„Wie man ein mieses Spiel glücklich gewinnt“ – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (XIII)
Veröffentlicht am: 13. Juli 2018
Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.
von Leo Ensel
Kennen Sie den? Sitzen zwei Pferde auf dem Baum und stricken Benzin. Sagt das eine zum anderen: „Morgen ist Weihnachten!“ Antwortet das andere: „Mir doch egal, ich geh eh nicht hin!“
Sie fragen sich, was das mit der WM in Russland bzw. der Berichterstattung darüber zu tun haben soll? Wenn Sie sich am 10. Juli die „Kritische Bilanz“ der ARD-Sportschau1 samt Einspieler von Philipp Sohmer angetan hätten, würden Sie verstehen, was ich meine!
Steckt sich Diego Maradona im Moskauer Spartak-Stadion trotz Rauchverbots genüßlich eine Zigarre an, zeigt er der Welt in Petersburg gar den Stinkefinger, kommen – Vorsicht: Eurozentrismus!! – keine Mannschaften aus Afrika, gar Südamerika mehr ins Halbfinale, wer ist daran schuld? – Ja, genau! Aber nicht nur dieser Präsident, sondern auch sein bester Freund, der Präsident der FIFA.
Wenn Ihnen nun immer noch der Kopf raucht und Sie verzweifelt nach einer plausiblen logischen Verknüpfung suchen – keine Angst: Sie sind noch nicht verrückt! Collegium Logicum scheint nun mal nicht auf dem Ausbildungsplan deutscher Qualitätsjournalisten zu stehen. – Aber der Reihe nach.
Nach dem Halbfinalspiel Frankreich-Belgien versuchten sich Matthias Opdenhövel und Alexander Bommes zusammen mit ihren Gästen Hannes Wolf und Thomas Hitzlsperger an einer ersten kritischen Bilanz der WM in Russland. Keine Frage, dass als erstes die Stichworte kamen, ohne die keine Russlandberichterstattung derzeit auskommt: „Politische Isolation, Russlands Staatsdoping, Korruption beim Stadionbau, Menschenrechte, Hooligans – all das, ne, das war ne große Palette!“ Aber trotz dieser großen Palette kam Bommes nicht umhin, gequält zugeben zu müssen: „Unterm Strich hat die Durchführung hier sehr gut geklappt!“ (Hier? Befanden sich die vier nicht im Fernsehstudio in Baden-Baden? Aber lassen wir das!)
Von dem nun folgenden Einspieler hätte man in einem Qualitätsmedium mit Fug und Recht eine genaue Gegenüberstellung der ursprünglichen Erwartungen und Befürchtungen mit dem realen Verlauf der WM erwarten können. Hätte man! Denn spätestens beim Namen Philipp Sohmer war klar, was da kommen musste.
Wie man die Quadratur des Kreises schafft
Vielleicht werden künftige Journalismus-Studenten den Film mal als Lehrstück zum Thema „Wie man einen Erfolg raffiniert in einen Misserfolg umdeutet“ unter die Lupe nehmen. Es begann mal wieder, wie Sohmers Einstimmungsfilm2 vier Wochen zuvor, mit dramatischer Musik, die als Endlosschleife während der ganzen Zeit im Hintergrund lief und ebenso pathetischen wie banalen Worten im theatralischen Tonfall: „Der Ball. Zieht alle in seinen Bann! Das Spektakel lässt vieles vergessen.“ (Kurze, einen dunklen Spekulationsraum eröffnende Filmsequenz: Putin und Infantino auf der Tribüne.) „Und einen strahlen. Diese WM – ein Volltreffer für den Präsidenten.“ Nein, falsch geraten: Nicht dieser, sondern der andere! Irritierenderweise ist es nämlich auf einmal Gianni Infantinos Weltmeisterschaft.
Nun mag ja die FIFA, wie das IOC, ein mieser, durch und durch korrupten Mafiaklub sein – dass sich in Russland aber gerade ein Sommermärchen abspielt, das zahllose Menschen auf der ganzen Welt in seinen Bann zieht; dass alles bislang perfekt geklappt hat; dass keine der vielen Befürchtungen eingetroffen ist: keine Hooligan-Schlachten, keine Schwulenhatz, noch nicht mal ein islamistischer Terroranschlag, all das ist ebenfalls unbestreitbar! Und unzweideutiger Verdienst von FIFA und Gastgeberland, wie auch immer man sonst zu beiden stehen mag. Was tun, Herr Sohmer?
Die Lösung des ARD-Korrespondenten ist elegant: Er zählt die unbestreitbaren Verdienste der Organisatoren auf – allerdings im süffisanten Tonfall. Der zusammen mit der dramatischen Musik im Hintergrund signalisiert: Hahahaaa, alles nur ein Fake! Wenn sich nun der Trainer von Uruguay und Lothar Matthäus für eine der besten Weltmeisterschaften, die sie je erlebt haben, bedanken, erweisen sie sich als das, was sie in den Augen der Zuschauer ja sein sollen: Als nützliche Idioten von Präsident und Präsident!
Hat man den Zuschauer derart konditioniert, gelingt die Quadratur des Kreises: Man kann Bilder von prügelnden Hooligans zeigen – und gleichzeitig berichten, dass es keine Hooliganschlachten gab! Man kann einen indischen Menschenrechtsaktivisten gegen Rassismus und Homophobie präsentieren – und zugleich ein mulmiges Gefühl erzeugen: „Doch Diskriminierung, derzeit kaum Thema! Die WM-Party läuft ungestört. In den Städten und in den penibelst überwachten Stadien.“ Schnitt: Feiernde Fans in der Metrostation Komsomolskaja, dann die Überwachungskameras im Fußballstadion. Irgendwie weiß man nicht richtig, ob man erleichtert oder beunruhigt sein soll!
„Sogar die vorher vielkritisierte Einführung des Videoschiedsrichters funktioniert!“ Sogar. Ist das jetzt gut oder schlecht? „Dass Europa auf dem Platz dominiert, der Rest der Welt immer weiter abgehängt wirkt – nur ein Haar in der Suppe!“ Da kommt man ins Stutzen. Wer ist nun daran wieder schuld? Infantino? Putin? Die EU? Vielleicht sollte man für die kommenden Weltmeisterschaften eine Afrikaquote für das Halbfinale einführen! – Immer noch die dramatische Musik im Hintergrund. „Dass die hochbezahlte Fifa-Legende Diego Maradona mehrfach aus der Rolle fällt, gar die Fifa heftig angeht – nicht so wild! Wer wird denn gleich kleinlich werden!“ Auch hier drängt sich unweigerlich die Schuldfrage wieder auf. Hätte der FSB Maradona die Zigarre rechtzeitig aus dem Mund nehmen und ihm den Stinkefinger zurechtbiegen sollen? Aber das hätte man Putin sicher negativ ausgelegt. Schwierig, schwierig!
„Der Ball verzeiht so vieles“
Bis sich plötzlich der Sinn von allem erschließt. Der Satz: „Wer wird denn gleich kleinlich werden?“ erweist sich nämlich als raffinierte Überleitung zum eigentlichen Thema: „Bei anderen Dingen schaut man ja auch nicht so genau hin!“ Also Kadyrov und die weiterhin in russischen Gefängnissen einsitzenden politischen Gefangenen. Conclusio, auf die Sohmer dreieinhalb Minuten gezielt hingesteuert hatte und immer noch mit pathetischer Musik: „Der Ball. Verzeiht so vieles. Man kann auch ein mieses Spiel am Ende glücklich gewinnen!“
Geschafft! Wie gesagt: Ein Meisterstück in Sachen Demagogie. Chapeau, Herr Sohmer!
Dass anschließend die weniger eloquenten Sportschaujournalisten und ehemaligen Fußballer dagegen deutlich abfielen; dass sie sich permanent in widersprüchlichen Plattitüden verloren; dass Bommes mit den Drohnen etwas durcheinander kam; dass Hitzelsperger Russland summarisch als Land bezeichnete, das „viele Verbrechen begangen“ habe; dass Bommes auch nicht weiß, was das Wort „Bigotterie“ genau bedeutet – geschenkt! Wer wird denn gleich kleinlich werden? Ehemalige Sportler sind nun mal keine Professoren.
Halten wir uns statt dessen an den Ausblick Hannes Wolfs auf die nächste WM in Katar: „Mal gucken, wie es dann ist. Ob der Fußball dann wieder gewinnt und man trotzdem da sitzt und es guckt.“ Genau.
Na dann: Schaun wir mal!