Über die Kultur der öffentlichen Erregung in Deutschland

Veröffentlicht am: 29. Mai 2018

Grünalternative Politiker erregen sich, im Verbund mit den Qualitätsmedien, gerne öffentlich. Besonders wenn es um Russland geht. Lieblingsopfer des deutschen Moralexhibitionismus: Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

von Leo Ensel

Wenn sich in Deutschland Politiker*innen und Journalist*innen – vorwiegend linksgrünalternativer Couleur – öffentlich erregen, dann hat das natürlich niemals etwas mit Erotik zu tun. So etwas wäre tief unter dem Niveau der öffentlich Erregten. Man erregt auch kein öffentliches Ärgernis, sondern man erregt sich öffentlich über von Anderen begangene Ärgernisse. Will sagen, die öffentliche Erregung ist in Deutschland, wie vieles Andere auch, eine hochmoralische Angelegenheit! Und Grundlage der öffentlichen Erregung ist stets die gefühlte moralische Überlegenheit des oder der Erregten.

Deshalb bedarf es zur öffentlichen Erregung immer auch eines Bösewichtes.

Kürzlich traf es, mal wieder, Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Sein Verbrechen: Während der offiziellen Amtseinführung von Präsident Putin war er im Andreassaal des Kreml anwesend, wo er „nur wenige Meter von Putin entfernt in der ersten Reihe, eingerahmt von dem Patriarchen Kyrill, Vertreter der staatsnahen orthodoxen Kirche, und Premier Dmitrij Medwedew“1 saß. Als wäre das nicht schon skandalös genug, ließ sich Schröder auch noch dazu herbei, als einer der Ersten, „noch vor Medwedew“, Putin die Hand zu schütteln!

Die GRÜNEN brüsten sich

So etwas gehört natürlich gerügt und diesen Job übernahmen dankbar nahezu alle deutschen Qualitätsmedien sowie – wie immer, wenn es darum geht sich moralisch zu brüsten – die GRÜNEN. Deren Bundesvorsitzende Annalena Baerbock rügte postwendend den „Claqueur in der ersten Reihe“, der es versäumt habe, die „Mängel bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland klar und deutlich anzusprechen“2. Wozu ja anlässlich Putins Amtseinführung im Andreassaal auch ausgiebigst Gelegenheit war. Zumindest hätte er seinem Dutzfreund beim Handshake clandestin zuflüstern können: „Herzlichen Glückwunsch zur vierten Amtsperiode, Wolodja! Aber das mit den Verhaftungen von Nawalny & Co. wollen wir doch künftig lassen – oder?“ Aber vielleicht hat er es ja sogar gemacht und niemand hat‘s mitgekriegt?

Jedenfalls appellierten die GRÜNEN sofort an die Bundesregierung, – wem? Schröder? Putin? der deutschen Öffentlichkeit? – „klarzumachen, was die europäischen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit seien. Man könne nicht einerseits Moskau wegen Putins Politik auf der Krim und in Syrien mit Sanktionen belegen und andererseits eine Prestige-Pipeline wie die Gasleitung Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland politisch unterstützen.“

Nein, natürlich nicht! Schon gar nicht, wenn die mit LNG beladenen amerikanischen Tanker bereits in den Startlöchern stehen.

Zurück zu unserem Ex-Bundeskanzler, dem wir es immerhin verdanken, dass Deutschland sich der von den USA angeführten Koalition der Willenlosen im Krieg gegen den Irak verweigerte. Der von der erregten Qualitätsjournalistin Christina Hebel flott „Putins Hofstaat“ einverleibte Gerhard Schröder erträgt es gelassen, wenn er mal wieder zum Lieblingsopfer deutscher Moralexhibitionisten stilisiert wird. Und wirkt nebenbei noch in aller Stille bei der Freilassung von politischen Gefangenen wie Deniz Yücel, Peter Steudtner und anderen mit. Wer weiß, ob wir nicht nochmal froh sein werden, über ihn einen direkten Draht in den Kreml zu besitzen!

Aber darüber könnte sich ja niemand erregen.

PS:

Seltsam nur, dass diesmal gar nichts von einer gewissen Europa-Dame aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg zu hören war! Aber vielleicht hatte die sich ja zuletzt bei ihrer Erregung über die Fußballweltmeisterschaft in Russland zu sehr verausgabt.3

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.