Bericht aus der Friedensfahrt Berlin – Moskau

Von Published On: 2. Januar 2017Kategorien: Allgemein

Wehende, bunte Fahnen. Friedenstauben. Herzen. Mit Sprüchen bemalte Autos und Wohnmobile. Musik. Redner. Gutes Wetter. Fröhliche Gesichter. Empörte Gesichter. Alles war da an diesem Sonntag, den 7. August auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Freude darüber, dass man einem neuen Abenteuer entgegensehen durfte. Empörung über all die vielen Entscheidungen und Vorgehensweisen in Politik und Medien, die die hier versammelten Menschen nicht teilten. Die Motive der knapp 200 Friedensfahrer, die lange Fahrt von über 4.200 km in zwei Wochen von Berlin nach Moskau und wieder zurück, auf sich zu nehmen, waren sicher bei jedem Einzelnen unterschiedlich. Viele waren motiviert, ein klares Zeichen für den politischen Frieden zwischen dem Westen und Russland zu setzten. Andere waren motiviert auf die Reise zum eigenen Frieden und zur inneren Versöhnung mit der deutsch-russischen Geschichte zu gelangen. Wieder andere wollten einfach eine gute Zeit haben und neue Freunde finden. Wie auch immer die einzelnen Motive der Friedensfahrer an diesem bunten Sonntag bei der Abschiedsfeier in Berlin waren, gemeinsam teilten sie den Mut sich zu bewegen, den Mut zur Veränderung. Das „Ja“-Sagen zu etwas Neuem. Dieses Neue kennenzulernen, ihm zu begegnen und versuchen es zu verstehen. Gemeinsam begaben sie sich auf eine Reise.

 

Ein bunter Haufen machte sich in 70 Autos, Wohnmobilen und einem Reisebus auf den Weg Richtung Osten. Der Querschnitt der Gesellschaft. Von Mama, Papa, Kind und Hund, über Friedenshippie und ehemaligem Bankangestellten, bis hin zum älteren Ehepaar. Jeder war dabei. Und gleich wurde auch jedem schon klar, auf welche Anstrengungen man sich hier eingelassen hatte. 150 km noch am ersten Abend nach Stettin. 520 km am nächsten Tag bis nach Kaliningrad. Schon am ersten Tag der Fahrt lagen wir hinter dem Zeitplan und kamen erst Stunden später an der polnisch-russischen Grenze an. Es dämmerte bereits und in Kaliningrad warteten unsere russischen Freunde, die in einem Konzertsaal einen großen Empfang mit Musik und Tanz organisiert hatten. Trotzdem war die Stimmung gut. Das Kolonne fahren wurde erprobt. Die Funkgeräte getestet. Das schöne Pommern und seine Strochenfamilien wurden bestaunt. Seifenblasen wurden über die Grenzschranke zwischen Polen und Russland gepustet und zauberten dem grimmig drein blickenden Grenzpolizisten ein kleines Lächeln auf‘s Gesicht.

 

Die Anstrengung war vergessen, als uns am ersten Abend die russische Gastfreundschaft in klassischen Trachten und mit Musik im Konzertsaal begegnete. Da wurde auch nach der langen Fahrt gern ein Tänzchen auf‘s Parkett gelegt. Wenn auch die Sprachbarriere eine gewisse Einschränkung darstellte, dass sich Deutsche und Russen unterhielten, so war es ja zunächst auch einmal sinnvoll, dass sich die Friedensfahrer untereinander kennenlernten. Und dafür gab Zeit. Spätestens an der Grenze zwischen Russland und Litauen, als wir alle über sieben Stunden im Niemandsland feststeckten. Es gab keinen schöneren Ort als diesen, um darauf zu warten, dass die Mühlen der Bürokratie sich in Bewegung setzten. Hier auf der Brücke über dem Fluss Neman bestaunten wir einen unvergesslichen Sonnenuntergang. Und anstatt uns zu ärgern über die verlorene Zeit, tanzten wir gemeinsam und sangen Lieder, um uns die Zeit zu vertreiben. Dieser Abend zeigte auch deutlich, dass der Frieden eine Einstellung ist, eine Übung, die wir täglich in uns selbst beginnen können.

 

Und so kamen noch viele Friedensübungen auf uns zu:

 

Da war zum Beispiel das Kriegsdenkmal in Luga, einer Stadt vor St. Petersburg, an dem wir Blumen niederlegten. Beim feierlichen Empfang erzählte der Bürgermeister, dass hier auf diesem Land die blutigsten Schlachten des zweiten Weltkrieges ausgefochten wurden. Und heute fand an diesem Ort ein kleines Wunder statt. Nach der offiziellen Feier fanden wir uns alle zusammen und sangen deutsche und russische Volkslieder. Ich packte meine Gitarre aus und nach und nach gesellten sich Russen und Deutsche zu uns in den Kreis. Selbst die Opernsängerin, die auf der Bühne zuvor gesungen hatte, stimmte mit ein in die alten Volksweisen. Obwohl wir die Sprache des anderen nicht verstehen konnten, unterhielten wir uns doch in Form unserer Lieder. Kein Ort hätte besser sein können für dieses spontane Konzert. Hier, wo sich Deutsche und Russen noch vor ein paar Jahrzehnten gegenseitig bekämpften, sangen nun Deutsche und Russen gemeinsam Lieder. Die tiefe Wunde auf dieser Erde, in unseren Herzen und in den Seelen all unserer Vorfahren durfte in diesem Augenblick Heilung finden.

 

Da war der alte Russe auf dem Marktplatz der Stadt Gwardejsk. Er erzählte von diesem Platz auf dem wir standen und wie alles ringsum nach dem Krieg zerstört war. Wie durch ein Wunder blieb nur die Kirche erhalten. Schmerz und tiefe, alte Verletzung lag in seiner Stimme. Was sollte ich sagen? Es waren Deutsche, die diesen Schmerz verursacht hatten. Doch nun, Jahrzehnte später stand ich hier, als Deutsche und wollte eine friedliche Mission überbringen. Der Krieg kommt oft auch zustande, weil wir an dem alten Schmerz festhalten wollen und zu verbittert sind, um zu verzeihen.

 

Darum erwiderte ich nur: „Es gab auf beiden Seiten Opfer. Kriege kann man nur verlieren. Nur Frieden kann man gewinnen!“ Die Augen des Mannes wurden ruhiger.

 

„Wir müssen aufhören in der Vergangenheit zu leben. Wir leben heute und können heute die Geschichte ändern und Freundschaft schließen.“

 

Der Mann schaute mich ungläubig an.

 

„Gibt es solche Deutsche?“, fragte er etwas leiser.

 

„Wie wer?“, fragte ich zurück.

 

„Na, solche wie dich“, seine Stimme wurde sanfter und friedlicher. Mir traten die Tränen in die Augen.

 

„Ja“, sagte ich, „es gibt solche Deutsche.“

 

Und der alte Russe und das deutsche Mädchen lächelten sich an.

 

Da war der Schweizer Pastor, der mittlerweile seit über 25 Jahren in einem Vorort von Moskau in einem Heim, Gruppen von geistig und körperlich behinderten Jugendlichen und Erwachsenen betreut.

 

Er berichtet: „Die Bevölkerung ist sehr einverstanden mit Putins Außenpolitik, doch im Innern gibt es viele Zerwürfnisse.“

 

Der Pastor hat Probleme damit, die Grundsteuer zu bezahlen, die jährlich angehoben wird. Die Steuer ist mittlerweile so hoch, dass das Land hoch verschuldet ist und der Pastor einiges an Land abtreten muss. Er berichtet weiterhin, dass viele Russen in Moskau eine Eigentumswohnung besitzen. Es sei wichtig, sich eine Wohnung während des Arbeitslebens zu kaufen, da im Alter die Rente so gering ist, dass gerade einmal die Nebenkosten damit gedeckt werden können. Durch den Anstieg der Steuer werden jedoch die Rentner gezwungen, ihre Wohnungen zu verkaufen und auf‘s Land zu ziehen. Es solle Platz gemacht werden im großen, imposanten Moskau für Reiche und für Ausländer. Ab 55 Jahren können Frauen und ab 60 Jahren können Männer in Russland in Rente gehen. Klingt zunächst einmal traumhaft. Doch die Milchmädchenrechnung wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass die Durchschnittsrente für einen russischen Arbeiter 200 Euro beträgt, die Nebenkosten für eine Eigentumswohnung in Moskau jedoch schon bei ca. 200 Euro liegen. Es gibt das Gesetz, dass Rentner trotzdem weiterhin arbeiten dürfen, um sich etwas dazuzuverdienen. Resultat ist, dass die meisten Rentner arbeiten MÜSSEN, um ihre Kosten überhaupt zu decken. Und das Ausmaß ist sichtbar. In jeder U-Bahn arbeiten alte Omis an den Fahrkarten-Verkaufsstellen oder bucklige Babuschkas kehren Moskaus prunkvolle Straßen.

 

Dies sind nur einige, persönliche Erfahrungen von hunderten, bunten Erinnerungen, die die Friedensfahrer mit nach Hause nehmen. Doch diese Erfahrungen zeigen, worin die tägliche Herausforderung an die Friedensfahrer und natürlich an alle Menschen besteht. Zum Einen wird klar, Frieden entsteht dann, wenn wir unserem Gegenüber friedlich begegnen. Zum Anderen, wird deutlich, dass sich das Leben nie in schwarz und weiß darstellt, dass die Welt nicht in gut und böse einzuteilen ist. Jede Medaille hat zwei Seiten und so hat auch Russland seine Schattenseiten. Es gibt in Russland Menschen, die korrupt sind, Politiker, die ihre Macht ausnutzen, Medien, die lügen und Propaganda betreiben. Diese dunklen Mächte gibt es in Russland, es gibt sie in Deutschland, es gibt sie in Amerika und es gibt sie überall auf der gesamten Welt. Doch genauso gibt es auch die hellen Seiten. Es gibt Menschen mit guten Ambitionen, enormer Gastfreundschaft, Liebe und Licht im Herzen. Diese Menschen gibt es in Russland, in Deutschland, in Amerika und überall auf der gesamten Welt. Und nun das Geheimnis: Dieses Dunkel und dieses Licht gibt es auch in jedem Einzelnen von uns. Es liegt ganz allein an uns, zu entscheiden, ob wir den Weg des Lichts oder des Dunkel gehen. Das ist der Moment, an dem es sich entscheidet, ob wir den Frieden wirklich leben.

 

“Die beiden schönsten Dinge sind die Heimat, aus der wir stammen und die Heimat, nach der wir wandern.“
Heinrich Jung-Stilling

 

Was ich persönlich von der kurzen Reise nach Russland mit nach Hause genommen habe, ist die Erkenntnis, dass Heimat immer dort ist, wo ich Menschen in Frieden begegne. Wir können uns eigentlich überall auf dieser Erde beheimatet oder befremdlich fühlen. Hauptsächlich liegt es aber an uns selbst, an unserer Bereitschaft friedlich oder kriegerisch den Menschen und anderen Kulturen zu begegnen. Beginnen tut dies in den Gedanken und den Worten, die wir wählen. Schafft es wirklich Frieden, einmal wutentbrannt „Lügenpresse“ in die Menge zu rufen oder steckt vielleicht doch eine tiefere Herausforderung dahinter? Ich habe mir während der Friedensfahrt Berlin-Moskau viele Gedanken über dieses viel verwendete Wort gemacht. – Frieden! – Dabei ist mir klar geworden, dass jeder Einzelne auch eine eigene Definition von Frieden hat. Das Einzige, worin wir uns täglich selbst üben können ist, unseren Gegenüber mit seinen Definitionen von Frieden und Wahrheit und seiner individuellen Geschichte einfach anzuerkennen. Wir müssen seine Meinung nicht teilen. Wir können auch trotzdem auf Missstände in der Gesellschaft und Politik hinweisen. Aber wenn wir dem Dasein unseres Gegenübers keine Anerkennung schenken, wenn wir ihn verurteilen, nur weil wir seine Lebensweise nicht verstehen, handeln wir nicht friedlich. Darin liegt die größte Herausforderung. Friedlich mit dem zu sein, der unsere Meinung teilt, ist sehr leicht und keine Kunst. Wahrer Frieden beginnt dort, wo ich die Größe besitze, jemanden einfach anzuerkennen, dessen Meinung ich nicht teilen kann.

 

Am Sonntag, den 21. August wehten die bunten Fahnen erneut auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. So unterschiedlich die Motive der Friedensfahrer zu Beginn auch waren, so unterschiedlich werden wohl auch die Erkenntnisse sein, die ein jeder mit nach Hause nimmt. Doch gemeinsam haben wir uns über Grenzen hinausgewagt und haben damit unseren Horizont erweitert. Neue Freundschaften wurden geschlossen zwischen Russen und Deutschen, sowie unter den Friedensfahrern selbst. Viele neue Ideen für Projekte und Kooperationen sind entstanden. Wir alle nehmen Erinnerungen mit von freudigen Erlebnissen. Ob es der wodkareiche Banja-Abend war bei unserer Gastfamilie in Moskau, die unvergessliche Party in Utragosh, bei der wir so herzlich von der Dorfbevölkerung aufgenommen wurden oder all die emotionalen Momente an den Kriegsdenkmalen, an denen Deutsche und Russen gemeinsam geweint haben, um den alten Schmerz zu verarbeiten.

 

Diese Reise hat gezeigt, dass uns nationale oder geopolitische Grenzen nicht davon abhalten können, Freundschaften zu schließen. Das menschliche Sehnen nach Einheit ist stärker, als das Machtstreben einiger Weniger. Es liegt an uns, den Frieden, den wir uns wünschen auch selbst zu leben. Und das haben wir Friedensfahrer getan. Wir haben uns bewegt, damit der Frieden in Bewegung kommt. Wir haben eine menschliche Brücke der Völkerverständigung gebaut.

 

Es liegt an uns, aus dem Kreislauf von Ego-Rechthaberei und Missverständnissen herauszutreten und Verständnis für unseren Gegenüber zu entwickeln. Dem Krieg der Waffen ist schon immer der Krieg der Worte vorausgegangen! Wenn wir jemanden nicht verstehen, dann sollten wir zu ihm gehen und seine Sprache lernen. Ob dieser Mensch in einem anderen Land wohnt oder mein Nachbar ist, spielt keine Rolle. Verständnis und Frieden können wir an jedem Ort und mit jedem Menschen schaffen.

Bericht aus der Friedensfahrt Berlin – Moskau

Von Published On: 2. Januar 2017Kategorien: Allgemein

Wehende, bunte Fahnen. Friedenstauben. Herzen. Mit Sprüchen bemalte Autos und Wohnmobile. Musik. Redner. Gutes Wetter. Fröhliche Gesichter. Empörte Gesichter. Alles war da an diesem Sonntag, den 7. August auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Freude darüber, dass man einem neuen Abenteuer entgegensehen durfte. Empörung über all die vielen Entscheidungen und Vorgehensweisen in Politik und Medien, die die hier versammelten Menschen nicht teilten. Die Motive der knapp 200 Friedensfahrer, die lange Fahrt von über 4.200 km in zwei Wochen von Berlin nach Moskau und wieder zurück, auf sich zu nehmen, waren sicher bei jedem Einzelnen unterschiedlich. Viele waren motiviert, ein klares Zeichen für den politischen Frieden zwischen dem Westen und Russland zu setzten. Andere waren motiviert auf die Reise zum eigenen Frieden und zur inneren Versöhnung mit der deutsch-russischen Geschichte zu gelangen. Wieder andere wollten einfach eine gute Zeit haben und neue Freunde finden. Wie auch immer die einzelnen Motive der Friedensfahrer an diesem bunten Sonntag bei der Abschiedsfeier in Berlin waren, gemeinsam teilten sie den Mut sich zu bewegen, den Mut zur Veränderung. Das „Ja“-Sagen zu etwas Neuem. Dieses Neue kennenzulernen, ihm zu begegnen und versuchen es zu verstehen. Gemeinsam begaben sie sich auf eine Reise.

 

Ein bunter Haufen machte sich in 70 Autos, Wohnmobilen und einem Reisebus auf den Weg Richtung Osten. Der Querschnitt der Gesellschaft. Von Mama, Papa, Kind und Hund, über Friedenshippie und ehemaligem Bankangestellten, bis hin zum älteren Ehepaar. Jeder war dabei. Und gleich wurde auch jedem schon klar, auf welche Anstrengungen man sich hier eingelassen hatte. 150 km noch am ersten Abend nach Stettin. 520 km am nächsten Tag bis nach Kaliningrad. Schon am ersten Tag der Fahrt lagen wir hinter dem Zeitplan und kamen erst Stunden später an der polnisch-russischen Grenze an. Es dämmerte bereits und in Kaliningrad warteten unsere russischen Freunde, die in einem Konzertsaal einen großen Empfang mit Musik und Tanz organisiert hatten. Trotzdem war die Stimmung gut. Das Kolonne fahren wurde erprobt. Die Funkgeräte getestet. Das schöne Pommern und seine Strochenfamilien wurden bestaunt. Seifenblasen wurden über die Grenzschranke zwischen Polen und Russland gepustet und zauberten dem grimmig drein blickenden Grenzpolizisten ein kleines Lächeln auf‘s Gesicht.

 

Die Anstrengung war vergessen, als uns am ersten Abend die russische Gastfreundschaft in klassischen Trachten und mit Musik im Konzertsaal begegnete. Da wurde auch nach der langen Fahrt gern ein Tänzchen auf‘s Parkett gelegt. Wenn auch die Sprachbarriere eine gewisse Einschränkung darstellte, dass sich Deutsche und Russen unterhielten, so war es ja zunächst auch einmal sinnvoll, dass sich die Friedensfahrer untereinander kennenlernten. Und dafür gab Zeit. Spätestens an der Grenze zwischen Russland und Litauen, als wir alle über sieben Stunden im Niemandsland feststeckten. Es gab keinen schöneren Ort als diesen, um darauf zu warten, dass die Mühlen der Bürokratie sich in Bewegung setzten. Hier auf der Brücke über dem Fluss Neman bestaunten wir einen unvergesslichen Sonnenuntergang. Und anstatt uns zu ärgern über die verlorene Zeit, tanzten wir gemeinsam und sangen Lieder, um uns die Zeit zu vertreiben. Dieser Abend zeigte auch deutlich, dass der Frieden eine Einstellung ist, eine Übung, die wir täglich in uns selbst beginnen können.

 

Und so kamen noch viele Friedensübungen auf uns zu:

 

Da war zum Beispiel das Kriegsdenkmal in Luga, einer Stadt vor St. Petersburg, an dem wir Blumen niederlegten. Beim feierlichen Empfang erzählte der Bürgermeister, dass hier auf diesem Land die blutigsten Schlachten des zweiten Weltkrieges ausgefochten wurden. Und heute fand an diesem Ort ein kleines Wunder statt. Nach der offiziellen Feier fanden wir uns alle zusammen und sangen deutsche und russische Volkslieder. Ich packte meine Gitarre aus und nach und nach gesellten sich Russen und Deutsche zu uns in den Kreis. Selbst die Opernsängerin, die auf der Bühne zuvor gesungen hatte, stimmte mit ein in die alten Volksweisen. Obwohl wir die Sprache des anderen nicht verstehen konnten, unterhielten wir uns doch in Form unserer Lieder. Kein Ort hätte besser sein können für dieses spontane Konzert. Hier, wo sich Deutsche und Russen noch vor ein paar Jahrzehnten gegenseitig bekämpften, sangen nun Deutsche und Russen gemeinsam Lieder. Die tiefe Wunde auf dieser Erde, in unseren Herzen und in den Seelen all unserer Vorfahren durfte in diesem Augenblick Heilung finden.

 

Da war der alte Russe auf dem Marktplatz der Stadt Gwardejsk. Er erzählte von diesem Platz auf dem wir standen und wie alles ringsum nach dem Krieg zerstört war. Wie durch ein Wunder blieb nur die Kirche erhalten. Schmerz und tiefe, alte Verletzung lag in seiner Stimme. Was sollte ich sagen? Es waren Deutsche, die diesen Schmerz verursacht hatten. Doch nun, Jahrzehnte später stand ich hier, als Deutsche und wollte eine friedliche Mission überbringen. Der Krieg kommt oft auch zustande, weil wir an dem alten Schmerz festhalten wollen und zu verbittert sind, um zu verzeihen.

 

Darum erwiderte ich nur: „Es gab auf beiden Seiten Opfer. Kriege kann man nur verlieren. Nur Frieden kann man gewinnen!“ Die Augen des Mannes wurden ruhiger.

 

„Wir müssen aufhören in der Vergangenheit zu leben. Wir leben heute und können heute die Geschichte ändern und Freundschaft schließen.“

 

Der Mann schaute mich ungläubig an.

 

„Gibt es solche Deutsche?“, fragte er etwas leiser.

 

„Wie wer?“, fragte ich zurück.

 

„Na, solche wie dich“, seine Stimme wurde sanfter und friedlicher. Mir traten die Tränen in die Augen.

 

„Ja“, sagte ich, „es gibt solche Deutsche.“

 

Und der alte Russe und das deutsche Mädchen lächelten sich an.

 

Da war der Schweizer Pastor, der mittlerweile seit über 25 Jahren in einem Vorort von Moskau in einem Heim, Gruppen von geistig und körperlich behinderten Jugendlichen und Erwachsenen betreut.

 

Er berichtet: „Die Bevölkerung ist sehr einverstanden mit Putins Außenpolitik, doch im Innern gibt es viele Zerwürfnisse.“

 

Der Pastor hat Probleme damit, die Grundsteuer zu bezahlen, die jährlich angehoben wird. Die Steuer ist mittlerweile so hoch, dass das Land hoch verschuldet ist und der Pastor einiges an Land abtreten muss. Er berichtet weiterhin, dass viele Russen in Moskau eine Eigentumswohnung besitzen. Es sei wichtig, sich eine Wohnung während des Arbeitslebens zu kaufen, da im Alter die Rente so gering ist, dass gerade einmal die Nebenkosten damit gedeckt werden können. Durch den Anstieg der Steuer werden jedoch die Rentner gezwungen, ihre Wohnungen zu verkaufen und auf‘s Land zu ziehen. Es solle Platz gemacht werden im großen, imposanten Moskau für Reiche und für Ausländer. Ab 55 Jahren können Frauen und ab 60 Jahren können Männer in Russland in Rente gehen. Klingt zunächst einmal traumhaft. Doch die Milchmädchenrechnung wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass die Durchschnittsrente für einen russischen Arbeiter 200 Euro beträgt, die Nebenkosten für eine Eigentumswohnung in Moskau jedoch schon bei ca. 200 Euro liegen. Es gibt das Gesetz, dass Rentner trotzdem weiterhin arbeiten dürfen, um sich etwas dazuzuverdienen. Resultat ist, dass die meisten Rentner arbeiten MÜSSEN, um ihre Kosten überhaupt zu decken. Und das Ausmaß ist sichtbar. In jeder U-Bahn arbeiten alte Omis an den Fahrkarten-Verkaufsstellen oder bucklige Babuschkas kehren Moskaus prunkvolle Straßen.

 

Dies sind nur einige, persönliche Erfahrungen von hunderten, bunten Erinnerungen, die die Friedensfahrer mit nach Hause nehmen. Doch diese Erfahrungen zeigen, worin die tägliche Herausforderung an die Friedensfahrer und natürlich an alle Menschen besteht. Zum Einen wird klar, Frieden entsteht dann, wenn wir unserem Gegenüber friedlich begegnen. Zum Anderen, wird deutlich, dass sich das Leben nie in schwarz und weiß darstellt, dass die Welt nicht in gut und böse einzuteilen ist. Jede Medaille hat zwei Seiten und so hat auch Russland seine Schattenseiten. Es gibt in Russland Menschen, die korrupt sind, Politiker, die ihre Macht ausnutzen, Medien, die lügen und Propaganda betreiben. Diese dunklen Mächte gibt es in Russland, es gibt sie in Deutschland, es gibt sie in Amerika und es gibt sie überall auf der gesamten Welt. Doch genauso gibt es auch die hellen Seiten. Es gibt Menschen mit guten Ambitionen, enormer Gastfreundschaft, Liebe und Licht im Herzen. Diese Menschen gibt es in Russland, in Deutschland, in Amerika und überall auf der gesamten Welt. Und nun das Geheimnis: Dieses Dunkel und dieses Licht gibt es auch in jedem Einzelnen von uns. Es liegt ganz allein an uns, zu entscheiden, ob wir den Weg des Lichts oder des Dunkel gehen. Das ist der Moment, an dem es sich entscheidet, ob wir den Frieden wirklich leben.

 

“Die beiden schönsten Dinge sind die Heimat, aus der wir stammen und die Heimat, nach der wir wandern.“
Heinrich Jung-Stilling

 

Was ich persönlich von der kurzen Reise nach Russland mit nach Hause genommen habe, ist die Erkenntnis, dass Heimat immer dort ist, wo ich Menschen in Frieden begegne. Wir können uns eigentlich überall auf dieser Erde beheimatet oder befremdlich fühlen. Hauptsächlich liegt es aber an uns selbst, an unserer Bereitschaft friedlich oder kriegerisch den Menschen und anderen Kulturen zu begegnen. Beginnen tut dies in den Gedanken und den Worten, die wir wählen. Schafft es wirklich Frieden, einmal wutentbrannt „Lügenpresse“ in die Menge zu rufen oder steckt vielleicht doch eine tiefere Herausforderung dahinter? Ich habe mir während der Friedensfahrt Berlin-Moskau viele Gedanken über dieses viel verwendete Wort gemacht. – Frieden! – Dabei ist mir klar geworden, dass jeder Einzelne auch eine eigene Definition von Frieden hat. Das Einzige, worin wir uns täglich selbst üben können ist, unseren Gegenüber mit seinen Definitionen von Frieden und Wahrheit und seiner individuellen Geschichte einfach anzuerkennen. Wir müssen seine Meinung nicht teilen. Wir können auch trotzdem auf Missstände in der Gesellschaft und Politik hinweisen. Aber wenn wir dem Dasein unseres Gegenübers keine Anerkennung schenken, wenn wir ihn verurteilen, nur weil wir seine Lebensweise nicht verstehen, handeln wir nicht friedlich. Darin liegt die größte Herausforderung. Friedlich mit dem zu sein, der unsere Meinung teilt, ist sehr leicht und keine Kunst. Wahrer Frieden beginnt dort, wo ich die Größe besitze, jemanden einfach anzuerkennen, dessen Meinung ich nicht teilen kann.

 

Am Sonntag, den 21. August wehten die bunten Fahnen erneut auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. So unterschiedlich die Motive der Friedensfahrer zu Beginn auch waren, so unterschiedlich werden wohl auch die Erkenntnisse sein, die ein jeder mit nach Hause nimmt. Doch gemeinsam haben wir uns über Grenzen hinausgewagt und haben damit unseren Horizont erweitert. Neue Freundschaften wurden geschlossen zwischen Russen und Deutschen, sowie unter den Friedensfahrern selbst. Viele neue Ideen für Projekte und Kooperationen sind entstanden. Wir alle nehmen Erinnerungen mit von freudigen Erlebnissen. Ob es der wodkareiche Banja-Abend war bei unserer Gastfamilie in Moskau, die unvergessliche Party in Utragosh, bei der wir so herzlich von der Dorfbevölkerung aufgenommen wurden oder all die emotionalen Momente an den Kriegsdenkmalen, an denen Deutsche und Russen gemeinsam geweint haben, um den alten Schmerz zu verarbeiten.

 

Diese Reise hat gezeigt, dass uns nationale oder geopolitische Grenzen nicht davon abhalten können, Freundschaften zu schließen. Das menschliche Sehnen nach Einheit ist stärker, als das Machtstreben einiger Weniger. Es liegt an uns, den Frieden, den wir uns wünschen auch selbst zu leben. Und das haben wir Friedensfahrer getan. Wir haben uns bewegt, damit der Frieden in Bewegung kommt. Wir haben eine menschliche Brücke der Völkerverständigung gebaut.

 

Es liegt an uns, aus dem Kreislauf von Ego-Rechthaberei und Missverständnissen herauszutreten und Verständnis für unseren Gegenüber zu entwickeln. Dem Krieg der Waffen ist schon immer der Krieg der Worte vorausgegangen! Wenn wir jemanden nicht verstehen, dann sollten wir zu ihm gehen und seine Sprache lernen. Ob dieser Mensch in einem anderen Land wohnt oder mein Nachbar ist, spielt keine Rolle. Verständnis und Frieden können wir an jedem Ort und mit jedem Menschen schaffen.