Über die Aktualität des Neuen Denkens

Veröffentlicht am: 12. Dezember 2018

Seit dem Atombombeneinsatz in Hiroshima ist die Menschheit als ganze tötbar. Das aus dieser Erkenntnis folgende Neue Denken rückte daher das Überleben der Menschheit ins Zentrum des politischen Handelns. Heute ist eine Renaissance notwendiger denn je.

von Leo Ensel

„Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert – nur nicht unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe ohnegleichen zu. Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ Dies schrieb am 24. Mai 1946 kein Geringerer als Albert Einstein, der seinerseits an der „entfesselten Kraft des Atoms“ – vorsichtig gesprochen – nicht ganz unschuldig war.

Es sollte noch fast ein Jahrzehnt dauern, bis namhafte Intellektuelle begannen, die Forderung Einsteins einzulösen, sprich: die Folgen der Erfindung der Atombombe für die Menschheit, ja für den gesamten Planeten konsequent zu durchdenken und präzise auf den Begriff zu bringen. Einer der ersten war der Philosoph Günther Anders, der Mitte der Fünfziger Jahre drei Epochen der Menschheitsgeschichte unterschied: Bis zur Entwicklung der Liquidationsanlagen der Nazis hatte der klassische Satz „Alle Menschen sind sterblich“ gegolten. Dieser Satz war durch die Tötungsmaschinerien in den Vernichtungslagern zur zynischen Formel „Alle Menschen sind tötbar“ gesteigert worden. Mit dem Einsatz der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki war selbst dieser boshafte Satz bereits antiquiert. Die finale Klimax lautet seitdem und für alle kommenden Zeiten: „Die Menschheit als ganze ist tötbar.“

Was alle treffen kann, betrifft uns alle

Seit dem 6. August 1945, dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima, steht also nichts weniger als das Überleben der Menschheit selbst auf dem Spiel, die sich durch dieses Epochenereignis als Menschheit – wenn auch modo negativo – überhaupt erst konstituiert hat. Günther Anders: „Denn eines hat sie erreicht, die Bombe: ein Kampf der Menschheit ist es nun. Was Religionen und Philosophien, was Imperien und Revolutionen nicht zustandegebracht haben: uns wirklich zu einer Menschheit zu machen – ihr ist es geglückt. Was alle treffen kann, das betrifft uns alle. Das stürzende Dach wird unser Dach. Als morituri [zum Tode Verurteilte] sind wir nun wir. Zum ersten Male wirklich.“1

Die Konsequenz: Da radioaktive Wolken sich um Militärbündnisse, Machtblöcke und Landesgrenzen einen Dreck scheren und da die heutigen genetischen Mutationen alle kommenden Generationen mitaffizieren, ja die Vernichtung der Menschheit heute sämtliche ungeborenen Generationen mitvernichten würde, gibt es nur noch ‚Nächste‘: im Raum und in der Zeit. Erstmals in der Geschichte der Menschheit gibt es tatsächlich ein alle Klassen-, Religions- und andere Gegensätze überwölbendes Menschheitsinteresse: das Weiterleben als Gattung. Diese Erkenntnis zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt zu machen und daraus die notwendigen Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen, ist die Maxime des Neuen Denkens.

Friedensbewegung im Westen – Gorbatschow im Osten

Es sollte noch weitere Jahrzehnte dauern, bis das Neue Denken mit seinen grundlegenden Momenten – Priorität der allgemein menschlichen Interessen als Voraussetzung zur Befriedigung aller übrigen Interessen, Bekämpfung der menschheitsbedrohenden Gefahren (Massenvernichtungsmittel, ökologische Katastrophe) und Verzicht auf Gewalt – endlich die Ebene der Politik erreichte. In den Achtziger Jahren betrat es in Gestalt von zwei Akteuren die weltpolitische Bühne: in Westeuropa als Friedensbewegung, die, in Reaktion auf die drohende Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, mit der Forderung „Einer muss anfangen, aufzuhören!“ den Ausstieg aus der Logik des Wettrüstens postulierte und sich sehr schnell als Bewegung für das Überleben der Menschheit überhaupt begriff – und im Osten in Gestalt des sowjetischen Parteivorsitzenden Michail Gorbatschow und seiner Administration.

Ausgehend von der Tatsache, „dass die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte sterblich geworden ist und der Charakter der modernen Waffen keinem Staat mehr Hoffnung lässt, sich allein mit militärtechnischen Mitteln, und sei es der allerstärksten, zu verteidigen“2, gelangte Gorbatschow zu einer Konsequenz, die bis in die Formulierung hinein an Egon Bahrs Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ anklang: „Unter den heutigen Bedingungen kann die Sicherheit, vor allem der atomaren Großmächte, nur gegenseitig und – im globalen Rahmen – nur allumfassend sein.3 Die Politik der Stärke hat sich grundsätzlich überlebt.“ Daraus folgte für ihn das Primat der Politik, sprich: Verhandlungen, Verzicht auf die Methode des ‚Nullsummenspiels‘ (mein Gewinn ist dein Verlust) und der Mut, eine Menschheitsvision in ein konkretes Ziel politischen Handelns zu verwandeln: „Der einzig richtige Weg ist die Beseitigung der Atomwaffen, die Reduzierung und Begrenzung der Rüstung überhaupt.“ Am 15. Januar 1986 war die politische Sensation perfekt: Der damalige Generalsekretär der KPdSU verlas eine Erklärung, die in konkreten und realisierbaren Teilinitiativen den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 wies.

In der Retrospektive hat Gorbatschow immer wieder betont, dass seine Politik des Neuen Denkens nicht als gigantische Kopfgeburt am Schreibtisch entstand, sondern im Wechselspiel mit der praktischen Politik Schritt für Schritt entwickelt, modifiziert, umgesetzt und weiterentwickelt wurde. Neues Denken und Neues Handeln bedingten sich gegenseitig. Und weil diese Politik mit Hochdruck und konsequent von der Sowjetunion vorangetrieben wurde, gelangen dieses Mal echte Erfolge auf dem Gebiet der Abrüstung: Der gemeinsamen Erklärung mit Ronald Reagan, ein Atomkrieg könne niemals von einer Seite gewonnen, dürfe daher auch niemals begonnen werden und keine Seite dürfe militärische Vorherrschaft anstreben, folgten u.a. das Totalverbot landgestützter nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen, die Verringerung strategischer Atomraketen und die Vernichtung von insgesamt 80% aller Atomsprengköpfe weltweit.

Zweitausendfünfhundertmal ein II. Weltkrieg

Wir haben es alle seit dem Ende des (ersten?) Kalten Krieges schnell vergessen und wieder gut verdrängt: Bei allen Abrüstungserfolgen in Qualität und Quantität reichen auch die verbliebenen atomaren Sprengköpfe nach wie vor für den mehrfachen Overkill! Der Einsatz von nur fünf Prozent aller Atombomben weltweit könnte den gesamten Planeten unbewohnbar machen.4 Die Menschheit ist also auch jetzt noch in der Lage, unseren Globus ganze zwanzigmal zu vernichten. Die weltweit vorhandenen über 15.800 Atomsprengköpfe verfügen über ein Zerstörungspotenzial von 7.500 Megatonnen TNT, was einer Tonne Sprengkraft für jeden Menschen oder der Waffenwirkung von 2.500 Zweiten Weltkriegen entspricht.

Das Erbe des Neuen Denkens wird gerade fahrlässig an die Wand gefahren, die Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsverträge, die das Ende des Kalten Krieges ermöglicht hatten, stehen auf der Kippe oder sind bereits gekündigt, Atomsprengköpfe werden ‚modernisiert‘, kurz: Ein unkontrolliertes atomares Wettrüsten auf allen Ebenen und in mehreren Weltregionen zugleich wird immer wahrscheinlicher.

Wenn es überhaupt eine Aussicht auf Abhilfe geben soll, dann wäre die erste Konsequenz, diese Tatsachen, so alarmierend sie sein mögen, endlich wieder zur Kenntnis zu nehmen und im allgemeinen Bewusstsein von Politikern und Bevölkerungen der direkt und mittelbar betroffenen Länder – also aller! – zu verankern. Eine Rückbesinnung auf die Prinzipien des Neuen Denkens ist not-wendiger denn je! Daher nochmal und sei es zum hundertsten Male:

Ein Atomkrieg kennt keinen Gewinner, sondern ausschließlich Verlierer. Entweder wir schaffen die Atombombe ab oder die Atombombe schafft uns ab! Wer den Frieden will, der muss – in Abwandlung des klassischen lateinischen Sprichwortes – den Frieden vorbereiten.

Sollte sich die Politik der neuen Eskalation weiter verschärfen und ihr ‚von unten‘ kein Druck entgegengesetzt werden, dann droht in letzter Konsequenz nichts weniger als – Globozid! Sei es militärisch via Massenvernichtungsmittel oder ‚friedlich‘ als Klimakatastrophe. Resignation oder Trägheit können wir uns nicht leisten. Nach wie vor gilt Einsteins Ermahnung: „Bloßes Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Kriege führt.“

In diesem Sinne also.

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.