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Die Ausbeutung von Arbeitskräften ist das große Tabu der EU
Bei der Pflege, Landwirtschaft, Prostitution, Logistik oder im Bau: Ohne Arbeitsmigranten läuft in den reichen EU-Staaten wenig.
Dieser Text wurde zuerst am 30.9.2021 auf www.infosperber.ch unter der URL <https://www.infosperber.ch/wirtschaft/arbeit/die-ausbeutung-von-arbeitskraeften-ist-das-grosse-tabu-der-eu/> veröffentlicht. Lizenz: Werner Rügemer, Infosperber
In der EU werden Arbeits- und Sozialrechte, die in der Universellen Erklärung der Menschenrechte begründet sind, sowie die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO massiv verletzt und verdrängt. Die EU kennt vor allem keine kollektiven Arbeitsrechte. Mit besonderer Schärfe zeigt sich dies bei den immer zahlreicheren Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten. Widerstand ist verbreitet, aber noch gering, und wird zudem politisch und medial verdrängt.
Deutschland – führender Arbeits-Unrechtsstaat in der EU
Mit der Agenda 2010 förderte die Regierung Schröder/Fischer aus SPD und Grünen in den Jahren 1998 bis 2005 das steuerbegünstigte Eindringen vor allem der neuen, unregulierten US-Investoren wie Blackstone, KKR, BlackRock, Vanguard – und gleichzeitig wurde für sie mit den vier Hartz-Arbeitsgesetzen der größte Niedriglohn-Sektor in der EU geschaffen. Dazu gehörten die erweiterte Leiharbeit, Mini-Jobs, befristete und Teilzeit-Jobs sowie die Disziplinierung und Verarmung der Arbeitslosen.
Die Folge-Regierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel/CDU haben die Praktiken bis 2021 verschärft und erweitert und mit der „Ost-Erweiterung“ der EU auch den Umfang und die Vielfältigkeit migrantischer Arbeit. Sie ist meist zeitlich begrenzt und wird zudem vielfach halblegal oder illegal verrichtet:
Seit Jahren arbeiten etwa 600‘000 osteuropäische Frauen in der häuslichen Krankenpflege: Sie werden nach Mindestlohn von etwa 10 Euro für 30 Stunden pro Woche entlohnt, müssen aber 24 Stunden in Bereitschaft sein, haben keinen bezahlten Urlaub und keinen Kündigungsschutz.
Fleischzerleger werden auch nach einer „Reform“ im Pandemiejahr immer noch gezielt aus Osteuropa angeworben und ohne Familie in Massenunterkünften untergebracht.
Im Pandemiejahr 2021 wurde die unversicherte migrantische Saisonarbeit bei Spargelstechen und Erdbeerpflücken von drei auf vier Monate erweitert.
Auch während der Pandemie warb das deutsche Gesundheitsministerium osteuropäische Pfleger und Ärzte an. In Polen, Ungarn, Kroatien, Bosnien und dem Kosovo verlottern die öffentlichen Gesundheitssysteme, sie bleiben unterfinanziert. Die Monatsgehälter für Ärzte und Pfleger liegen dort zwischen 400 und 1‘200 Euro – bei ähnlich hohen Lebenshaltungskosten wie in den reichen EU-Staaten.
Deutschland wurde unter weiblicher Kanzlerschaft mit mehreren hunderttausend jungen, allermeist nicht registrierten und mafiotisch vermittelten Frauen aus Osteuropa zum „Bordell Europas“.
Mit EU-Richtlinien wurde das deutsche Vorbild in anderen EU-Staaten übernommen, so in Frankreich, Italien, Spanien und Belgien.
EU-Osterweiterung: Immer mehr ArbeitsmigrantInnen
Mit der „Ost-Erweiterung“ subventioniert die EU in den dortigen Ländern die Ansiedlung von Niederlassungen und Zulieferern westlicher Auto-, Pharma- und Logistik-Konzerne. Ein Teil der einheimischen Arbeitskräfte wird zu Niedriglöhnen beschäftigt. Trotzdem verarmen die osteuropäischen Standorte volkswirtschaftlich. Zwischen 15 und 30 Prozent der Bevölkerung wandern dauerhaft aus. Millionen gehen zeitlich begrenzt für migrantische Arbeit in die reichen Gründungsstaaten Westeuropas und in die skandinavischen Staaten.
In diese Praktiken bezieht die EU auch Staaten ein, die als Anwärter noch nicht EU-Mitglied sind, etwa die Balkanstaaten Serbien, Nordmazedonien, Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und das völkerrechtswidrig von Serbien abgetrennte Kosovo.
Migranten auch von außerhalb der EU
Aber auch von außerhalb der EU werden Arbeitsmigranten herangeholt:
Das deutsche Gesundheitsministerium und auch Krankenhäuser selbst werben Billig-Pfleger und Ärzte nicht nur aus Osteuropa, sondern etwa auch aus Mexiko.
Die von der EU für die Digitalisierung subventionierte größte LkW-Spedition Europas mit Sitz in Litauen, Girteka, beschäftigt auch Fahrer aus Usbekistan, Tadschikistan, Russland, Moldawien. Solche LkW-Fahrer sind mit Verträgen, die sie oft nicht verstehen, monatelang von ihren Familien getrennt, denn die Heimreise zwischendurch ist verboten oder wäre sowieso zu teuer.
Die Regierungen Polens und Ungarns werben um noch billigere Billiglöhner aus Nepal und den Philippinen. Norwegische Agrar-Unternehmen holen sich regelmäßig Beerenpflücker aus den Philippinen.
Auch hier gehören systemische Rechtsverletzungen dazu:
In den Großplantagen Spaniens und Italiens arbeiten mehrheitlich Migranten aus Nordafrika, teilweise im illegalen Status.
So werden beim Einsatz der etwa drei Millionen LkW-Fahrer EU-Richtlinien und bei deren nationalen gesetzlichen Umsetzungen täglich millionenfach Gesetze verletzt, etwa bei Ruhepausen, Arbeitszeiten, Übernachtungen (im Fahrerhaus statt im Hotel), Gehaltsabzügen wegen angeblichen Fehlverhaltens und verursachter Schäden. Die Kontrollbehörden sind chronisch unterbesetzt, vor allem in Ost- und Südosteuropa und im Baltikum, aber auch in Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden.
In der Praxis fehlt es in der EU an Rechtsstaatlichkeit. Die zumindest theoretisch geltenden Richtlinien und Gesetze stimmen nicht mit den Arbeits- und Sozialrechten der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO überein.
Aus Dritt-Staaten auch Fachkräfte
Die EU-Binnenwanderung reicht den Unternehmen auch bei Fachkräften schon lange nicht mehr aus. Auch für höher qualifizierte Arbeitsplätze, etwa bei der Digitalisierung von Produktion und Service, werden Billiglöhner aus Dritt-Staaten angeworben. „Im internationalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe hinkt Europa hinterher“, heißt es in Brüssel.
Deshalb hat die EU nach dem Vorbild der US-amerikanischen Green Card eine Blue Card eingerichtet. Während aber in den USA im Jahre 2019 etwa 140‘000 Green Cards an Arbeitsmigranten u.a. aus Indien und Vietnam vergeben wurden, kam die größere EU nur auf 19‘000 neue Blue Cards. Deshalb hat 2021 das Europa-Parlament dem Vorschlag der Europäischen Kommission zugestimmt: Der Erwerb wird erleichtert. So wird die Mindestlaufzeit der Arbeitsverträge von 12 auf 6 Monate abgesenkt, ein formeller Berufsabschluss ist nicht mehr nötig, die Bezahlung kann noch geringer sein als bisher.
So kommt man zu einer Blue Card:
Arbeitskräfte mit guter Ausbildung können in EU-Ländern eine Blue Card beantragen zum Arbeiten in einem bestimmten EU-Land:
EU Blue Card: Comprehensive guide to gaining employment in Europe [1].
Vielgestaltige Aufsplitterung der arbeitenden Klasse
Diese verrechtlichten Praktiken fördern die innere Aufsplitterung der abhängig arbeitenden Klasse: Vom (noch) gut entlohnten einheimischen Dauerbeschäftigten über viele Stufen hinunter zu extrem prekären und auch illegalen migrantischen Beschäftigten. Und diese offen und latent konfliktreiche Aufsplitterung ist verbunden mit der weiter gesteigerten Einkommens- und Vermögensungleichheit zugunsten der Privateigentümer. Diese wiederum alimentieren ein vielgestaltiges, gut dotiertes Hilfspersonal der Besser- und Bestverdiener, also Anwälte, Unternehmensberater, Wirtschafts“prüfer“, PR-Agenten sowie beamtete und unternehmerisch subventionierte Wissenschaftler.
Rechtsgerichtete Oligarchen wurden und werden bei der EU- und NATO-Ost-Erweiterung gefördert, so bekanntlich in Ungarn, Polen, Kroatien, Nordmazedonien, im Kosovo, in den baltischen Staaten. Zugunsten westlicher Investoren, die mit Subventionen, Niedriglöhnerei, Militärstützpunkten und geduldeter Steuerflucht begünstigt werden. Ähnliches findet in der Ukraine statt.
Dies hat wesentlich zur politischen Frustration, ja Lähmung unter den abhängig Beschäftigten und Teilen der traditionellen middle classes geführt und ist verantwortlich für die politische Rechtsentwicklung – übrigens bis hinein in die Mitgliedschaft der etablierten Gewerkschaften, die in Brüssel ihre Vertretung unterhalten und die menschenrechtswidrige Grundkonstruktion der Arbeitsverhältnisse tolerieren.
Formen des Widerstands
Die immer wieder aufkommenden Streiks etwa von Ärzten und Pflegern in Polen und Kroatien dürften den EU-Gremien bekannt sein, werden aber offiziell nicht gehört. Aber für die Entwicklung des neuen, den gegenwärtigen Verhältnissen angemessenen Widerstands lohnt es sich, die Erfahrungen solcher Gewerkschaften einzubeziehen, die in wichtigen Fragen vom Mainstream abweichen.
Das sind etwa die größte Gewerkschaft der Schweiz, UNIA (2004 gegründet), der Österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB mit dem Gewerkschaftlichen Linksblock (GLB), die Internationale Transportarbeiter Föderation (ITF), in Deutschland die Lokführergewerkschaft GDL und die internationalistischen, von Verdi unterstützten Aktivitäten bei Amazon in Polen, aber auch die nachhaltigen Kämpfe im staatlichen, aber durchprivatisierten, größten Universitätsklinikum Europas, der Berliner Charité.
Vielfältige, zerstreute, nicht dauerhaft organisierte Ansätze finden sich bei spontanen Streiks in ost- und südosteuropäischen Staaten und bei der Selbstorganisation bei Fahrradkurieren, Plantagenarbeitern in Spanien, bei Textilarbeiterinnen in Nordmazedonien sowie nicht zuletzt die mit Gewerkschaften und Linksparteien vernetzten „Gelbwesten“ in Frankreich.
*«Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr»
Werner Rügemer, Publizist, Mitbegründer der «Aktion gegen ArbeitsUnrecht», Verlag PapyRossa Köln, 2020, 23.90 CHF, 19.90 Euro. Das Buch liegt auch in englischer Fassung vor: «Imperium EU – Labor Injustice, Crisis, New Resistances», tredition Verlag 2021. Taschenbuch 24 Dollar.
Aus dem Verlagsprospekt: «Selbst die offiziellen Lohn-Niedrigstandards werden millionenfach und straflos verletzt, etwa beim Mindestlohn und durch kettenartiges Subunternehmertum, auch für Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter. Die abhängig Beschäftigten werden finanziell degradiert, gedemütigt, zermürbt, zum Schweigen gebracht. In den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans geschieht das noch brutaler als in den reichen westlichen EU-Gründungsstaaten. Die eigentliche Krise der EU liegt tiefer als Brexit oder Rechtspopulismus. Sie entfaltet sich in der Arbeitswelt und in der sozialen, rechtlichen, finanziellen, kulturellen Ungleichheit der gesellschaftlichen Klassen. Bei aller derzeit wachsenden Kritik bleibt das Arbeitsunrecht ausgespart: Es ist das große Tabu der EU.»
Quellen:
[1] VisaGuide, <https://visaguide.world/europe/eu-blue-card/>
Weiterführende Informationen
Infosperber vom 14. Mai 2021: «Die Arbeiterklasse ist Geschichte – und besser wird’s nicht» zum Buch «Working Class» von Julia Friedrichs.
Reportage des Bayrischen Rundfunks aus dem Jahr 2018: Cover «EU-Millionen für Ausbeuter: Dreckige Geschäfte in der Landwirtschaft». Betriebe im Obst- und Gemüseanbau in Spanien und Italien erhalten EU-Subventionen, obwohl sie gegen Lohn- und Arbeitsschutzvorschriften verstoßen.
Deutschlandfunk 2017: «Die neuen Sklaven Europas». In Italien, das mit großem Einsatz Migranten aufnimmt, werden dieselben Migranten gnadenlos ausgebeutet. Große Teile der Landwirtschaft leben von diesen Ausgebeuteten. Nicht nur in Süditalien – aber dort funktioniert das System besonders perfide.
Infosperber vom 29. September 2016: «Katastrophale Arbeitsbedingungen in armen Ländern: Die deutsche Regierung will Menschenrechte den Interessen der Industrie opfern.»
Die Ausbeutung von Arbeitskräften ist das große Tabu der EU
Dieser Text wurde zuerst am 30.9.2021 auf www.infosperber.ch unter der URL <https://www.infosperber.ch/wirtschaft/arbeit/die-ausbeutung-von-arbeitskraeften-ist-das-grosse-tabu-der-eu/> veröffentlicht. Lizenz: Werner Rügemer, Infosperber
Foto: CUsai, Pixabay.com, Pixabay Licence
Bei der Pflege, Landwirtschaft, Prostitution, Logistik oder im Bau: Ohne Arbeitsmigranten läuft in den reichen EU-Staaten wenig.
In der EU werden Arbeits- und Sozialrechte, die in der Universellen Erklärung der Menschenrechte begründet sind, sowie die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO massiv verletzt und verdrängt. Die EU kennt vor allem keine kollektiven Arbeitsrechte. Mit besonderer Schärfe zeigt sich dies bei den immer zahlreicheren Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten. Widerstand ist verbreitet, aber noch gering, und wird zudem politisch und medial verdrängt.
Deutschland – führender Arbeits-Unrechtsstaat in der EU
Mit der Agenda 2010 förderte die Regierung Schröder/Fischer aus SPD und Grünen in den Jahren 1998 bis 2005 das steuerbegünstigte Eindringen vor allem der neuen, unregulierten US-Investoren wie Blackstone, KKR, BlackRock, Vanguard – und gleichzeitig wurde für sie mit den vier Hartz-Arbeitsgesetzen der größte Niedriglohn-Sektor in der EU geschaffen. Dazu gehörten die erweiterte Leiharbeit, Mini-Jobs, befristete und Teilzeit-Jobs sowie die Disziplinierung und Verarmung der Arbeitslosen.
Die Folge-Regierungen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel/CDU haben die Praktiken bis 2021 verschärft und erweitert und mit der „Ost-Erweiterung“ der EU auch den Umfang und die Vielfältigkeit migrantischer Arbeit. Sie ist meist zeitlich begrenzt und wird zudem vielfach halblegal oder illegal verrichtet:
Seit Jahren arbeiten etwa 600‘000 osteuropäische Frauen in der häuslichen Krankenpflege: Sie werden nach Mindestlohn von etwa 10 Euro für 30 Stunden pro Woche entlohnt, müssen aber 24 Stunden in Bereitschaft sein, haben keinen bezahlten Urlaub und keinen Kündigungsschutz.
Fleischzerleger werden auch nach einer „Reform“ im Pandemiejahr immer noch gezielt aus Osteuropa angeworben und ohne Familie in Massenunterkünften untergebracht.
Im Pandemiejahr 2021 wurde die unversicherte migrantische Saisonarbeit bei Spargelstechen und Erdbeerpflücken von drei auf vier Monate erweitert.
Auch während der Pandemie warb das deutsche Gesundheitsministerium osteuropäische Pfleger und Ärzte an. In Polen, Ungarn, Kroatien, Bosnien und dem Kosovo verlottern die öffentlichen Gesundheitssysteme, sie bleiben unterfinanziert. Die Monatsgehälter für Ärzte und Pfleger liegen dort zwischen 400 und 1‘200 Euro – bei ähnlich hohen Lebenshaltungskosten wie in den reichen EU-Staaten.
Deutschland wurde unter weiblicher Kanzlerschaft mit mehreren hunderttausend jungen, allermeist nicht registrierten und mafiotisch vermittelten Frauen aus Osteuropa zum „Bordell Europas“.
Mit EU-Richtlinien wurde das deutsche Vorbild in anderen EU-Staaten übernommen, so in Frankreich, Italien, Spanien und Belgien.
EU-Osterweiterung: Immer mehr ArbeitsmigrantInnen
Mit der „Ost-Erweiterung“ subventioniert die EU in den dortigen Ländern die Ansiedlung von Niederlassungen und Zulieferern westlicher Auto-, Pharma- und Logistik-Konzerne. Ein Teil der einheimischen Arbeitskräfte wird zu Niedriglöhnen beschäftigt. Trotzdem verarmen die osteuropäischen Standorte volkswirtschaftlich. Zwischen 15 und 30 Prozent der Bevölkerung wandern dauerhaft aus. Millionen gehen zeitlich begrenzt für migrantische Arbeit in die reichen Gründungsstaaten Westeuropas und in die skandinavischen Staaten.
In diese Praktiken bezieht die EU auch Staaten ein, die als Anwärter noch nicht EU-Mitglied sind, etwa die Balkanstaaten Serbien, Nordmazedonien, Albanien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und das völkerrechtswidrig von Serbien abgetrennte Kosovo.
Migranten auch von außerhalb der EU
Aber auch von außerhalb der EU werden Arbeitsmigranten herangeholt:
Das deutsche Gesundheitsministerium und auch Krankenhäuser selbst werben Billig-Pfleger und Ärzte nicht nur aus Osteuropa, sondern etwa auch aus Mexiko.
Die von der EU für die Digitalisierung subventionierte größte LkW-Spedition Europas mit Sitz in Litauen, Girteka, beschäftigt auch Fahrer aus Usbekistan, Tadschikistan, Russland, Moldawien. Solche LkW-Fahrer sind mit Verträgen, die sie oft nicht verstehen, monatelang von ihren Familien getrennt, denn die Heimreise zwischendurch ist verboten oder wäre sowieso zu teuer.
Die Regierungen Polens und Ungarns werben um noch billigere Billiglöhner aus Nepal und den Philippinen. Norwegische Agrar-Unternehmen holen sich regelmäßig Beerenpflücker aus den Philippinen.
Auch hier gehören systemische Rechtsverletzungen dazu:
In den Großplantagen Spaniens und Italiens arbeiten mehrheitlich Migranten aus Nordafrika, teilweise im illegalen Status.
So werden beim Einsatz der etwa drei Millionen LkW-Fahrer EU-Richtlinien und bei deren nationalen gesetzlichen Umsetzungen täglich millionenfach Gesetze verletzt, etwa bei Ruhepausen, Arbeitszeiten, Übernachtungen (im Fahrerhaus statt im Hotel), Gehaltsabzügen wegen angeblichen Fehlverhaltens und verursachter Schäden. Die Kontrollbehörden sind chronisch unterbesetzt, vor allem in Ost- und Südosteuropa und im Baltikum, aber auch in Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden.
In der Praxis fehlt es in der EU an Rechtsstaatlichkeit. Die zumindest theoretisch geltenden Richtlinien und Gesetze stimmen nicht mit den Arbeits- und Sozialrechten der UNO und der Internationalen Arbeitsorganisation ILO überein.
Aus Dritt-Staaten auch Fachkräfte
Die EU-Binnenwanderung reicht den Unternehmen auch bei Fachkräften schon lange nicht mehr aus. Auch für höher qualifizierte Arbeitsplätze, etwa bei der Digitalisierung von Produktion und Service, werden Billiglöhner aus Dritt-Staaten angeworben. „Im internationalen Wettbewerb um die klügsten Köpfe hinkt Europa hinterher“, heißt es in Brüssel.
Deshalb hat die EU nach dem Vorbild der US-amerikanischen Green Card eine Blue Card eingerichtet. Während aber in den USA im Jahre 2019 etwa 140‘000 Green Cards an Arbeitsmigranten u.a. aus Indien und Vietnam vergeben wurden, kam die größere EU nur auf 19‘000 neue Blue Cards. Deshalb hat 2021 das Europa-Parlament dem Vorschlag der Europäischen Kommission zugestimmt: Der Erwerb wird erleichtert. So wird die Mindestlaufzeit der Arbeitsverträge von 12 auf 6 Monate abgesenkt, ein formeller Berufsabschluss ist nicht mehr nötig, die Bezahlung kann noch geringer sein als bisher.
So kommt man zu einer Blue Card:
Arbeitskräfte mit guter Ausbildung können in EU-Ländern eine Blue Card beantragen zum Arbeiten in einem bestimmten EU-Land:
EU Blue Card: Comprehensive guide to gaining employment in Europe [1].
Vielgestaltige Aufsplitterung der arbeitenden Klasse
Diese verrechtlichten Praktiken fördern die innere Aufsplitterung der abhängig arbeitenden Klasse: Vom (noch) gut entlohnten einheimischen Dauerbeschäftigten über viele Stufen hinunter zu extrem prekären und auch illegalen migrantischen Beschäftigten. Und diese offen und latent konfliktreiche Aufsplitterung ist verbunden mit der weiter gesteigerten Einkommens- und Vermögensungleichheit zugunsten der Privateigentümer. Diese wiederum alimentieren ein vielgestaltiges, gut dotiertes Hilfspersonal der Besser- und Bestverdiener, also Anwälte, Unternehmensberater, Wirtschafts“prüfer“, PR-Agenten sowie beamtete und unternehmerisch subventionierte Wissenschaftler.
Rechtsgerichtete Oligarchen wurden und werden bei der EU- und NATO-Ost-Erweiterung gefördert, so bekanntlich in Ungarn, Polen, Kroatien, Nordmazedonien, im Kosovo, in den baltischen Staaten. Zugunsten westlicher Investoren, die mit Subventionen, Niedriglöhnerei, Militärstützpunkten und geduldeter Steuerflucht begünstigt werden. Ähnliches findet in der Ukraine statt.
Dies hat wesentlich zur politischen Frustration, ja Lähmung unter den abhängig Beschäftigten und Teilen der traditionellen middle classes geführt und ist verantwortlich für die politische Rechtsentwicklung – übrigens bis hinein in die Mitgliedschaft der etablierten Gewerkschaften, die in Brüssel ihre Vertretung unterhalten und die menschenrechtswidrige Grundkonstruktion der Arbeitsverhältnisse tolerieren.
Formen des Widerstands
Die immer wieder aufkommenden Streiks etwa von Ärzten und Pflegern in Polen und Kroatien dürften den EU-Gremien bekannt sein, werden aber offiziell nicht gehört. Aber für die Entwicklung des neuen, den gegenwärtigen Verhältnissen angemessenen Widerstands lohnt es sich, die Erfahrungen solcher Gewerkschaften einzubeziehen, die in wichtigen Fragen vom Mainstream abweichen.
Das sind etwa die größte Gewerkschaft der Schweiz, UNIA (2004 gegründet), der Österreichische Gewerkschaftsbund ÖGB mit dem Gewerkschaftlichen Linksblock (GLB), die Internationale Transportarbeiter Föderation (ITF), in Deutschland die Lokführergewerkschaft GDL und die internationalistischen, von Verdi unterstützten Aktivitäten bei Amazon in Polen, aber auch die nachhaltigen Kämpfe im staatlichen, aber durchprivatisierten, größten Universitätsklinikum Europas, der Berliner Charité.
Vielfältige, zerstreute, nicht dauerhaft organisierte Ansätze finden sich bei spontanen Streiks in ost- und südosteuropäischen Staaten und bei der Selbstorganisation bei Fahrradkurieren, Plantagenarbeitern in Spanien, bei Textilarbeiterinnen in Nordmazedonien sowie nicht zuletzt die mit Gewerkschaften und Linksparteien vernetzten „Gelbwesten“ in Frankreich.
*«Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr»
Werner Rügemer, Publizist, Mitbegründer der «Aktion gegen ArbeitsUnrecht», Verlag PapyRossa Köln, 2020, 23.90 CHF, 19.90 Euro. Das Buch liegt auch in englischer Fassung vor: «Imperium EU – Labor Injustice, Crisis, New Resistances», tredition Verlag 2021. Taschenbuch 24 Dollar.
Aus dem Verlagsprospekt: «Selbst die offiziellen Lohn-Niedrigstandards werden millionenfach und straflos verletzt, etwa beim Mindestlohn und durch kettenartiges Subunternehmertum, auch für Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter. Die abhängig Beschäftigten werden finanziell degradiert, gedemütigt, zermürbt, zum Schweigen gebracht. In den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans geschieht das noch brutaler als in den reichen westlichen EU-Gründungsstaaten. Die eigentliche Krise der EU liegt tiefer als Brexit oder Rechtspopulismus. Sie entfaltet sich in der Arbeitswelt und in der sozialen, rechtlichen, finanziellen, kulturellen Ungleichheit der gesellschaftlichen Klassen. Bei aller derzeit wachsenden Kritik bleibt das Arbeitsunrecht ausgespart: Es ist das große Tabu der EU.»
Quellen:
[1] VisaGuide, <https://visaguide.world/europe/eu-blue-card/>
Weiterführende Informationen
Infosperber vom 14. Mai 2021: «Die Arbeiterklasse ist Geschichte – und besser wird’s nicht» zum Buch «Working Class» von Julia Friedrichs.
Reportage des Bayrischen Rundfunks aus dem Jahr 2018: Cover «EU-Millionen für Ausbeuter: Dreckige Geschäfte in der Landwirtschaft». Betriebe im Obst- und Gemüseanbau in Spanien und Italien erhalten EU-Subventionen, obwohl sie gegen Lohn- und Arbeitsschutzvorschriften verstoßen.
Deutschlandfunk 2017: «Die neuen Sklaven Europas». In Italien, das mit großem Einsatz Migranten aufnimmt, werden dieselben Migranten gnadenlos ausgebeutet. Große Teile der Landwirtschaft leben von diesen Ausgebeuteten. Nicht nur in Süditalien – aber dort funktioniert das System besonders perfide.
Infosperber vom 29. September 2016: «Katastrophale Arbeitsbedingungen in armen Ländern: Die deutsche Regierung will Menschenrechte den Interessen der Industrie opfern.»