, da meldeten sich Leute aus Wuppertal. Sie schlugen vor, für ihre Stadt dann eine eigene ergänzende Zeitung zu machen, in der gewissermaßen das neoliberale Modell der EU-Politik für die Verhältnisse in Wuppertal das Hauptthema ist.

 

Gesagt, getan. Seit Mitte November gibt es FaktenCheck: WUPPERTAL. In Wuppertal wird seit dem 15. November eine 12-seitige Zeitung verteilt, diese besteht als „Buch 1“ aus der vierseitigen FaktenCheck: WUPPERTAL und als „Buch 2“ aus der 8-seitigen FaktenCheck: EUROPA Nummer 2. Die – aus meiner Sicht ganz ausgezeichneten! – Texte in FaktenCheck:WUPPERTAL entstanden vor Ort – in einer neuen Bündnisstruktur, in der die meisten relevanten linken Kräfte in Wuppertal zusammenfanden. Wir als „Zentralredaktion“ konnten wesentliche Hilfe dafür leisten, dass dieses lokale Projekt auch konkret umgesetzt werden konnte – unter anderem, indem wir die Gestaltung und den Druck von FaktenCheck: WUPPERTAL organisierten.

 

Die Wuppertaler und wir sind der Meinung: Solch eine Publikation als Kombi von FaktenCheck: Europa und lokaler ergänzender, aber autonomer Publikation sollte Schule machen. Und wir ermuntern dazu, im Frühjahr 2017, wenn Nummer 3 von FaktenCheck: EUROPA erscheint, in mehreren Städten solche lokale Zeitungen ins Leben zu rufen und weitere „Huckepack“-Publikationen mit FaktenCheck: EUROPA ins Leben zu rufen.

 

Jens Wernicke: Ich bedanke mich für das Gespräch.

 

Quellen:

Mikroskop, Europ. Linksparteien verstärken Ruf nach Plan B <https://makroskop.eu/2016/11/europaeische-linksparteien-verstaerken-ruf-nach-plan-b/>

Telepolis, „Demokratie ist, was die Eliten darunter verstehen“ <https://www.heise.de/tp/features/Demokratie-ist-was-die-Eliten-darunter-verstehen-3399370.html>

Die Anstalt auf YouTube, Folge 21 vom 06.09.2016: „Grand Hotel Europa“ <https://www.youtube.com/watch?v=rrJ70ixPWNY>

Nachdenkseiten, „Von Demokratie kann in Griechenland keine Rede sein“ <http://www.nachdenkseiten.de/?p=27052>

Jens Wernicke: „Demokratie als Standortnachteil“ <https://jensewernicke.wordpress.com/2013/06/08/demokratie-als-standortnachteil/>

YouTube, Winfried Wolf: „Griechenland unterm Hammer: Scheitern des Reformismus?“ <https://www.youtube.com/watch?v=1An_o6lgRPM>

Faktencheck: Hellas <http://faktencheckhellas.org>

Nachdenkseiten: „Es begann mit einer Lüge“ <http://www.nachdenkseiten.de/?p=33128>

Spiegel Online, „Krise Griechenland“ Lafontaine fordert Ende des Euro <http://www.spiegel.de/politik/deutschland/oskar-lafontaine-fordert-ende-des-euro-a-1043084.html>

Harald Schumann auf YouTube: „Macht ohne Kontrolle – die Troika“ <https://www.youtube.com/watch?v=LFNGN3HTJGk>

Faktencheck Europa, Ausgabe 2 <http://faktencheckhellas.org/faktencheckeuropa-ausgabe-2-online/>

Wolf, Winfried / Chilas, Nikos: „Die griechische Tragödie. Rebellion, Kapitulation, Ausverkauf“, Promedia-Verlag, 2016. ISBN: 978-3-85371-403-4