„Wir machen Euch ein Angebot, das Ihr ablehnen könnt!“ – Das Ultimatum der USA zum INF-Vertrag

Veröffentlicht am: 18. Januar 2019

Bei den Genfer Gesprächen über das Schicksal des INF-Vertrages setzen die USA als Faktum voraus, was erst plausibel verifiziert werden müsste. Wer auf dieser wackligen Argumentation auch noch Ultimaten aufbaut, strebt in Wahrheit das Scheitern der Verhandlungen an.

von Leo Ensel

Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Der Politologe Christian Wipperfürth hat sie kürzlich in einer ausgezeichneten Analyse1 der Krise des INF-Vertrages folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

Zusammengefasst lautet die amerikanische Botschaft an Russland und die NATO-Verbünde­ten: ‚Glaubt uns, dass die Raketenabwehranlagen in Rumänien nicht offensiv genutzt werden können, dem INF-Vertrag also nicht widersprechen.‘ Den NATO-Partnern erklären die USA: ‚Glaubt uns, dass die Russen den Vertrag verletzen.‘ Die Botschaft Moskaus an den Westen wiederum lautet: ‚Glaubt uns, dass unsere neuen Marschflugkörper vertragskonform sind.‘“

Glaubensfragen

That‘s it – darum geht der ganze Streit! Die Sache ist nur leider die, dass 99,9% aller Zeitgenossen auf diesem Globus nicht die geringste Möglichkeit haben, die Behauptungen der USA und Russlands zu überprüfen. Obwohl sie im Worst Case die prospektiven Opfer einer erneuten ungehemmten atomaren Aufrüstungswelle im Kurz- und Mittelstreckenbereich wären. Das Ganze läuft also auf reine Glaubensfragen hinaus: Jeder wird der Seite vertrauen, zu der er – aus welchen Gründen auch immer – eine stärkere Affinität hat.

Natürlich kann hier eine Supermacht, die noch 2003 mit Fake News über angebliche Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins unser Land in einen Angriffskrieg gegen den Irak hineinziehen wollte und im Jahre 1991 ihr, wie es so schön heißt, Engagement in Kuweit unter anderem mit der berühmt-berüchtigten Brutkastenlüge flankierte, nicht unbedingt einen Vertrauensvorschuss geltend machen. Zumal der russische Vorwurf an die USA, das angeblich rein defensive Aegis-Raketenabwehrsystem könne lediglich durch Veränderung der Software in ein Offensivsystem verwandelt werden, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Angaben, mit denen der Produzent von Aegis sein Produkt ungeniert offiziell bewirbt2, an Plausibilität gewinnt. – Aber schieben wir das alles für einen Moment zur Seite!

Verhandeln, verhandeln, verhandeln!

Spielen wir aus analytischen Gründen mal den Advocatus Diaboli und nehmen wir an, Russland hätte mit seinen neuen Marschflugkörpern 9M729 (NATO-Code SSC-8) tatsächlich den INF-Vertrag verletzt. Würde der NATO dann wirklich nur der Pawlow‘sche Reflex übrig bleiben, den INF-Vertrag zu kündigen, wie Generalsekretär Stoltenberg kürzlich forsch verlauten3 ließ? Mitnichten!

Jeder, der ernsthaft entschlossen wäre, alles zu tun, um ein neues Wettrüsten zu verhindern, würde eine andere Option favorisieren: Verhandeln, verhandeln, verhandeln! Wer wirklich an Deeskalation interessiert wäre, würde sich um penibelste Kontrollmaßnahmen wie z.B. direkte Inspektionen vor Ort bemühen – und seinerseits ‚Glasnost‘ anbieten! Diese Strategie ist zumindest auf Seiten von USA und NATO derzeit nicht erkennbar.

Statt dessen hat die NATO, wie – man traut seinen Ohren nicht – Regierungssprecherin Adebahr am 17. Januar verkündete4, einmütig beschlossen, dass Russland den INF-Vertrag verletzt hat. Damit könnte sie sogar unfreiwillig die Wahrheit gesagt haben! Denn de facto präjudiziert die NATO, was erst verifiziert werden müsste. Und stellt auf dieser Basis knallharte Forderungen. Mit anderen Worten: Die Strategie von USA und NATO für die Genfer Gespräche läuft auf den bewährten Satz „Wir machen Euch ein Angebot, das Ihr ablehnen könnt, nein: sollt!“ hinaus. Dass Russland sich hier fügen würde, war ja wohl nicht ernsthaft zu erwarten. Dass Trump den Vertrag vor Ablauf der offiziellen Verhandlungen schon mal kündigen5 würde, umso mehr!

Was nun?

Die allerletzte Chance

Christian Wipperfürth sieht noch eine allerletzte Chance6. In der Zeitspanne von einem halben Jahr, die noch zwischen der offiziellen Kündigung und dem tatsächlichen Vertragsauslauf verbleibt, solle intensiv für wechselseitige Inspektionen geworben werden. Deutschland, das seit dem 1. Januar für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat sitzt, könne diesen Prozess unterstützen und nach den Regeln des „Open Sky“-Vertrages Überflüge über den Stationierungsorten der betreffenden russischen Marschflugkörper beantragen, zu denen auch amerikanische und polnische Offiziere eingeladen werden könnten. Zu einer unabhängigen Lageeinschätzung könnten auch neue von Deutschland entwickelte leistungsfähige Aufklärungssatelliten beitragen. Deutschland müsse Druck im Hinblick auf die von Außenminister Maas angekündigte Initiative zur Rüstungskontrollpolitik und Steinmeiers Abrüstungsinitiative aus dem Jahre 2016 aufbauen und zusätzlich auf die Aufnahme des von der NATO am 4. Dezember 2018 beschlossenen „Dialogs mit Moskau“ in Gestalt substanzieller Treffen des NATO-Russland-Rates drängen.

Ich würde ergänzen: Deutschland muss zugleich Druck auf die USA ausüben, alles zu tun, um den russischen Verdacht, das angeblich rein defensive Aegissystem könne auch offensiv verwendet werden, auszuräumen. Sollten die USA dazu nicht bereit sein, wäre Deutschland verpflichtet, sich in allen Kontexten vehement für einen Stop des gesamten amerikanischen Raketenabwehrsystems in Osteuropa einzusetzen.

Der weitere Verlauf der Ereignisse wird demnach nicht unwesentlich von Deutschland, will sagen: von Außenminister Maas abhängen. Hoffnungsvoll stimmt immerhin, dass dieser sich vor einigen Tagen gegen eine neue nukleare Aufrüstung in Europa ausgesprochen hat.7 Er hat dies nicht zuletzt mit dem zu erwartenden breiten Widerstand in der Bevölkerung begründet.

Stärken wir also Maas den Rücken, indem wir ihm ordentlich Dampf machen!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.