Wenn der Dieb „Haltet den Dieb!“ schreit – Röttgen, Russland und die Kündigung des INF-Vertrags

Veröffentlicht am: 7. Februar 2019

Die Verdrehung der Fakten erreicht bei einigen Politikern mittlerweile Orwell‘sche Ausmaße. Nachdem die USA letzte Woche als Erste den INF-Vertrag kündigten, bezichtigt nun der Transatlantiker Norbert Röttgen Russland, den Vertrag aus reinem Machtstreben verlassen zu haben.

von Leo Ensel

Wissen Sie was Chuzpe ist? „Chuzpe“ ist ein Wort aus dem Jiddischen und bezeichnet ein Maß an Unverfrorenheit und Unverschämtheit, das „dem Fass den Boden ausschlägt“, wie eine andere Redewendung besagt. Klassisches Beispiel ist der Elternmörder, der vor Gericht auf mildernde Umstände plädiert, da er ja schließlich Vollwaise sei.

Ähnliche Assoziationen drängen sich einem fast zwangsläufig auf, wenn man folgende, am Donnerstagmorgen stündlich verbreitete Nachricht1 des Deutschlandfunk hört: Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Röttgen, hat Russland vorgeworfen, den Abrüstungsvertrag INF aus reinem Machtstreben verlassen zu haben. Sich an keine Regeln mehr zu halten, sei die neue russische Positionierung, sagte Röttgen im Deutschlandfunk. Der Vertrag über eine bestimmte Kategorie von Nuklearwaffen passe nicht mehr in die russische Interessenlage und werde deshalb über Bord geworfen.“

Auch wenn das Gedächtnis der meisten Medien-User reichlich kurz ist und es bekanntlich nichts Veralteteres gibt als eine Zeitung von gestern, so sei doch daran erinnert, dass derjenige, der am Freitag vergangener Woche – und zwar noch einen Tag vor Ablauf der offiziellen Verhandlungsfrist – den INF-Vertrag kündigte, US-Präsident Donald Trump war! Russland setzte daraufhin einen Tag später den INF-Vertrag ebenfalls aus. Als Reaktion auf die amerikanische Vertragskündigung, wohlgemerkt!

Aber mit soviel Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung scheint man im Deutschlandfunk schon gar nicht mehr zu rechnen. Die Diskussionsveranstaltung des Senders von Mittwochabend, der die in den Nachrichten verbreitete Äußerung Röttgens entnommen wurde, hatte denn auch bezeichnenderweise „Russland und der INF-Vertrag – Geopolitik einer Großmacht“2 gelautet. Dass die USA vielleicht auch noch irgendetwas mit dem INF-Vertrag zu tun haben könnten, das wurde schon durch die Themenvorgabe stillschweigend ausgeblendet.

Insofern war dem Transatlantiker Norbert Röttgen das Stichwort vom DLF bereits vorgegeben worden. Wenn dieser nun, ohne das vorausgegangene Verhalten der USA auch nur zu erwähnen, die Kündigung des INF-Vertrages durch Russland ausschließlich mit dessem angeblichen Machtstreben begründet, so verhält er sich wie der berühmte Dieb, der, in flagranti ertappt, lauthals „Haltet den Dieb!“ schreit. Die schamlose Frechheit dieser Inversion von Ursache und Wirkung ist unüberbietbar.

Ein bekannter Demagoge hat mal, aus dem Nähkästchen plaudernd, sinngemäß gesagt: „Je dreister die Lüge, desto eher wird sie geglaubt!“ Und ich weiß auch nicht, was es bedeuten soll, dass dieses Wort aus gar nicht so uralten Zeiten mir nicht aus dem Sinn geht …

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.