Ablösung der unipolaren Weltordnung?

„Die unipolare Weltordnung, von den USA dominiert, könnte durch eine multipolare Welt abgelöst werden”. Interview mit General a. D. Harald Kujat.

Von Published On: 10. Mai 2023Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 25.04.2023 auf www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/ unter der URL <https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-6-7-vom-25-april-2023.html#article_1509> veröffentlicht. Lizenz: © Thomas Kaiser, Zeitgeschehen im Fokus

Luftwaffengeneral Richard B. Myers, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, überreicht am 7. April 2005 im Pentagon die Legion of Merit an Bundeswehrgeneral Harald Kujat. Kujat erhielt die Medaille für seine Arbeit mit dem Nordatlantikvertrag Organisation und der Bundesrepublik Deutschland. (Foto: Staff Sgt. D. Myles Cullen, Wikimedia
Commons, CC0)

Zeitgeschehen im Fokus (ZiF): Als ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses müssen sich Ihnen doch die Nackenhaare sträuben, wenn Sie Macrons Idee von der „strategischen Autonomie” Europas hören.

General a. D. Harald Kujat (HK): Nein, das ist eine überzeugende Schlussfolgerung aus der gegenwärtigen geopolitischen Lage. Ich spreche zwar nicht von „strategischer Autonomie”, sondern von der „Selbstbehauptung Europas”. Das bedeutet jedoch mit anderen Worten, was Präsident Macron meint: Die Fähigkeit Europas, sich in der neuen Weltordnung der rivalisierenden großen Mächte, gegenüber China, Russland und den Vereinigten Staaten aus eigener Kraft zu behaupten.

Europa ist in der geopolitischen Machtarithmetik der rivalisierenden großen Mächte immer weiter ins Hintertreffen geraten. Der Ukrainekrieg führt uns täglich vor Augen, dass die europäische Politik weder bereit noch in der Lage ist, europäische Interessen durchzusetzen. Das zeigen auch die gereizten Reaktionen deutscher Provinzpolitiker, die Macron aus Mangel an geopolitischer Urteilsfähigkeit vorwerfen, Europa zu spalten oder die Bedeutung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten für die europäische Sicherheit zu unterschätzen.

Die Nordatlantische Allianz ist ein Bündnis kollektiver, gegenseitiger Sicherheit auf der Grundlage eines gemeinsamen sicherheitspolitischen Konzepts. Die Vereinigten Staaten leisten ihren Beitrag für die Sicherheit Europas allerdings nicht aus humanitären Gründen, sondern weil es in ihrem nationalen sicherheitspolitischen Interesse ist. Dass es Fälle gibt, in denen die europäischen und amerikanischen Interessen nicht übereinstimmen, ist evident. Deshalb wurde bereits vor Jahrzehnten vereinbart, dass die Nato Kräfte und Mittel für militärische Einsätze in strategischer Verantwortung der Europäischen Union zur Verfügung stellt, falls die Vereinigten Staaten sich nicht an diesen Einsätzen beteiligen.

ZiF: Gibt es Fälle, in denen die amerikanischen und europäischen Interessen überhaupt nicht übereinstimmen?

HK: Ein Beispiel ist die einseitige Kündigung 2019 des für die europäische Sicherheit so wichtigen INF-Vertrages durch die amerikanische Regierung. Noch wenige Monate zuvor hatten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten den Vertrag als „entscheidend für die euro-atlantische Sicherheit” gewürdigt und betont, „diesem wegweisenden Rüstungskontrollvertrag verpflichtet” zu bleiben. Als einziger europäischer Politiker kritisierte Präsident Macron, dass die Vertragskündigung erhebliche Auswirkungen auf die Sicherheit Europas hat. Denn damit wurde Russland eine Möglichkeit gegeben, ohne irgendwelche vertragliche Begrenzungen erneut ein eurostrategisches Nuklearpotential aufzubauen, das Europa, aber nicht die USA bedroht. Als Konsequenz der amerikanischen Entscheidung forderte Macron, Europa müsse sich selbst verteidigen können. Und er fügte hinzu, die amerikanische Entscheidung sollte Anlass sein, über eine europäische nukleare Abschreckung nachzudenken. Aber auch das Risiko eines neuen russisch-amerikanischen nuklearen Wettrüstens auf dem europäischen Kontinent ist durchaus real. Macrons Worte waren vor allem an Deutschland gerichtet. Denn die militärische Schwäche Europas ist vor allem eine Folge der Schwäche Deutschlands. Zumindest hat der Ukrainekrieg ein Umdenken eingeleitet. Hinsichtlich der Stärkung des konventionellen europäischen Pfeilers in der Nato besteht im Bündnis Einvernehmen. Und je länger der Ukrainekrieg dauert, umso klarer wird sich auch erweisen, dass es gravierende Interessenunterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gibt. Schon im Vorfeld des Krieges, als sich Macron und Scholz in Moskau und Kiew darum bemühten, den Krieg zu verhindern, haben ihnen die Vereinigten Staaten die Unterstützung versagt.

Nur vordergründig beruht die Geschlossenheit des Westens darauf, die Ukraine im Kampf um ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu unterstützen. Auch wenn die Europäer selbst noch keine Vorstellung davon entwickelt haben, muss am Ende des Krieges eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung entstehen, in der alle Staaten des europäischen Kontinents einschließlich der Ukraine und Russlands ihren Platz haben. Dagegen verfolgen die Vereinigten Staaten das Ziel, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger ihre Vormachtstellung als Weltmacht gefährden könnte, nämlich China.

Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnen den INF-Vertrag im Ostsaal des Weißen Hauses, 8.12.1987. (Foto: White House Photographic Office, Wikimedia Commons, CC0)

ZiF: Macron hat das mangelnde europäische Abwehrpotential erwähnt. Ist denn ein Krieg Russlands gegen Europa denkbar?

HK: Ich sehe keinen Beleg für die Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Europa, was ja ein Krieg gegen die Nato wäre. Russland hat die Nato-Erweiterung von Anfang an unter strategischen Gesichtspunkten gesehen, bezogen auf die geostrategische Lage und das Verteidigungspotential eines Landes, oder anders ausgedrückt, in welchem Masse die Nato-Mitgliedschaft das strategische Gleichgewicht zwischen Russland und der Nato verändern würde. Deshalb ist Russland bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, die möglicherweise auch die Stationierung amerikanischer Streitkräfte in der Ukraine zur Folge hätte. Im Kern geht es vor allem darum, strategische Vorteile des geopolitischen Rivalen USA zu verhindern, nicht zuletzt auch solche, die das nuklearstrategische Gleichgewicht der beiden nuklearen Supermächte gefährden könnten.

Es steht also für die beiden Hauptakteure im Ukrainekrieg, Russland und die Vereinigten Staaten, viel auf dem Spiel. Deshalb bleibt das Risiko bestehen, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine werden könnte, solange dieser Krieg andauert.

ZiF: Das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China hat sich in letzter Zeit deutlich verschlechtert. Droht ein Konflikt zwischen beiden Staaten?

HK: Auch das Verhältnis der USA zu China wird von geopolitischen Aspekten bestimmt. China ist überzeugt, dass die globalen Risiken seit dem Ukrainekrieg gestiegen sind und die westlichen Länder – im wesentlichen die USA – dafür die Hauptverantwortung tragen. Die Folge ist eine engere Zusammenarbeit zwischen China und Russland, die beide das Ziel einer multipolaren Welt verfolgen. Aus amerikanischer Sicht hat China sowohl die Absicht als auch zunehmend die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht, die führende Weltmacht zu werden. Mit der gleichen Geschlossenheit wie im Ukrainekrieg gegen Russland sollen deshalb die europäischen Staaten gemeinsam mit den regionalen Partnern Australien, Japan, Südkorea, Neuseeland und künftig auch den Philippinen in ein indo-pazifisches Netzwerk gegen China eingebunden werden. Für den Schulterschluss mit Europa in einem künftigen Konflikt mit China bildet die Nato eine wichtige Brücke. In ihrem neuen strategischen Konzept heißt es, dass China die Interessen, die Sicherheit und die Werte der Mitgliedstaaten in Frage stelle. Die systemischen Herausforderungen Chinas für die euro-atlantische Sicherheit will die Nato nun angehen.

Deshalb ist Präsident Macrons Warnung berechtigt, dass der europäische Kontinent sich nicht in die Konflikte anderer hineinziehen lassen darf. Europa muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen zu wahren und diese stärker zu vertreten, und zwar grundsätzlich gegenüber allen drei großen Mächten. Das ist die eigentliche Botschaft, die Präsident Macron in China ausgesendet hat. Macron steht mit seiner Sorge nicht allein. Der amerikanische Stratege Harlan Ullman hat schon vor einiger Zeit besorgt gefragt, ob die USA einen vermeidbaren Fehler begangen haben, indem sie eine strategische militärische Zwei-Fronten-Konfrontation gegen China und Russland eröffnet haben, die er als tickende Zeitbombe bezeichnete.

ZiF: Bezieht sich Macrons Forderung, die eigenen Interessen zu wahren, außer auf den militärischen Bereich auch auf die Wirtschaft oder andere Bereiche?

HK: Macron hat diese Bemerkung im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Krisen und Konflikten gemacht. Aber der Ukrainekrieg und der Konflikt mit China sind ein Menetekel, dass wir unsere politischen, wirtschaftlichen, technologischen und nicht zuletzt die militärischen Fähigkeiten ausbauen müssen, wenn wir unabhängiger, handlungsfähiger und sicherer werden wollen. Erforderlich ist eine mehrdimensionale Politik, die durch eine synergetische Gesamtstrategie ein breites Handlungsspektrum eröffnet. Wir sehen das an dem Krieg in der Ukraine, der nicht nur ein militärischer Krieg ist, sondern auch ein Wirtschafts- und Informationskrieg. Europa muss in der Lage sein, sich in allen diesen Bereichen zu behaupten und unabhängig vom Einfluss anderer Mächte eigenständig nach der eigenen Interessenlage Entscheidungen zu treffen. Das ist kein Widerspruch zu einer engen Abstimmung mit Verbündeten und Partnern, wie dies beispielsweise in der Allianz geschieht, deren Stärke darin besteht, die verschiedenen nationalen Interessen zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu vereinen.

ZiF: Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China sind doch entstanden, weil China die Vereinigung mit Taiwan anstrebt.

HK: Richtig ist, dass sich die Spannungen in der letzten Zeit verschärft haben. Der chinesische Präsident hat auf dem letzten Parteikongress der KP-China die Absicht bekräftigt, die Vereinigung mit Taiwan auf friedlichem Wege anzustreben. Zugleich hat er jedoch jede Verpflichtung zum Gewaltverzicht verneint. Noch verfügt China nicht über militärische Fähigkeiten, um Taiwan einzunehmen. Aber in wenigen Jahren wird dies der Fall sein. Der Taiwan-Konflikt könnte zum Kulminationspunkt der amerikanisch-chinesischen geopolitischen Rivalität werden. Denn dies ist die eigentliche Ursache für einen möglichen Konflikt.

Der Taiwan Relations Act von 1979 regelt die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan, und zwar in der Weise, dass die USA die Unabhängigkeit und die Verteidigungsfähigkeit Taiwans durch Waffenlieferungen und andere Maßnahmen unterstützen. Ein direktes militärisches Engagement zur Verteidigung Taiwans ist damit jedoch nicht verbunden. Bisher haben alle amerikanischen Präsidenten auch eine entsprechende Festlegung vermieden. Im Oktober 2021 hat jedoch Präsident Biden erstmals ausdrücklich erklärt, sollte Taiwan von China angegriffen werden, würden die USA militärischen Beistand leisten. Damit sind von beiden Seiten Weichenstellungen vorgenommen worden, damit ist das Risiko eines militärischen Konflikts erheblich gestiegen. Es ist offenbar die Gefahr einer direkten Verwicklung der Nato und damit Europas, die Macron zu seiner nachdrücklichen Warnung veranlasst hat.

Das Vertragsgebiet der Nordatlantischen Allianz ist allerdings im Washingtoner Vertrag präzise definiert. Ein militärisches Engagement im Westpazifik wird davon nicht abgedeckt.

ZiF: Bezieht sich Macron mit dem Begriff der strategischen Autonomie Europas nur auf das Verhältnis zu den USA?

HK: Im Verhältnis zu den USA ist dies augenfällig, weil Europas Sicherheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und sicherlich auch noch einige Zeit vom amerikanischen Engagement abhängt. So haben es Macrons Kritiker aufgefasst. Aber für Macron bedeutet dies sicherlich strategische Autonomie gegenüber allen großen Mächten und eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der Fähigkeit, Probleme, die Europas Sicherheit gefährden, an der europäischen Peripherie zu bewältigen. Dort liefern sich die Großmächte seit Jahren eine Auseinandersetzung um Einflusszonen, die Regionalmächte Stellvertreterkriege um regionale Dominanz und ethnische und religiöse Minderheiten um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Übervölkerung, religiöse Gegensätze und die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen bilden den Nährboden für islamistische und fundamentalistische Terrorgruppen und sind die Ursache für immer neue Migrationswellen.

ZiF: Die Probleme an der Peripherie sind doch vor allem durch das Eingreifen der USA entstanden…

HK: Ja, amerikanische militärische Interventionen, beispielsweise im Irak, in Libyen oder in Syrien, haben zu großen regionalen Verwerfungen geführt und die Sicherheit des europäischen Kontinents negativ beeinflusst.

ZiF: Was Sie vorhin über das Verhältnis China-USA erklärt haben, kann man als Kampf der USA um den Erhalt seiner Vormachtstellung verstehen.

HK: Die Vereinigten Staaten sehen in China die umfassendste und ernsthafteste Herausforderung für ihre nationale Sicherheit. Der amerikanische Verteidigungsminister Austin bezeichnet China in der neuen amerikanischen Militärstrategie aber auch als den wichtigsten strategischen Konkurrenten der kommenden Jahrzehnte. Diese Konkurrenz geht allerdings über den militärisch-strategischen Aspekt hinaus und umfasst vor allem auch wirtschaftliche Aspekte, die Gefährdung des Dollars als Weltleitwährung und den politischen Einfluss in Südamerika, Afrika und Asien. In aller Kürze: Es geht darum, die globale Vormachtstellung der Vereinigten Staaten zu beenden und die unipolare durch eine multipolare Welt zu ersetzen.

Man muss auch in diesem Zusammenhang konstatieren, dass der Ukrainekrieg Europa an eine Wegscheide geführt hat. Sowohl die USA als auch Europa haben die geostrategische Dynamik, die durch das Ukraine-Engagement auf beiden Seiten entstanden ist, unterschätzt. Der Ukrainekrieg ist ein Menetekel für Europa, entschlossen den Weg zu geopolitischer, wirtschaftlicher, technologischer und nicht zuletzt militärischer Selbstbehauptung einzuschlagen.

Der Krieg hat zudem die Bildung geopolitischer Blöcke gefördert. Während die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und die Nato näher zusammenrücken, ist um China und Russland ein zweiter geopolitischer Block entstanden. Den Kern bilden die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sowie die Schanghai Kooperation (SCO) mit China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Die BRICS-Staaten repräsentieren 40 Prozent, die westlichen G7-Staaten 12,5 Prozent der Weltbevölkerung. Inzwischen ist das Bruttoinlandsprodukt der BRICS-Staaten höher als jenes der westlichen G7-Staaten. Dieser östliche Block hat in letzter Zeit eine enorme Attraktivität entwickelt.

Screenshot Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/BRICS-Staaten

ZiF: Für welche Staaten, neben ihren Mitgliedsländern, spielt dieser Zusammenschluss eine Rolle?

HK: China arbeitet mit Saudi-Arabien auf dem globalen Ölmarkt und der Nutzung der Kernenergie zusammen, unterstützt den Beitritt Saudi-Arabiens zur BRICS-Gruppe und treibt die Bildung einer rohstoffbasierten Reservewährung als Konkurrenz zum Petrodollar voran. Bereits heute wird teilweise in russischer oder chinesischer Währung bezahlt. Neben Saudi-Arabien haben Argentinien, Ägypten, Kasachstan, Nigeria, die Vereinigten Arabischen Emirate, Senegal und Thailand Interesse an einem BRICS-Beitritt bekundet.

ZiF: Es ist sehr interessant, wie Sie jetzt den Bogen gespannt haben. Das heißt doch eigentlich, dass diese immer wieder bemühte Argumentation, „Russland ist isoliert” nicht der Realität entspricht, denn tatsächlich sind es vielmehr Staaten, die mit Russland und China kooperieren wollen. Geht die Sichtweise des Westens, dass er der Mittelpunkt der Erde sei, nicht völlig an der Realität vorbei?

HK: Das geht in der Tat an der Realität vorbei. Die Europäische Union hat im Wirtschaftskrieg mit Russland fortgesetzt umfangreiche Sanktionen erlassen. Obwohl diese mit dem Ziel begonnen wurden, Russland zur Einstellung des Angriffs auf die Ukraine zu zwingen und von der Voraussetzung ausgingen, dass die Sanktionen sich weder auf die Energiepreise auswirken noch Nachteile für die Wirtschaft der europäischen Staaten entstehen würden, trat genau das Gegenteil ein. Russland ist auch nicht in dem erwarteten Ausmaß geschwächt worden. In den letzten Tagen haben wir Zahlen gesehen, nach denen die russische Wirtschaft wächst und die deutsche Wirtschaft schrumpft, was sich insgesamt auf Europa auswirken wird. Man muss in diesem Zusammenhang auch erwähnen, dass als Folge des Ukrainekrieges und insbesondere der damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte, die Aussicht gewachsen ist, die unipolare Weltordnung, die von den USA wirtschaftlich, militärisch und politisch dominiert wird, könnte durch eine multipolare Welt abgelöst werden.

ZiF: Wie kann denn Europa in einer multipolaren Welt seinen Platz finden?

HK: Die Nordatlantische Allianz verbindet Nordamerika und Europa zu einem Bündnis souveräner, demokratischer Staaten, von denen jeder einzelne zur gemeinsamen Sicherheit beiträgt. Das große Verdienst des Bündnisses besteht darin, die nationalen Interessen jedes einzelnen Mitgliedstaates in ein gemeinsames Konzept zu integrieren und trotz immer wieder auftretenden Gegensätzen und Problemen die Gemeinsamkeiten zu bewahren.

Da die geostrategische Lage der beiden Kontinente sehr unterschiedlich ist, gelten auch unterschiedliche Bedingungen für die Bewahrung von Frieden und Sicherheit. Das müssen die Europäer künftig stärker berücksichtigen und dementsprechend auch größere Verantwortung für ihren Kontinent übernehmen. Dadurch wären die europäischen Mitgliedstaaten in der Lage, ihren Einfluss auf die Sicherheitspolitik, die Strategie und Verteidigungsplanung der Nato zu vergrößern. Aber allein mehr in die Sicherheitsvorsorge und die Verteidigungsfähigkeit zu investieren, wäre zu kurz gedacht. Die eigentliche Herausforderung besteht in der Entwicklung einer neuen Sicherheitsarchitektur für den europäischen Kontinent und die Formulierung gemeinsamer Interessen im Rahmen der neuen geopolitischen Weltordnung.

ZiF: Was geschieht, wenn die Europäer den USA die Gefolgschaft verwehren, und sich für die multipolare Welt entscheiden, die vielleicht doch zu mehr Frieden führt als das ewige Streben nach Dominanz? Würde das die USA davon abhalten, diesen Kriegskurs weiterzuführen, wie sie ihn gegen China fahren?

HK: Ein Krieg zwischen zwei nuklear strategischen Supermächten wird der Welt hoffentlich erspart bleiben. Die massive Aufrüstung der chinesischen Streitkräfte macht große Fortschritte. Nuklear strategisch hat China zu den beiden nuklearen Supermächten Russland und USA weitgehend aufgeschlossen. Deshalb sagte Admiral Charles Richard, der damalige Befehlshaber des US-Strategic Command, 2022: „Diese Ukrainekrise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Aufwärmen. Die große Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. Wenn ich den Grad unserer Abschreckung gegenüber China einschätze, dann sinkt das Schiff langsam, aber es sinkt.” Damit beschreibt er das enorme Risiko, das die USA im Falle eines Konflikts mit China eingehen. Und eben nicht nur die USA, sondern möglicherweise auch die Europäer, wenn wir den von der Nato begonnenen Kurs fortsetzen.

ZiF: Nach Ihren Ausführungen stellt sich mir die Frage, ist denn China interessiert, mit den USA eine militärische Auseinandersetzung zu provozieren?

HK: China hat gezeigt, dass es bereit ist, eine militärische Eskalation mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen, wenn es um die Taiwanfrage geht. Zugleich setzt China seinen Kurs fort, politisch, wirtschaftlich und militärisch die Weltmachtspitze anzustreben. Das bedeutet jedoch nicht, dass China eine militärische Auseinandersetzung sucht. Letztlich entscheidet darüber die Frage, was beide Staaten bereit sind, für Taiwan in die Waagschale zu werfen.

ZiF: Worin sich die Politik der Chinesen und des Westens unterscheidet, ist doch, dass die Chinesen sich nicht in die europäische Politik einmischen und diese auch nicht beurteilen und bewerten. Während des Besuchs von Ursula von der Leyen oder Annalena Baerbock war deutlich, dass die Europäer das immer tun.

HK: Natürlich hat das große Projekt der Neuen Seidenstraße nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Bedeutung. Aber es ist richtig, wie wir gerade in letzter Zeit gesehen haben, dass die Bereitschaft, sich zu innenpolitischen Problemen Chinas zu äußern, bei europäischen Politikern wesentlich stärker ausgeprägt ist als umgekehrt.

Jede ideologisch eingefärbte Außenpolitik führt nicht nur zu politischen Risiken, sondern verursacht im Allgemeinen auch Schaden für die eigene Wirtschaft. Das deutsch-chinesische Handelsvolumen beträgt über 200 Milliarden Euro; der wirtschaftliche Verkehr muss grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe erfolgen, deutsche Firmen in China also die gleichen Bedingungen erhalten wie chinesische Firmen in Deutschland. Die Globalisierung hatte für unsere Wirtschaft bisher große Vorteile, führt aber auch zu wechselseitiger Abhängigkeit.

ZiF: Welche Rolle müsste denn Europa im Ukrainekonflikt spielen?

HK: Ich würde das gern auf Deutschland beschränken. Die Bundesregierung hat bereits am 2. Mai 2022 einer von der Ukraine eingebrachten Uno-Resolution zugestimmt, in der die Generalversammlung nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel fordert. Im vergangenen Februar ist die Bundesregierung durch die Zustimmung zu einer weiteren Uno-Resolution mit gleichem Tenor die Verpflichtung eingegangen, zu einer friedlichen Beilegung des Krieges beizutragen. Außerdem ist Deutschland durch das Friedensgebot des Grundgesetzes im besonderen Maße verpflichtet, sich für ein Ende des Krieges einzusetzen. Was soll man davon halten, wenn dies alles missachtet und selbst ein Waffenstillstand vom amerikanischen Außenminister als „keine gute Idee” bezeichnet wird? Entsprechende Initiativen wie diejenige, die kürzlich von China lanciert worden ist, werden in den deutschen Medien reflexartig abgelehnt, obwohl gerade das chinesische Zwölf-Punkte-Papier sich auf die Uno-Resolution bezog und die Wiederaufnahme der im April letzten Jahres abgebrochenen Verhandlungen vorschlug. Zwei mächtige Politiker, wie der chinesische Präsident Xi Jinping und der brasilianische Präsident Lula da Silva sagen, sie seien sich einig, dass Verhandlungen der einzige mögliche Weg seien, um die Krise zu lösen. Ich finde diese Einstellung zur Lösung von Krisen und Konflikten höchst bemerkenswert und beispielhaft, zumal das zwei Politiker sagen, hinter denen Organisationen stehen, die 40 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren. Auch die Präsidenten Macron und Xi Jinping haben gemeinsam zu baldigen Friedensgesprächen aufgerufen. Macron sagte, Ziel sei die „Wiederaufnahme der Gespräche, so schnell wie möglich, für einen dauerhaften Frieden.”

ZiF: Letztlich hat Putin vom Beginn des Ukrainekriegs weg diese Auffassung auch vertreten.

HK: Ja, aber es wurde von westlichen Politikern immer wieder behauptet: Putin wolle nicht verhandeln, dann hieß es, mit Putin könne man nicht verhandeln, dann hieß es, mit Putin dürfe man nicht verhandeln. Tatsache ist jedoch, dass beide Seiten verhandelt haben, und das durchaus erfolgreich. Übrigens hat auch Präsident Biden die Auffassung vertreten, dass der Krieg mit Verhandlungen beendet wird. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es jedoch, eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden. Russland und die Ukraine haben in letzter Zeit die Bedingungen für einen Verhandlungsfrieden höhergeschraubt und sogar Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen gestellt. Ich habe den Eindruck, dass beide Kriegsgegner darauf setzen, die eigene Verhandlungsposition durch eine erfolgreiche militärische Offensive zu verbessern. Dies könnte sich jedoch sehr schnell als Trugschluss erweisen.

ZiF: Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

Ablösung der unipolaren Weltordnung?

„Die unipolare Weltordnung, von den USA dominiert, könnte durch eine multipolare Welt abgelöst werden”. Interview mit General a. D. Harald Kujat.

Von Published On: 10. Mai 2023Kategorien: Geopolitik

Dieser Text wurde zuerst am 25.04.2023 auf www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/ unter der URL <https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-6-7-vom-25-april-2023.html#article_1509> veröffentlicht. Lizenz: © Thomas Kaiser, Zeitgeschehen im Fokus

Luftwaffengeneral Richard B. Myers, Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, überreicht am 7. April 2005 im Pentagon die Legion of Merit an Bundeswehrgeneral Harald Kujat. Kujat erhielt die Medaille für seine Arbeit mit dem Nordatlantikvertrag Organisation und der Bundesrepublik Deutschland. (Foto: Staff Sgt. D. Myles Cullen, Wikimedia
Commons, CC0)

Zeitgeschehen im Fokus (ZiF): Als ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses müssen sich Ihnen doch die Nackenhaare sträuben, wenn Sie Macrons Idee von der „strategischen Autonomie” Europas hören.

General a. D. Harald Kujat (HK): Nein, das ist eine überzeugende Schlussfolgerung aus der gegenwärtigen geopolitischen Lage. Ich spreche zwar nicht von „strategischer Autonomie”, sondern von der „Selbstbehauptung Europas”. Das bedeutet jedoch mit anderen Worten, was Präsident Macron meint: Die Fähigkeit Europas, sich in der neuen Weltordnung der rivalisierenden großen Mächte, gegenüber China, Russland und den Vereinigten Staaten aus eigener Kraft zu behaupten.

Europa ist in der geopolitischen Machtarithmetik der rivalisierenden großen Mächte immer weiter ins Hintertreffen geraten. Der Ukrainekrieg führt uns täglich vor Augen, dass die europäische Politik weder bereit noch in der Lage ist, europäische Interessen durchzusetzen. Das zeigen auch die gereizten Reaktionen deutscher Provinzpolitiker, die Macron aus Mangel an geopolitischer Urteilsfähigkeit vorwerfen, Europa zu spalten oder die Bedeutung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten für die europäische Sicherheit zu unterschätzen.

Die Nordatlantische Allianz ist ein Bündnis kollektiver, gegenseitiger Sicherheit auf der Grundlage eines gemeinsamen sicherheitspolitischen Konzepts. Die Vereinigten Staaten leisten ihren Beitrag für die Sicherheit Europas allerdings nicht aus humanitären Gründen, sondern weil es in ihrem nationalen sicherheitspolitischen Interesse ist. Dass es Fälle gibt, in denen die europäischen und amerikanischen Interessen nicht übereinstimmen, ist evident. Deshalb wurde bereits vor Jahrzehnten vereinbart, dass die Nato Kräfte und Mittel für militärische Einsätze in strategischer Verantwortung der Europäischen Union zur Verfügung stellt, falls die Vereinigten Staaten sich nicht an diesen Einsätzen beteiligen.

ZiF: Gibt es Fälle, in denen die amerikanischen und europäischen Interessen überhaupt nicht übereinstimmen?

HK: Ein Beispiel ist die einseitige Kündigung 2019 des für die europäische Sicherheit so wichtigen INF-Vertrages durch die amerikanische Regierung. Noch wenige Monate zuvor hatten die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten den Vertrag als „entscheidend für die euro-atlantische Sicherheit” gewürdigt und betont, „diesem wegweisenden Rüstungskontrollvertrag verpflichtet” zu bleiben. Als einziger europäischer Politiker kritisierte Präsident Macron, dass die Vertragskündigung erhebliche Auswirkungen auf die Sicherheit Europas hat. Denn damit wurde Russland eine Möglichkeit gegeben, ohne irgendwelche vertragliche Begrenzungen erneut ein eurostrategisches Nuklearpotential aufzubauen, das Europa, aber nicht die USA bedroht. Als Konsequenz der amerikanischen Entscheidung forderte Macron, Europa müsse sich selbst verteidigen können. Und er fügte hinzu, die amerikanische Entscheidung sollte Anlass sein, über eine europäische nukleare Abschreckung nachzudenken. Aber auch das Risiko eines neuen russisch-amerikanischen nuklearen Wettrüstens auf dem europäischen Kontinent ist durchaus real. Macrons Worte waren vor allem an Deutschland gerichtet. Denn die militärische Schwäche Europas ist vor allem eine Folge der Schwäche Deutschlands. Zumindest hat der Ukrainekrieg ein Umdenken eingeleitet. Hinsichtlich der Stärkung des konventionellen europäischen Pfeilers in der Nato besteht im Bündnis Einvernehmen. Und je länger der Ukrainekrieg dauert, umso klarer wird sich auch erweisen, dass es gravierende Interessenunterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gibt. Schon im Vorfeld des Krieges, als sich Macron und Scholz in Moskau und Kiew darum bemühten, den Krieg zu verhindern, haben ihnen die Vereinigten Staaten die Unterstützung versagt.

Nur vordergründig beruht die Geschlossenheit des Westens darauf, die Ukraine im Kampf um ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu unterstützen. Auch wenn die Europäer selbst noch keine Vorstellung davon entwickelt haben, muss am Ende des Krieges eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung entstehen, in der alle Staaten des europäischen Kontinents einschließlich der Ukraine und Russlands ihren Platz haben. Dagegen verfolgen die Vereinigten Staaten das Ziel, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger ihre Vormachtstellung als Weltmacht gefährden könnte, nämlich China.

Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnen den INF-Vertrag im Ostsaal des Weißen Hauses, 8.12.1987. (Foto: White House Photographic Office, Wikimedia Commons, CC0)

ZiF: Macron hat das mangelnde europäische Abwehrpotential erwähnt. Ist denn ein Krieg Russlands gegen Europa denkbar?

HK: Ich sehe keinen Beleg für die Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Europa, was ja ein Krieg gegen die Nato wäre. Russland hat die Nato-Erweiterung von Anfang an unter strategischen Gesichtspunkten gesehen, bezogen auf die geostrategische Lage und das Verteidigungspotential eines Landes, oder anders ausgedrückt, in welchem Masse die Nato-Mitgliedschaft das strategische Gleichgewicht zwischen Russland und der Nato verändern würde. Deshalb ist Russland bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, die möglicherweise auch die Stationierung amerikanischer Streitkräfte in der Ukraine zur Folge hätte. Im Kern geht es vor allem darum, strategische Vorteile des geopolitischen Rivalen USA zu verhindern, nicht zuletzt auch solche, die das nuklearstrategische Gleichgewicht der beiden nuklearen Supermächte gefährden könnten.

Es steht also für die beiden Hauptakteure im Ukrainekrieg, Russland und die Vereinigten Staaten, viel auf dem Spiel. Deshalb bleibt das Risiko bestehen, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein Krieg um die Ukraine werden könnte, solange dieser Krieg andauert.

ZiF: Das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China hat sich in letzter Zeit deutlich verschlechtert. Droht ein Konflikt zwischen beiden Staaten?

HK: Auch das Verhältnis der USA zu China wird von geopolitischen Aspekten bestimmt. China ist überzeugt, dass die globalen Risiken seit dem Ukrainekrieg gestiegen sind und die westlichen Länder – im wesentlichen die USA – dafür die Hauptverantwortung tragen. Die Folge ist eine engere Zusammenarbeit zwischen China und Russland, die beide das Ziel einer multipolaren Welt verfolgen. Aus amerikanischer Sicht hat China sowohl die Absicht als auch zunehmend die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht, die führende Weltmacht zu werden. Mit der gleichen Geschlossenheit wie im Ukrainekrieg gegen Russland sollen deshalb die europäischen Staaten gemeinsam mit den regionalen Partnern Australien, Japan, Südkorea, Neuseeland und künftig auch den Philippinen in ein indo-pazifisches Netzwerk gegen China eingebunden werden. Für den Schulterschluss mit Europa in einem künftigen Konflikt mit China bildet die Nato eine wichtige Brücke. In ihrem neuen strategischen Konzept heißt es, dass China die Interessen, die Sicherheit und die Werte der Mitgliedstaaten in Frage stelle. Die systemischen Herausforderungen Chinas für die euro-atlantische Sicherheit will die Nato nun angehen.

Deshalb ist Präsident Macrons Warnung berechtigt, dass der europäische Kontinent sich nicht in die Konflikte anderer hineinziehen lassen darf. Europa muss in der Lage sein, seine eigenen Interessen zu wahren und diese stärker zu vertreten, und zwar grundsätzlich gegenüber allen drei großen Mächten. Das ist die eigentliche Botschaft, die Präsident Macron in China ausgesendet hat. Macron steht mit seiner Sorge nicht allein. Der amerikanische Stratege Harlan Ullman hat schon vor einiger Zeit besorgt gefragt, ob die USA einen vermeidbaren Fehler begangen haben, indem sie eine strategische militärische Zwei-Fronten-Konfrontation gegen China und Russland eröffnet haben, die er als tickende Zeitbombe bezeichnete.

ZiF: Bezieht sich Macrons Forderung, die eigenen Interessen zu wahren, außer auf den militärischen Bereich auch auf die Wirtschaft oder andere Bereiche?

HK: Macron hat diese Bemerkung im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Krisen und Konflikten gemacht. Aber der Ukrainekrieg und der Konflikt mit China sind ein Menetekel, dass wir unsere politischen, wirtschaftlichen, technologischen und nicht zuletzt die militärischen Fähigkeiten ausbauen müssen, wenn wir unabhängiger, handlungsfähiger und sicherer werden wollen. Erforderlich ist eine mehrdimensionale Politik, die durch eine synergetische Gesamtstrategie ein breites Handlungsspektrum eröffnet. Wir sehen das an dem Krieg in der Ukraine, der nicht nur ein militärischer Krieg ist, sondern auch ein Wirtschafts- und Informationskrieg. Europa muss in der Lage sein, sich in allen diesen Bereichen zu behaupten und unabhängig vom Einfluss anderer Mächte eigenständig nach der eigenen Interessenlage Entscheidungen zu treffen. Das ist kein Widerspruch zu einer engen Abstimmung mit Verbündeten und Partnern, wie dies beispielsweise in der Allianz geschieht, deren Stärke darin besteht, die verschiedenen nationalen Interessen zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu vereinen.

ZiF: Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China sind doch entstanden, weil China die Vereinigung mit Taiwan anstrebt.

HK: Richtig ist, dass sich die Spannungen in der letzten Zeit verschärft haben. Der chinesische Präsident hat auf dem letzten Parteikongress der KP-China die Absicht bekräftigt, die Vereinigung mit Taiwan auf friedlichem Wege anzustreben. Zugleich hat er jedoch jede Verpflichtung zum Gewaltverzicht verneint. Noch verfügt China nicht über militärische Fähigkeiten, um Taiwan einzunehmen. Aber in wenigen Jahren wird dies der Fall sein. Der Taiwan-Konflikt könnte zum Kulminationspunkt der amerikanisch-chinesischen geopolitischen Rivalität werden. Denn dies ist die eigentliche Ursache für einen möglichen Konflikt.

Der Taiwan Relations Act von 1979 regelt die Beziehungen zwischen den USA und Taiwan, und zwar in der Weise, dass die USA die Unabhängigkeit und die Verteidigungsfähigkeit Taiwans durch Waffenlieferungen und andere Maßnahmen unterstützen. Ein direktes militärisches Engagement zur Verteidigung Taiwans ist damit jedoch nicht verbunden. Bisher haben alle amerikanischen Präsidenten auch eine entsprechende Festlegung vermieden. Im Oktober 2021 hat jedoch Präsident Biden erstmals ausdrücklich erklärt, sollte Taiwan von China angegriffen werden, würden die USA militärischen Beistand leisten. Damit sind von beiden Seiten Weichenstellungen vorgenommen worden, damit ist das Risiko eines militärischen Konflikts erheblich gestiegen. Es ist offenbar die Gefahr einer direkten Verwicklung der Nato und damit Europas, die Macron zu seiner nachdrücklichen Warnung veranlasst hat.

Das Vertragsgebiet der Nordatlantischen Allianz ist allerdings im Washingtoner Vertrag präzise definiert. Ein militärisches Engagement im Westpazifik wird davon nicht abgedeckt.

ZiF: Bezieht sich Macron mit dem Begriff der strategischen Autonomie Europas nur auf das Verhältnis zu den USA?

HK: Im Verhältnis zu den USA ist dies augenfällig, weil Europas Sicherheit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und sicherlich auch noch einige Zeit vom amerikanischen Engagement abhängt. So haben es Macrons Kritiker aufgefasst. Aber für Macron bedeutet dies sicherlich strategische Autonomie gegenüber allen großen Mächten und eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der Fähigkeit, Probleme, die Europas Sicherheit gefährden, an der europäischen Peripherie zu bewältigen. Dort liefern sich die Großmächte seit Jahren eine Auseinandersetzung um Einflusszonen, die Regionalmächte Stellvertreterkriege um regionale Dominanz und ethnische und religiöse Minderheiten um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Übervölkerung, religiöse Gegensätze und die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen bilden den Nährboden für islamistische und fundamentalistische Terrorgruppen und sind die Ursache für immer neue Migrationswellen.

ZiF: Die Probleme an der Peripherie sind doch vor allem durch das Eingreifen der USA entstanden…

HK: Ja, amerikanische militärische Interventionen, beispielsweise im Irak, in Libyen oder in Syrien, haben zu großen regionalen Verwerfungen geführt und die Sicherheit des europäischen Kontinents negativ beeinflusst.

ZiF: Was Sie vorhin über das Verhältnis China-USA erklärt haben, kann man als Kampf der USA um den Erhalt seiner Vormachtstellung verstehen.

HK: Die Vereinigten Staaten sehen in China die umfassendste und ernsthafteste Herausforderung für ihre nationale Sicherheit. Der amerikanische Verteidigungsminister Austin bezeichnet China in der neuen amerikanischen Militärstrategie aber auch als den wichtigsten strategischen Konkurrenten der kommenden Jahrzehnte. Diese Konkurrenz geht allerdings über den militärisch-strategischen Aspekt hinaus und umfasst vor allem auch wirtschaftliche Aspekte, die Gefährdung des Dollars als Weltleitwährung und den politischen Einfluss in Südamerika, Afrika und Asien. In aller Kürze: Es geht darum, die globale Vormachtstellung der Vereinigten Staaten zu beenden und die unipolare durch eine multipolare Welt zu ersetzen.

Man muss auch in diesem Zusammenhang konstatieren, dass der Ukrainekrieg Europa an eine Wegscheide geführt hat. Sowohl die USA als auch Europa haben die geostrategische Dynamik, die durch das Ukraine-Engagement auf beiden Seiten entstanden ist, unterschätzt. Der Ukrainekrieg ist ein Menetekel für Europa, entschlossen den Weg zu geopolitischer, wirtschaftlicher, technologischer und nicht zuletzt militärischer Selbstbehauptung einzuschlagen.

Der Krieg hat zudem die Bildung geopolitischer Blöcke gefördert. Während die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und die Nato näher zusammenrücken, ist um China und Russland ein zweiter geopolitischer Block entstanden. Den Kern bilden die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika sowie die Schanghai Kooperation (SCO) mit China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Die BRICS-Staaten repräsentieren 40 Prozent, die westlichen G7-Staaten 12,5 Prozent der Weltbevölkerung. Inzwischen ist das Bruttoinlandsprodukt der BRICS-Staaten höher als jenes der westlichen G7-Staaten. Dieser östliche Block hat in letzter Zeit eine enorme Attraktivität entwickelt.

Screenshot Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/BRICS-Staaten

ZiF: Für welche Staaten, neben ihren Mitgliedsländern, spielt dieser Zusammenschluss eine Rolle?

HK: China arbeitet mit Saudi-Arabien auf dem globalen Ölmarkt und der Nutzung der Kernenergie zusammen, unterstützt den Beitritt Saudi-Arabiens zur BRICS-Gruppe und treibt die Bildung einer rohstoffbasierten Reservewährung als Konkurrenz zum Petrodollar voran. Bereits heute wird teilweise in russischer oder chinesischer Währung bezahlt. Neben Saudi-Arabien haben Argentinien, Ägypten, Kasachstan, Nigeria, die Vereinigten Arabischen Emirate, Senegal und Thailand Interesse an einem BRICS-Beitritt bekundet.

ZiF: Es ist sehr interessant, wie Sie jetzt den Bogen gespannt haben. Das heißt doch eigentlich, dass diese immer wieder bemühte Argumentation, „Russland ist isoliert” nicht der Realität entspricht, denn tatsächlich sind es vielmehr Staaten, die mit Russland und China kooperieren wollen. Geht die Sichtweise des Westens, dass er der Mittelpunkt der Erde sei, nicht völlig an der Realität vorbei?

HK: Das geht in der Tat an der Realität vorbei. Die Europäische Union hat im Wirtschaftskrieg mit Russland fortgesetzt umfangreiche Sanktionen erlassen. Obwohl diese mit dem Ziel begonnen wurden, Russland zur Einstellung des Angriffs auf die Ukraine zu zwingen und von der Voraussetzung ausgingen, dass die Sanktionen sich weder auf die Energiepreise auswirken noch Nachteile für die Wirtschaft der europäischen Staaten entstehen würden, trat genau das Gegenteil ein. Russland ist auch nicht in dem erwarteten Ausmaß geschwächt worden. In den letzten Tagen haben wir Zahlen gesehen, nach denen die russische Wirtschaft wächst und die deutsche Wirtschaft schrumpft, was sich insgesamt auf Europa auswirken wird. Man muss in diesem Zusammenhang auch erwähnen, dass als Folge des Ukrainekrieges und insbesondere der damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte, die Aussicht gewachsen ist, die unipolare Weltordnung, die von den USA wirtschaftlich, militärisch und politisch dominiert wird, könnte durch eine multipolare Welt abgelöst werden.

ZiF: Wie kann denn Europa in einer multipolaren Welt seinen Platz finden?

HK: Die Nordatlantische Allianz verbindet Nordamerika und Europa zu einem Bündnis souveräner, demokratischer Staaten, von denen jeder einzelne zur gemeinsamen Sicherheit beiträgt. Das große Verdienst des Bündnisses besteht darin, die nationalen Interessen jedes einzelnen Mitgliedstaates in ein gemeinsames Konzept zu integrieren und trotz immer wieder auftretenden Gegensätzen und Problemen die Gemeinsamkeiten zu bewahren.

Da die geostrategische Lage der beiden Kontinente sehr unterschiedlich ist, gelten auch unterschiedliche Bedingungen für die Bewahrung von Frieden und Sicherheit. Das müssen die Europäer künftig stärker berücksichtigen und dementsprechend auch größere Verantwortung für ihren Kontinent übernehmen. Dadurch wären die europäischen Mitgliedstaaten in der Lage, ihren Einfluss auf die Sicherheitspolitik, die Strategie und Verteidigungsplanung der Nato zu vergrößern. Aber allein mehr in die Sicherheitsvorsorge und die Verteidigungsfähigkeit zu investieren, wäre zu kurz gedacht. Die eigentliche Herausforderung besteht in der Entwicklung einer neuen Sicherheitsarchitektur für den europäischen Kontinent und die Formulierung gemeinsamer Interessen im Rahmen der neuen geopolitischen Weltordnung.

ZiF: Was geschieht, wenn die Europäer den USA die Gefolgschaft verwehren, und sich für die multipolare Welt entscheiden, die vielleicht doch zu mehr Frieden führt als das ewige Streben nach Dominanz? Würde das die USA davon abhalten, diesen Kriegskurs weiterzuführen, wie sie ihn gegen China fahren?

HK: Ein Krieg zwischen zwei nuklear strategischen Supermächten wird der Welt hoffentlich erspart bleiben. Die massive Aufrüstung der chinesischen Streitkräfte macht große Fortschritte. Nuklear strategisch hat China zu den beiden nuklearen Supermächten Russland und USA weitgehend aufgeschlossen. Deshalb sagte Admiral Charles Richard, der damalige Befehlshaber des US-Strategic Command, 2022: „Diese Ukrainekrise, in der wir uns gerade befinden, ist nur das Aufwärmen. Die große Krise kommt noch. Wir werden auf eine Weise getestet werden, wie wir es schon lange nicht mehr erlebt haben. Wenn ich den Grad unserer Abschreckung gegenüber China einschätze, dann sinkt das Schiff langsam, aber es sinkt.” Damit beschreibt er das enorme Risiko, das die USA im Falle eines Konflikts mit China eingehen. Und eben nicht nur die USA, sondern möglicherweise auch die Europäer, wenn wir den von der Nato begonnenen Kurs fortsetzen.

ZiF: Nach Ihren Ausführungen stellt sich mir die Frage, ist denn China interessiert, mit den USA eine militärische Auseinandersetzung zu provozieren?

HK: China hat gezeigt, dass es bereit ist, eine militärische Eskalation mit den Vereinigten Staaten aufzunehmen, wenn es um die Taiwanfrage geht. Zugleich setzt China seinen Kurs fort, politisch, wirtschaftlich und militärisch die Weltmachtspitze anzustreben. Das bedeutet jedoch nicht, dass China eine militärische Auseinandersetzung sucht. Letztlich entscheidet darüber die Frage, was beide Staaten bereit sind, für Taiwan in die Waagschale zu werfen.

ZiF: Worin sich die Politik der Chinesen und des Westens unterscheidet, ist doch, dass die Chinesen sich nicht in die europäische Politik einmischen und diese auch nicht beurteilen und bewerten. Während des Besuchs von Ursula von der Leyen oder Annalena Baerbock war deutlich, dass die Europäer das immer tun.

HK: Natürlich hat das große Projekt der Neuen Seidenstraße nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Bedeutung. Aber es ist richtig, wie wir gerade in letzter Zeit gesehen haben, dass die Bereitschaft, sich zu innenpolitischen Problemen Chinas zu äußern, bei europäischen Politikern wesentlich stärker ausgeprägt ist als umgekehrt.

Jede ideologisch eingefärbte Außenpolitik führt nicht nur zu politischen Risiken, sondern verursacht im Allgemeinen auch Schaden für die eigene Wirtschaft. Das deutsch-chinesische Handelsvolumen beträgt über 200 Milliarden Euro; der wirtschaftliche Verkehr muss grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe erfolgen, deutsche Firmen in China also die gleichen Bedingungen erhalten wie chinesische Firmen in Deutschland. Die Globalisierung hatte für unsere Wirtschaft bisher große Vorteile, führt aber auch zu wechselseitiger Abhängigkeit.

ZiF: Welche Rolle müsste denn Europa im Ukrainekonflikt spielen?

HK: Ich würde das gern auf Deutschland beschränken. Die Bundesregierung hat bereits am 2. Mai 2022 einer von der Ukraine eingebrachten Uno-Resolution zugestimmt, in der die Generalversammlung nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel fordert. Im vergangenen Februar ist die Bundesregierung durch die Zustimmung zu einer weiteren Uno-Resolution mit gleichem Tenor die Verpflichtung eingegangen, zu einer friedlichen Beilegung des Krieges beizutragen. Außerdem ist Deutschland durch das Friedensgebot des Grundgesetzes im besonderen Maße verpflichtet, sich für ein Ende des Krieges einzusetzen. Was soll man davon halten, wenn dies alles missachtet und selbst ein Waffenstillstand vom amerikanischen Außenminister als „keine gute Idee” bezeichnet wird? Entsprechende Initiativen wie diejenige, die kürzlich von China lanciert worden ist, werden in den deutschen Medien reflexartig abgelehnt, obwohl gerade das chinesische Zwölf-Punkte-Papier sich auf die Uno-Resolution bezog und die Wiederaufnahme der im April letzten Jahres abgebrochenen Verhandlungen vorschlug. Zwei mächtige Politiker, wie der chinesische Präsident Xi Jinping und der brasilianische Präsident Lula da Silva sagen, sie seien sich einig, dass Verhandlungen der einzige mögliche Weg seien, um die Krise zu lösen. Ich finde diese Einstellung zur Lösung von Krisen und Konflikten höchst bemerkenswert und beispielhaft, zumal das zwei Politiker sagen, hinter denen Organisationen stehen, die 40 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren. Auch die Präsidenten Macron und Xi Jinping haben gemeinsam zu baldigen Friedensgesprächen aufgerufen. Macron sagte, Ziel sei die „Wiederaufnahme der Gespräche, so schnell wie möglich, für einen dauerhaften Frieden.”

ZiF: Letztlich hat Putin vom Beginn des Ukrainekriegs weg diese Auffassung auch vertreten.

HK: Ja, aber es wurde von westlichen Politikern immer wieder behauptet: Putin wolle nicht verhandeln, dann hieß es, mit Putin könne man nicht verhandeln, dann hieß es, mit Putin dürfe man nicht verhandeln. Tatsache ist jedoch, dass beide Seiten verhandelt haben, und das durchaus erfolgreich. Übrigens hat auch Präsident Biden die Auffassung vertreten, dass der Krieg mit Verhandlungen beendet wird. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es jedoch, eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden. Russland und die Ukraine haben in letzter Zeit die Bedingungen für einen Verhandlungsfrieden höhergeschraubt und sogar Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen gestellt. Ich habe den Eindruck, dass beide Kriegsgegner darauf setzen, die eigene Verhandlungsposition durch eine erfolgreiche militärische Offensive zu verbessern. Dies könnte sich jedoch sehr schnell als Trugschluss erweisen.

ZiF: Herr General Kujat, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser