Wo sind eigentlich die Hooligans? – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (XII)
Veröffentlicht am: 11. Juli 2018
Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.
von Leo Ensel
„Ja, wo laufen sie denn?“1 Die klassische Frage aller Fragen ist mal wieder brennend aktuell.
Gemeint sind natürlich die brutalen russischen Hooligans, vor denen im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft in unseren Medien täglich gewarnt wurde. Irgendwie scheinen sie wie vom Erdboden verschluckt. Die wird Putin doch wohl nicht alle vorsorglich in den GULAG gesteckt haben? Schade, das wären originelle neue Opfer: Gewaltbereite russische Schlägerbanden als Opfer der repressiven russischen Staatsgewalt!
Diese Idee scheint Ihnen abstrus? Na, dann schauen wir uns doch nochmal an, wie vor der WM über die russischen Hooligans in unseren Qualitätsmedien berichtet wurde! Bei genauerem Hinsehen entdeckt man nämlich eine höchst merkwürdige Melange aus Panikmache und einem noch merkwürdigeren Verständnis für die Schlägerbanden.
Panikmache …
Die obligatorische Einstimmung lieferte eine Woche vor WM-Start ein ARD-Beitrag mit dem wenig originellen Titel „Putins Meisterwerk – Eine WM um Macht und Millionen“.2 Einer Fahrt durch die Geisterbahn gleich, startete der Film im russischen Underground, an einem dunklen anonymen Ort, „an dem Journalisten normalerweise nicht willkommen sind. Es spielen Bands aus der russischen Hoologanszene. Die Szene gilt als die derzeit härteste in Europa. Wo genau dürfen wir nicht sagen, Gesichter dürfen wir nicht zeigen. Das ist die Bedingung. Ausgehandelt über Monate.“
Mit einem angenehmen Gruseln im Bauch konnte der so eingestimmte Betrachter dann die dumpfe Selbstdarstellung des martialisch maskierten allzeit gewaltbereiten Hooligan „Oleg“ zur Kenntnis nehmen, die sogleich auch zu einem Crashkurs in Sachen ‚russische Seele‘ mutierte: „Es ist unser Geist. Der russische Geist aus uralten Zeiten. Damals waren unsere Männer Kämpfer und Versorger. Aber heute ist es schwer, ein echter Mann zu sein – ein Mann in diesem ursprünglichen Sinne! Überall wird nur geredet, wir haben den Sinn des Lebens verloren. Dafür musst Du Dich im Kampf messen. Das kannst Du auch in einem Krieg tun, aber die Kriege, die gerade laufen, damit kann ich nichts anfangen. Deswegen entscheide ich mich für diesen Lebensstil.“
Spätestens an dieser Stelle, die immerhin deutlich machte, dass selbst „Putins Kriege“ das anspruchsvolle Gewaltbedürfnis russischer Hooligans nicht mehr befriedigen können, dürften nicht wenige deutsche WM-Touristen mit dem Gedanken gespielt haben, ihre Tickets doch noch auf den letzten Drücker bei Ebay zu versteigern. Die Aussicht, als Ausländer irgendwo in den russischen Weiten plötzlich einem Hooligan bei der Suche nach dem Sinn des Lebens über den Weg zu laufen, war vermutlich nicht besonders attraktiv. – Aber es kam noch schlimmer!
Unmittelbar danach war nämlich Schluss mit dem Gerede und der mittlerweile stark eingeschüchterte Zuschauer durfte in seinem Fernsehsessel ehrfurchtsvoll die echten russischen Männer während der Europameisterschaft 2016 in Frankreich in ihrem dunklen Urväterdrange bestaunen: „Hetzjagden auch im Stadion. Die russischen Hooligans schlagen erbarmungslos zu. Über einhundert Verletzte!“ Logische Konsequenz: „Bilder wie in Marseille muss der WM-Ausrichter mit aller Macht verhindern. Prügelnde Fans wären eine Schmach für Putin!“
… und Mitgefühl
Auf den naheliegenden Gedanken, dass prügelnde Fans – die Rede war selbstverständlich nur von russischen Hooligans – nicht nur eine „Schmach für Putin“ bedeuten, sondern auch der Gesundheit zahlreicher in- und ausländischer WM-Touristen abträglich sein könnten, kamen die ARD-Journalisten bezeichnenderweise nicht! Statt dessen ein seltsamer Perspektivwechsel: „Die Hooligans sind im Focus. Oleg erzählt uns von Razzien und Überwachungen und hartem Durchgriff seitens der Staatsmacht.“ Es fehlte nicht viel, und man begann Mitleid zu empfinden mit dem von der Staatsmacht so hart verfolgten „Oleg“ und seinen Kumpanen, die ja schließlich, wie wir alle, nichts Anderes wollen, als sich selbst zu verwirklichen.
In die gleiche Kerbe schlug fünf Tage später auch Christina Hebel von Spiegel Online. Bereits Titel und Teaser ließen seltene Gefühle für eine unterdrückte Minderheit wachwerden: AUFSPÜREN, ABSCHRECKEN, EINBUCHTEN3. „Die Sicherheitsbehörden haben den Druck auf gewaltbereite Fans massiv erhöht – und die sind eingeschüchtert.“ Eine bemerkenswerte Inversion hatte sich offenbar in der Zwischenzeit ereignet: Eingeschüchtert war nun nicht mehr der einfältige Deutsche im Fernsehsessel, eingeschüchtert waren statt dessen die gewaltbereiten Hooligans selbst! Man traut seinen Augen nicht, aber – es muss hier in dieser Ausführlichkeit wiedergegeben werden – Frau Hebel schreibt tatsächlich folgendes: „Meistens rufen sie an, erzählt Aleksander. Manchmal kommen sie auch bei ihm zu Hause vorbei. Sie – das sind Vertreter der russischen Sicherheitsbehörden. Man hoffe, dass er sich gut benehmen werde, er wolle doch keine Probleme bekommen – solche Sätze müsse er sich anhören. Aleksander ist seit den Nullerjahren in der Szene, ihm gehe es darum, sich mit ebenbürtigen Hooligans konkurrierender ‚Firmen‘ zu messen, nicht auf normale Bürger einzuschlagen, sagt er. Aleksandr spricht von der Liebe zur Gewalt, von den Gefühlen, dem Adrenalin, die solche Wettkämpfe Mann gegen Mann freisetzen. Nun aber ließen die Sicherheitsbehörden den Hools kaum noch Freiraum für diese Art des Kräftemessens. Er klingt enttäuscht, die goldenen Zeiten, wie er die Nullerjahre nennt, seien vorbei.“
Das ist nun freilich eine Gemeinheit. Und nun raten Sie mal, wer hier wieder der Spielverderber ist! Es ist – wer sonst? – natürlich der russische Geheimdienst FSB. (Dass Frau Hebel ausgerechnet an dieser Stelle den Namen des russischen Präsidenten weggelassen hat, wo es sich doch so angeboten hätte, wird wohl auf ewig ihr Geheimnis bleiben!)
Die Qualitätsjournalistin als Hooligan-Versteherin
An Hebels Ausführungen überrascht zweierlei: Besonders fällt natürlich der empathische Ton auf, das bemerkenswerte Mitgefühl der Spiegel-Korrespondentin mit dem von der Staatsmacht so schäbig um sein Hobby geprellten Vertreter der russischen Hooliganszene. Und selbst wenn man sich vorsichtig an den befremdlichen Gedanken herangetraut hat, dass hier eine Qualitätsjournalistin offenbar zur Hooligan-Versteherin mutiert ist, wundert man sich immer noch sehr über die mangelnde Distanz in ihren Ausführungen. Gewalt – diese Assoziation drängt sich förmlich auf – ist anscheinend weniger schlimm, solange sie nicht normalen Bürgern gilt, sondern ausschließlich anderen Hooligans! Schließlich setzt sie ja Adrenalin, will sagen: Glücksgefühle, frei. Nach dieser Logik wären die Straßenschlachten zwischen russischen und englischen Hooligans von Marseille, die die ARD zur Abschreckung noch wenige Tage zuvor ausführlich über die Bildschirme flimmern ließ, also nichts als öffentliche faire Fights gewesen. Zwar nicht unbedingt legal, aber doch – zwecks Selbstverwirklichung – legitim! Ein Argumentationsmuster, das bislang eher aus Kreuzberger Autonomenkreisen oder vom Prenzelberg zu vernehmen war.
Auf diese Weise von Christina Hebel auf die richtige Spur gebracht, kann man über die Repressalien, denen der russische Hooligan von Seiten der Staatsmacht ausgesetzt ist, nur noch aufrichtig empört sein: Drohanrufe und unangemeldete Besuche von Polizei und FSB. Gefährderansprachen. Verweigerung der für ein WM-Ticket benötigten Fan-ID. Der aufrechte Kämpfer muss leider draußen bleiben. Vermutlich steht er sogar auf einer Stadionverbotsliste! Kein Wunder, dass er anonym bleiben – „Aleksander“ ist ein Pseudonym – und den Namen seiner Hoolgruppe nicht nennen will. Als verantwortungsvolles Familienoberhaupt muss er schließlich Frau und Kinder schützen! Und nicht nur ihm geht es so: „Viele Mitglieder der Hooliganszene haben Angst, ihre Arbeit zu verlieren, viele haben gute Jobs und Familie.“
So langsam kommt man ins Grübeln. Wie kommt es, dass eine Journalistin, der sonst nicht die geringste Schikane in „Putins Reich“ entgeht, die immer mit mit allen Opfern subtilster Gewalt solidarisch ist und bei jeder Ungerechtigkeit Alarm schlägt, sich zu einer solchen Distanzlosigkeit gegenüber Leuten hinreißen lässt, die das krankenhausreife Zusammenprügeln Anderer in aller Öffentlichkeit als ihr legitimes Hobby betrachten?
Ist es die emotionale Nähe zu unterdrückten Minderheiten? Ist es der Druck, regelmäßig in eng getakteten Abständen einen Text abliefern zu müssen? Hat sie vielleicht von ihrer Redaktion den Auftrag, nahezu sämtliche Entäußerungen der russischen Staatsmacht negativ zu kommentieren?
Halten wir fest: Die russischen Hooligans haben während der WM bislang gestreikt. Die ausländischen übrigens auch. Sollte die russische Staatsmacht da im Hintergrund nachgeholfen haben, kann man ihr zu diesem Erfolg nur gratulieren. Anstelle von Straßenschlachten herrscht Big Party – selbst wenn der Gastgeber verliert! Die WM in Russland ist tatsächlich ein Sommermärchen, das im Westen so niemand erwartet hatte. Für die meisten Menschen ein Anlass zur Freude.
Und die russischen Hooligans? Ja, wo laufen sie denn?
Offensichtlich abseits von Putins WM!