Benjamin „Bibi“ Netanjahu spricht vor dem US-Kongress und wird von den Abgeordneten gefeiert wie ein Popstar (58 mal Standing Ovations). Er verteidigte den Krieg in Gaza und sprach sich für weitere Kriege aus, z.B. mit Iran. (Screenshot: ARD Tagesschau vom 25.07.2024: https://www.youtube.com/watch?v=kwe8qoyKLgw)

Die Wiedergeburt von Irgun 1948?

Der Titel bezieht sich auf die von 1931 bis 1948 bestehende jüdische Terrorgruppe Irgun, die „Nationale Militärorganisation in Israel“. Eine zionistische paramilitärische Untergrundorganisation im britischen Mandatsgebiet. Viele Kämpfer von Irgun träumten von einem Groß-Israel, das über den Jordan hinausreicht – und von einem Israel ohne Araber.

Von Alastair Crooke , veröffentlicht am: 21. August 2024, Kategorien: Krieg & Frieden

Dieser Text wurde zuerst am 05.08.2024 auf www.strategic-culture.su unter der URL <https://strategic-culture.su/news/2024/08/05/the-1948-irgun-re-born/> veröffentlicht. Lizenz: Alastair Crooke, Strategic Culture, CC BY-NC-ND 4.0

Die Wegweiser sind für alle lesbar: Der Westen kann sich nicht beschweren oder sich den Konsequenzen entziehen – wenn er absichtlich diese Zeichen übersieht.

Nein, diese „selektive Wahrnehmung“ ist keine neue geistige Umnachtung des Westens – kein einzigartiger kollektiver Verfall der geistigen Gesundheit. Es ist etwas schlimmeres: Eine Rückkehr zu einer dogmatischen, autoritären Version der Wahrheit, über die sich der Physiker Eric Weinstein beklagt [1], und die (im Westen) echte Wissenschaft zerstört hat – dissidente Stimmen werden ignoriert und verschwiegen, während die Wissenschafts-Betrüger belohnt werden.

Bedenken Sie folgendes: Premierminister Netanjahu sprach am 24. Juli vor dem US-Kongress und erklärte in nicht gerade zurückhaltender manichäischer Manier, dass der Westen einer „Achse des Bösen“ (Iran und Alliierte) gegenübersteht, an deren Zerstörung die USA teilnehmen müssen (Anm. d. Red. Manichäismus = Offenbarungsreligion der Spätantike und des frühen Mittelalters. Unterteilt in die „Auserwählten“ Amtsträger und die Gemeindemitglieder.).

Die US-Abgeordneten feierten seine Einladung 58 mal mit stehenden Ovationen.

Netanhayu kehrte nach Hause zurück, wo ihn eine Katastrophe in der Drusengemeinde auf den Golanhügeln erwartete. Raketen-Fragmente schlugen ein und töteten und verwundeten Fußball spielende Kinder (die genauen Umstände sind noch unklar). Der westliche Verstand ist allerdings sehr wohl in der Lage folgendes zu schlussfolgern: Erstens, dass Majdal Shams im besetzten Syrien liegt; Zweitens, dass die Drusengemeinde dort überwiegend aus Syrern besteht (die eine israelische Staatsbürgerschaft ablehnen) und überwiegend Pro-syrisch ist. Der Westen scheint jedoch nicht in der Lage zu sein, eine weitere, sehr naheliegende Schlussfolgerung zu ziehen: Warum, um alles in der Welt, sollte die Hisbollah absichtlich eine syrische Gemeinde auf syrischem Boden angreifen, die überwiegend mit dem Widerstand sympathisiert?

Das würden sie nicht. Doch diese offensichtlichen Fakten werden komplett ignoriet, von einer Denkweise, von der Weinstein sagt, sie ziehe aktiv den Betrug der Wahrheit vor. US-Pressesprecher Kirby sagte, dass die Hisbollah Kinder in Nordisrael angegriffen hätte.

Der israelische Verteidigungsminister sagte wiederholt: „Wir wollen keinen Krieg.“ Westliche Führer plapperten dieses Zitat nach: Niemand will Krieg. ,Wir sind voll und ganz davon überzeugt, dass die Antwort Israels beschränkt und auf militärische Ziele gerichtet sein wird.ʻ Das Weiße Haus ließ verlauten: „Aus unserer Sicht, gibt es keinen Grund für eine dramatische Eskalation im Südlibanon und es ist noch Zeit und Raum für Diplomatie.“

Was passiert stattdessen? Zwei bedeutende Attentate: Eines in Beirut und das andere in Teheran (an einem Gast Irans, auf iranischem Hoheitsgebiet). Westliche Führer äußern ihre ,Besorgnisʻ. Das Ziel in Teheran war Ismail Haniyeh von der Hamas. Wie der katarische Premierminister bekannt gab, war Haniyeh der wichtigste Verhandlungsführer in Bezug auf die Geiseln in Gaza.

Auch das wird man übersehen, obwohl es selbst für das engstirnige Washington offensichtlich sein muss, dass Netanjahus Absicht war, die Hamas, Hisbollah und Iran zu einer „Achse des Bösen“ zu verweben – und diese These bei der gemeinsamen Sitzung des Kongresses auch ansprach.

Rufen wir uns die neue „Gleichung“ in Erinnerung, die auf das Attentat eines hochrangigen IRGC-Angehörigen (Anm. d. Red.: iranische Armee) in der iranischen Botschaft folgte: Von nun an wird der Iran direkt Antworten – und zwar direkt aus dem Iran. Washington sagt, sie wollen keinen Krieg, doch Netanjahu hat sich ausdrücklich dafür ausgesprochen. Haben die Abgeordneten das nicht mitbekommen?

Fast zehn Monate lang war Israel nicht in der Lage die Situation entlang der nördlichen Grenze zu stabilisieren und vertriebenen Israelis die Rückkehr zu ermöglichen. Selbst wenn der Angriff auf Beirut nicht zu einem größeren Krieg führt, ist die Wiederherstellung eines ausgehandelten Friedens an der libanesischen Grenze nicht erreichbar – genauso wenig wie ein Gaza-Geisel-Deal. Der katarische Premierminister al-Thani bemerkte dies mit Bedauern: „Wie kann eine Vermittlung erfolgreich sein, wenn man den Verhandlungsführer der Gegenseite ermordet.“

Ebenso ,übersehenʻ wird im Westen, was in Israel am selben Tag geschah, an dem später die Attentate durchgeführt wurden: Angehörige einer rechten Bürgerwehr kamen aus ihren Siedlungen und stürmten zwei IDF-Basen (Anm. d. Red.: IDF = Israelische Armee) [2]. Die anarchischen Szenen der massenhaften Einbrüche – die von Mitglidern der Regierungskoalition, von denen sich einige an den gewaltsamen Einstiegen beteiligten, angestiftet wurden – lösten eine wütende Verurteilung durch Verteidigungsminister Gallant aus.

Die Überfälle wurden von einem Minister und mehreren Abgeordneten der Knesset unterstützt.

Sie wollten Reservisten befreien, die der schweren Misshandlung und des erzwungenen Analverkehrs beschuldigt werden – begangen an Palästinensern [3]. Nach Angaben einer Quelle aus dem Sicherheitsbereich, wurde der verletzte Gefangene mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht, einschließlich Verletzungen an einem intimen Körperteil, die dazu führten, dass er nicht mehr laufen konnte.

Ben Gvir, dessen Ministerium die israelische Polizei und die Gefängnisse (Israel Prison Service) kontrolliert, sagte über die Stürmung der IDF-Posten: „Das Spektakel der Militärpolizisten, die unsere besten Helden aus Sde Teiman verhaften, ist nichts anderes als beschämend.“ (Anm. d. Red.: Sde Teiman ist eine israelische Militärbasis in der Negev Wüste, die während des israelischen Krieges in Gaza als Internierungslager genutzt wird.)

Yossi Melman beschreibt das umfassendere Bild jedoch so [4]:

„Was gerade in Teilen der nationalistischen messianischen Rechten passiert, mit Unterstützung, Durchwinken oder Schweigen von Ministern und Abgeordneten der Rechten, ist ein ,Putschʻ. Die Jugend steigt vom Hügel des ,Staates Judaʻ herab (Anm. d. Red.: Juda war ein eisenzeitliches Königreich in den Judäischen Bergen rund um Jerusalem), um die gleichen gewaltsamen Methoden anzuwenden – die gegen die Palästinenser angewandt werden – (aber diesmal) werden sie gegen den Staat Israel eingesetzt. Der Abgeordnete Limor Son Har-Malech (Otzma Yehudit Partei) sagte: ,Die israelische Bevölkerung wird gegen Feinde von außen und gegen Feinde, die versuchen uns zu Hause zu zerstören, kämpfen.ʻ [Gegen Feinde, wie den Generalanwalt, der versucht die Folterungen zu untersuchen, die in Sde Teiman praktiziert werden.] Das Konzept des Messers im Rücken und des Verrats zu Hause erinnert an die Stimmen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ferner übersehen und nicht in den Nachrichten:

Die Situation in Sde Teiman war weithin bekannt und es wurde gesagt, es sei „schrecklicher als alles, was wir über Abu Ghraib und Guantanamo gehört haben“ [5].

Ein UN-Bericht beschreibt detailliert, wie willkürlich inhaftierte Palästinenser gefoltert und misshandelt werden. Die Bürgerwehr aus den Siedlungen bezeichnet nichtsdestotrotz die Täter der Vergewaltigungen als „Helden“ – und stellten die IDF-Ermittler als fünfte Kolonne dar. Berichten zufolge genießen die Täter aus Sde Teiman Schutz aus höheren Kreisen.

Diese Darstellung von systematischer Folter folgte auf frühere Enthüllungen [6]. Die israelische Armee markierte Zehntausende Menschen aus Gaza als Mordverdächtige und benutzte dabei ein KI-gestütztes Zielauswahl-Programm namens Lavender – mit geringer menschlicher Aufsicht und einer großzügigen Auslegung bei der Opferauswahl.

Auf die gleiche Weise zelebrierten am Mittwoch rechte Kabinettsmitglieder die Ermordung von Ismail Haniyeh in Teheran auf Social Media: „Das ist der richtige Weg, um die Welt von diesem Dreck zu befreien.“, schrieb der Kulturminister Amichay Eliyahu, ein Mitglied der rechtextremen-Partei Otzma Yehudit, dessen Vorsitzender der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir ist. Eliyahu twitterte [7]:

„Keine imaginären, Friedens/Kapitulationsvereinbarungen mehr, keine Gnade mehr für diese wandelnden Toten. Die eiserne Faust, die sie treffen wird, wird Ruhe und ein Fünkchen Hoffnung bringen. Und unsere Fähigkeit stärken, mit denen in Frieden zu leben, die sich um Frieden bemühen. Haniyehs Tod macht die Welt zu einem etwas besseren Ort.“

Was ist denn dann diese ,Wahrheitʻ, die der Westen ignoriert oder die Realität, die er verschweigt, während er weiter falsche Geschichten verbreitet? Denn das Israel was sie zu verstehen glauben, ist heute etwas ganz anderes geworden. Und das, weil sie eine Erkenntnistheorie haben, die dem mechanistischen Rationalismus widerspricht.

Eine rechte eschatologische Sekte (Anm. d. Red.: Endzeitsekte) hält nun die Mehrheit im Kabinett – und verfügt über eine Bürgerwehr, die bereit ist, das militärische Establishment und den israelischen Staat anzugreifen [8]. Für den Angriff und die Übernahme der zwei Basen wurde niemand verhaftet. Sie wagen es nicht.

Moshe „Bogie“ Ya´alon, ehemaliger Generalstabschef und israelischer Verteidigungsminister. In einem Interview erläuterte er das Denken von Smotrich und Ben Gvir und bezeichnete es als „Mein Kampf, nur umgekehrt“. (Foto: Reuven Kopitchinski / Wikimedia Commons / CC0)

Moshe „Bogie“ Ya’alon, ehemaliger Generalstabschef der IDF, der auch als israelischer Verteidigungsminister diente, äußerte sich in einem Videointerview zu den Kräften, die in Israel die Macht übernehmen:

„Wenn Sie von Smotrich und Ben Gvir sprechen: Sie haben einen Rabbiner. Sein Name ist Dov Lior. Er ist der Rabbiner des jüdischen Untergrunds, die den Felsendom in die Luft sprengen wollten – und vorher die Busse in Jerusalem. Warum? Um den Start des ,Letzten Kriegesʻ zu beschleunigen. Haben Sie [nicht] gehört, wie sie über den Letzten Krieg sprechen; oder von Smotrichs Konzept der ,Unterwefungʻ? Lesen Sie den Artikel, den er 2017 in Shiloh publizierte. Zunächst einmal beruht das Konzept auf der jüdischen Vorherrschaft: Mein Kampf, nur umgekehrt.“

„Meine Haare stehen mir zu berge, wenn ich das so sage, wie er es gesagt hat. Ich wuchs in einem Haus von Holocaust- Überlebenden auf und habe dort gelernt: ,Nie wiederʻ. Es ist Mein Kampf, nur umgekehrt: jüdische Vorherrschaft: und folglich sagt [Smotrich]: ,Meine Frau würde nicht in einen Raum mit Arabern gehen.ʻ Es ist in der Ideologie verankert. Und dann strebt er tatsächlich an – so schnell wie möglich – in einen großen Krieg zu ziehen. Ein Krieg zwischen Gog und Magog (Anm. d. Red.: Die Nachfahren Magogs ließen sich im Norden Israels nieder. In Hesekiels Prophezeiung wird Gog der Anführer einer großen Armee sein, die das Land Israel angreift.). Wie startet man die Flammen? Ein Massaker wie 1994 in der Höhle der Patriarchen? Baruch Goldstein ist ein Schüler von diesem Rabbi. Ben Gvir hat Bilder von Goldstein [bei sich zu Hause] aufgehängt. Das ganze fließt in den Entscheidungsprozess der israelischen Regierung ein.“ (Anm. d. Red.: Goldstein war der Schütze bei dem Massaker in der Höhle der Patriarchen, auch bekannt als Ibrahimi Mosque Massaker oder Hebron Massaker und gehörte der rechtsextremen Ultra-zionistischen Kach Bewegung an.)

Rabbi Dov Lior wurde, wegen seines Einflusses und Kontrolle über die bewaffneten Siedler, von Netanjahu als die „Elite-Einheit, die Israel regiert“ beschrieben. Erleben wir die Wiedergeburt von Irgun, die sich 1948 stark auf die Mizrachim stützten? (Anm. d. Red.: Mizrachim: Juden aus dem Nahen Osten, Afrika und der arabischen Welt.) Wäre es nicht an der Zeit, dass die westlichen Herrschaftsstrukturen ihre Tagträumerei beenden und die Zeichen erkennen, die um sie herum sichtbar werden? Einige ernstzunehmende Player denken nicht so wie die Westler; sie streben nach Gog und Magog (Die Prophezeihung, dass die „Kinder Israels“ in der Schlacht von Armageddon siegreich sein werden [Anm. d. Red.: Die Schlacht von Armageddon wird auch Harmageddon genannt – Endzeitliche Entscheidungsschlacht Gottes.]). Das ist es, was man riskiert.

Quellen:

[1] X, Eric Weinstein, <https://twitter.com/EricRWeinstein/status/1818362582430007793>
[2] Axios, Barak Ravid, „A day of chaos in Israel as far-right protesters storm military bases“, am 29.07.2024, <https://www.axios.com/2024/07/30/israel-far-right-protesters-storm-military-bases>
[3] Haaretz, Bar Peleg, Eden Solomon, Chen Maanit undYaniv Kubovich, „IDF Moves Troops to Base Where Violent Mob Protested Arrest of Soldiers for Abusing Gaza Detainee“, am 30.07.2024, <https://www.haaretz.com/israel-news/2024-07-30/ty-article/.premium/idf-move-troops-to-base-where-mob-protested-arrest-of-soldiers-for-abusing-gaza-detainee/00000191-008a-d643-a1d1-b88eb6730001>
[4] X, Yossi Melman, am 29.07.2024, <https://x.com/yossi_melman/status/1818025099343327235>
[5] 972 Magazine, Baker Zoubi, „‘More horrific than Abu Ghraib’: Lawyer recounts visit to Israeli detention center“, am 27.07.2024, <https://www.972mag.com/sde-teiman-prisoners-lawyer-mahajneh/>
[6] 972 Magazine, Yuval Abraham, „‘Lavender’: The AI machine directing Israel’s bombing spree in Gaza“, am 03.04.2024, <https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/>
[7] The Times of Israel, Sam Sokol, „‘No more mercy’: Ministers celebrate Haniyeh’s killing though Israel officially mum“, am 31.07.2024, <https://www.timesofisrael.com/no-more-mercy-ministers-celebrate-haniyehs-killing-though-israel-officially-mum/>
[8] Haaretz, Editorial, „The Netanjahu State Has Lost Control of Israel’s Extreme Right“, am 30.07.2024, <https://www.haaretz.com/opinion/editorial/2024-07-30/ty-article-opinion/the-Netanjahu-state-has-lost-control-of-israels-extreme-right/00000191-000d-d76c-abf3-d26fa1c80000>

Die Wiedergeburt von Irgun 1948?

Von Alastair Crooke , veröffentlicht am: 21. August 2024, Kategorien: Krieg & Frieden

Dieser Text wurde zuerst am 05.08.2024 auf www.strategic-culture.su unter der URL <https://strategic-culture.su/news/2024/08/05/the-1948-irgun-re-born/> veröffentlicht. Lizenz: Alastair Crooke, Strategic Culture, CC BY-NC-ND 4.0

Benjamin „Bibi“ Netanjahu spricht vor dem US-Kongress und wird von den Abgeordneten gefeiert wie ein Popstar (58 mal Standing Ovations). Er verteidigte den Krieg in Gaza und sprach sich für weitere Kriege aus, z.B. mit Iran. (Screenshot: ARD Tagesschau vom 25.07.2024: https://www.youtube.com/watch?v=kwe8qoyKLgw)

Der Titel bezieht sich auf die von 1931 bis 1948 bestehende jüdische Terrorgruppe Irgun, die „Nationale Militärorganisation in Israel“. Eine zionistische paramilitärische Untergrundorganisation im britischen Mandatsgebiet. Viele Kämpfer von Irgun träumten von einem Groß-Israel, das über den Jordan hinausreicht – und von einem Israel ohne Araber.

Die Wegweiser sind für alle lesbar: Der Westen kann sich nicht beschweren oder sich den Konsequenzen entziehen – wenn er absichtlich diese Zeichen übersieht.

Nein, diese „selektive Wahrnehmung“ ist keine neue geistige Umnachtung des Westens – kein einzigartiger kollektiver Verfall der geistigen Gesundheit. Es ist etwas schlimmeres: Eine Rückkehr zu einer dogmatischen, autoritären Version der Wahrheit, über die sich der Physiker Eric Weinstein beklagt [1], und die (im Westen) echte Wissenschaft zerstört hat – dissidente Stimmen werden ignoriert und verschwiegen, während die Wissenschafts-Betrüger belohnt werden.

Bedenken Sie folgendes: Premierminister Netanjahu sprach am 24. Juli vor dem US-Kongress und erklärte in nicht gerade zurückhaltender manichäischer Manier, dass der Westen einer „Achse des Bösen“ (Iran und Alliierte) gegenübersteht, an deren Zerstörung die USA teilnehmen müssen (Anm. d. Red. Manichäismus = Offenbarungsreligion der Spätantike und des frühen Mittelalters. Unterteilt in die „Auserwählten“ Amtsträger und die Gemeindemitglieder.).

Die US-Abgeordneten feierten seine Einladung 58 mal mit stehenden Ovationen.

Netanhayu kehrte nach Hause zurück, wo ihn eine Katastrophe in der Drusengemeinde auf den Golanhügeln erwartete. Raketen-Fragmente schlugen ein und töteten und verwundeten Fußball spielende Kinder (die genauen Umstände sind noch unklar). Der westliche Verstand ist allerdings sehr wohl in der Lage folgendes zu schlussfolgern: Erstens, dass Majdal Shams im besetzten Syrien liegt; Zweitens, dass die Drusengemeinde dort überwiegend aus Syrern besteht (die eine israelische Staatsbürgerschaft ablehnen) und überwiegend Pro-syrisch ist. Der Westen scheint jedoch nicht in der Lage zu sein, eine weitere, sehr naheliegende Schlussfolgerung zu ziehen: Warum, um alles in der Welt, sollte die Hisbollah absichtlich eine syrische Gemeinde auf syrischem Boden angreifen, die überwiegend mit dem Widerstand sympathisiert?

Das würden sie nicht. Doch diese offensichtlichen Fakten werden komplett ignoriet, von einer Denkweise, von der Weinstein sagt, sie ziehe aktiv den Betrug der Wahrheit vor. US-Pressesprecher Kirby sagte, dass die Hisbollah Kinder in Nordisrael angegriffen hätte.

Der israelische Verteidigungsminister sagte wiederholt: „Wir wollen keinen Krieg.“ Westliche Führer plapperten dieses Zitat nach: Niemand will Krieg. ,Wir sind voll und ganz davon überzeugt, dass die Antwort Israels beschränkt und auf militärische Ziele gerichtet sein wird.ʻ Das Weiße Haus ließ verlauten: „Aus unserer Sicht, gibt es keinen Grund für eine dramatische Eskalation im Südlibanon und es ist noch Zeit und Raum für Diplomatie.“

Was passiert stattdessen? Zwei bedeutende Attentate: Eines in Beirut und das andere in Teheran (an einem Gast Irans, auf iranischem Hoheitsgebiet). Westliche Führer äußern ihre ,Besorgnisʻ. Das Ziel in Teheran war Ismail Haniyeh von der Hamas. Wie der katarische Premierminister bekannt gab, war Haniyeh der wichtigste Verhandlungsführer in Bezug auf die Geiseln in Gaza.

Auch das wird man übersehen, obwohl es selbst für das engstirnige Washington offensichtlich sein muss, dass Netanjahus Absicht war, die Hamas, Hisbollah und Iran zu einer „Achse des Bösen“ zu verweben – und diese These bei der gemeinsamen Sitzung des Kongresses auch ansprach.

Rufen wir uns die neue „Gleichung“ in Erinnerung, die auf das Attentat eines hochrangigen IRGC-Angehörigen (Anm. d. Red.: iranische Armee) in der iranischen Botschaft folgte: Von nun an wird der Iran direkt Antworten – und zwar direkt aus dem Iran. Washington sagt, sie wollen keinen Krieg, doch Netanjahu hat sich ausdrücklich dafür ausgesprochen. Haben die Abgeordneten das nicht mitbekommen?

Fast zehn Monate lang war Israel nicht in der Lage die Situation entlang der nördlichen Grenze zu stabilisieren und vertriebenen Israelis die Rückkehr zu ermöglichen. Selbst wenn der Angriff auf Beirut nicht zu einem größeren Krieg führt, ist die Wiederherstellung eines ausgehandelten Friedens an der libanesischen Grenze nicht erreichbar – genauso wenig wie ein Gaza-Geisel-Deal. Der katarische Premierminister al-Thani bemerkte dies mit Bedauern: „Wie kann eine Vermittlung erfolgreich sein, wenn man den Verhandlungsführer der Gegenseite ermordet.“

Ebenso ,übersehenʻ wird im Westen, was in Israel am selben Tag geschah, an dem später die Attentate durchgeführt wurden: Angehörige einer rechten Bürgerwehr kamen aus ihren Siedlungen und stürmten zwei IDF-Basen (Anm. d. Red.: IDF = Israelische Armee) [2]. Die anarchischen Szenen der massenhaften Einbrüche – die von Mitglidern der Regierungskoalition, von denen sich einige an den gewaltsamen Einstiegen beteiligten, angestiftet wurden – lösten eine wütende Verurteilung durch Verteidigungsminister Gallant aus.

Die Überfälle wurden von einem Minister und mehreren Abgeordneten der Knesset unterstützt.

Sie wollten Reservisten befreien, die der schweren Misshandlung und des erzwungenen Analverkehrs beschuldigt werden – begangen an Palästinensern [3]. Nach Angaben einer Quelle aus dem Sicherheitsbereich, wurde der verletzte Gefangene mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht, einschließlich Verletzungen an einem intimen Körperteil, die dazu führten, dass er nicht mehr laufen konnte.

Ben Gvir, dessen Ministerium die israelische Polizei und die Gefängnisse (Israel Prison Service) kontrolliert, sagte über die Stürmung der IDF-Posten: „Das Spektakel der Militärpolizisten, die unsere besten Helden aus Sde Teiman verhaften, ist nichts anderes als beschämend.“ (Anm. d. Red.: Sde Teiman ist eine israelische Militärbasis in der Negev Wüste, die während des israelischen Krieges in Gaza als Internierungslager genutzt wird.)

Yossi Melman beschreibt das umfassendere Bild jedoch so [4]:

„Was gerade in Teilen der nationalistischen messianischen Rechten passiert, mit Unterstützung, Durchwinken oder Schweigen von Ministern und Abgeordneten der Rechten, ist ein ,Putschʻ. Die Jugend steigt vom Hügel des ,Staates Judaʻ herab (Anm. d. Red.: Juda war ein eisenzeitliches Königreich in den Judäischen Bergen rund um Jerusalem), um die gleichen gewaltsamen Methoden anzuwenden – die gegen die Palästinenser angewandt werden – (aber diesmal) werden sie gegen den Staat Israel eingesetzt. Der Abgeordnete Limor Son Har-Malech (Otzma Yehudit Partei) sagte: ,Die israelische Bevölkerung wird gegen Feinde von außen und gegen Feinde, die versuchen uns zu Hause zu zerstören, kämpfen.ʻ [Gegen Feinde, wie den Generalanwalt, der versucht die Folterungen zu untersuchen, die in Sde Teiman praktiziert werden.] Das Konzept des Messers im Rücken und des Verrats zu Hause erinnert an die Stimmen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ferner übersehen und nicht in den Nachrichten:

Die Situation in Sde Teiman war weithin bekannt und es wurde gesagt, es sei „schrecklicher als alles, was wir über Abu Ghraib und Guantanamo gehört haben“ [5].

Ein UN-Bericht beschreibt detailliert, wie willkürlich inhaftierte Palästinenser gefoltert und misshandelt werden. Die Bürgerwehr aus den Siedlungen bezeichnet nichtsdestotrotz die Täter der Vergewaltigungen als „Helden“ – und stellten die IDF-Ermittler als fünfte Kolonne dar. Berichten zufolge genießen die Täter aus Sde Teiman Schutz aus höheren Kreisen.

Diese Darstellung von systematischer Folter folgte auf frühere Enthüllungen [6]. Die israelische Armee markierte Zehntausende Menschen aus Gaza als Mordverdächtige und benutzte dabei ein KI-gestütztes Zielauswahl-Programm namens Lavender – mit geringer menschlicher Aufsicht und einer großzügigen Auslegung bei der Opferauswahl.

Auf die gleiche Weise zelebrierten am Mittwoch rechte Kabinettsmitglieder die Ermordung von Ismail Haniyeh in Teheran auf Social Media: „Das ist der richtige Weg, um die Welt von diesem Dreck zu befreien.“, schrieb der Kulturminister Amichay Eliyahu, ein Mitglied der rechtextremen-Partei Otzma Yehudit, dessen Vorsitzender der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben Gvir ist. Eliyahu twitterte [7]:

„Keine imaginären, Friedens/Kapitulationsvereinbarungen mehr, keine Gnade mehr für diese wandelnden Toten. Die eiserne Faust, die sie treffen wird, wird Ruhe und ein Fünkchen Hoffnung bringen. Und unsere Fähigkeit stärken, mit denen in Frieden zu leben, die sich um Frieden bemühen. Haniyehs Tod macht die Welt zu einem etwas besseren Ort.“

Was ist denn dann diese ,Wahrheitʻ, die der Westen ignoriert oder die Realität, die er verschweigt, während er weiter falsche Geschichten verbreitet? Denn das Israel was sie zu verstehen glauben, ist heute etwas ganz anderes geworden. Und das, weil sie eine Erkenntnistheorie haben, die dem mechanistischen Rationalismus widerspricht.

Eine rechte eschatologische Sekte (Anm. d. Red.: Endzeitsekte) hält nun die Mehrheit im Kabinett – und verfügt über eine Bürgerwehr, die bereit ist, das militärische Establishment und den israelischen Staat anzugreifen [8]. Für den Angriff und die Übernahme der zwei Basen wurde niemand verhaftet. Sie wagen es nicht.

Moshe „Bogie“ Ya´alon, ehemaliger Generalstabschef und israelischer Verteidigungsminister. In einem Interview erläuterte er das Denken von Smotrich und Ben Gvir und bezeichnete es als „Mein Kampf, nur umgekehrt“. (Foto: Reuven Kopitchinski / Wikimedia Commons / CC0)

Moshe „Bogie“ Ya’alon, ehemaliger Generalstabschef der IDF, der auch als israelischer Verteidigungsminister diente, äußerte sich in einem Videointerview zu den Kräften, die in Israel die Macht übernehmen:

„Wenn Sie von Smotrich und Ben Gvir sprechen: Sie haben einen Rabbiner. Sein Name ist Dov Lior. Er ist der Rabbiner des jüdischen Untergrunds, die den Felsendom in die Luft sprengen wollten – und vorher die Busse in Jerusalem. Warum? Um den Start des ,Letzten Kriegesʻ zu beschleunigen. Haben Sie [nicht] gehört, wie sie über den Letzten Krieg sprechen; oder von Smotrichs Konzept der ,Unterwefungʻ? Lesen Sie den Artikel, den er 2017 in Shiloh publizierte. Zunächst einmal beruht das Konzept auf der jüdischen Vorherrschaft: Mein Kampf, nur umgekehrt.“

„Meine Haare stehen mir zu berge, wenn ich das so sage, wie er es gesagt hat. Ich wuchs in einem Haus von Holocaust- Überlebenden auf und habe dort gelernt: ,Nie wiederʻ. Es ist Mein Kampf, nur umgekehrt: jüdische Vorherrschaft: und folglich sagt [Smotrich]: ,Meine Frau würde nicht in einen Raum mit Arabern gehen.ʻ Es ist in der Ideologie verankert. Und dann strebt er tatsächlich an – so schnell wie möglich – in einen großen Krieg zu ziehen. Ein Krieg zwischen Gog und Magog (Anm. d. Red.: Die Nachfahren Magogs ließen sich im Norden Israels nieder. In Hesekiels Prophezeiung wird Gog der Anführer einer großen Armee sein, die das Land Israel angreift.). Wie startet man die Flammen? Ein Massaker wie 1994 in der Höhle der Patriarchen? Baruch Goldstein ist ein Schüler von diesem Rabbi. Ben Gvir hat Bilder von Goldstein [bei sich zu Hause] aufgehängt. Das ganze fließt in den Entscheidungsprozess der israelischen Regierung ein.“ (Anm. d. Red.: Goldstein war der Schütze bei dem Massaker in der Höhle der Patriarchen, auch bekannt als Ibrahimi Mosque Massaker oder Hebron Massaker und gehörte der rechtsextremen Ultra-zionistischen Kach Bewegung an.)

Rabbi Dov Lior wurde, wegen seines Einflusses und Kontrolle über die bewaffneten Siedler, von Netanjahu als die „Elite-Einheit, die Israel regiert“ beschrieben. Erleben wir die Wiedergeburt von Irgun, die sich 1948 stark auf die Mizrachim stützten? (Anm. d. Red.: Mizrachim: Juden aus dem Nahen Osten, Afrika und der arabischen Welt.) Wäre es nicht an der Zeit, dass die westlichen Herrschaftsstrukturen ihre Tagträumerei beenden und die Zeichen erkennen, die um sie herum sichtbar werden? Einige ernstzunehmende Player denken nicht so wie die Westler; sie streben nach Gog und Magog (Die Prophezeihung, dass die „Kinder Israels“ in der Schlacht von Armageddon siegreich sein werden [Anm. d. Red.: Die Schlacht von Armageddon wird auch Harmageddon genannt – Endzeitliche Entscheidungsschlacht Gottes.]). Das ist es, was man riskiert.

Quellen:

[1] X, Eric Weinstein, <https://twitter.com/EricRWeinstein/status/1818362582430007793>
[2] Axios, Barak Ravid, „A day of chaos in Israel as far-right protesters storm military bases“, am 29.07.2024, <https://www.axios.com/2024/07/30/israel-far-right-protesters-storm-military-bases>
[3] Haaretz, Bar Peleg, Eden Solomon, Chen Maanit undYaniv Kubovich, „IDF Moves Troops to Base Where Violent Mob Protested Arrest of Soldiers for Abusing Gaza Detainee“, am 30.07.2024, <https://www.haaretz.com/israel-news/2024-07-30/ty-article/.premium/idf-move-troops-to-base-where-mob-protested-arrest-of-soldiers-for-abusing-gaza-detainee/00000191-008a-d643-a1d1-b88eb6730001>
[4] X, Yossi Melman, am 29.07.2024, <https://x.com/yossi_melman/status/1818025099343327235>
[5] 972 Magazine, Baker Zoubi, „‘More horrific than Abu Ghraib’: Lawyer recounts visit to Israeli detention center“, am 27.07.2024, <https://www.972mag.com/sde-teiman-prisoners-lawyer-mahajneh/>
[6] 972 Magazine, Yuval Abraham, „‘Lavender’: The AI machine directing Israel’s bombing spree in Gaza“, am 03.04.2024, <https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/>
[7] The Times of Israel, Sam Sokol, „‘No more mercy’: Ministers celebrate Haniyeh’s killing though Israel officially mum“, am 31.07.2024, <https://www.timesofisrael.com/no-more-mercy-ministers-celebrate-haniyehs-killing-though-israel-officially-mum/>
[8] Haaretz, Editorial, „The Netanjahu State Has Lost Control of Israel’s Extreme Right“, am 30.07.2024, <https://www.haaretz.com/opinion/editorial/2024-07-30/ty-article-opinion/the-Netanjahu-state-has-lost-control-of-israels-extreme-right/00000191-000d-d76c-abf3-d26fa1c80000>