„Shadow Kingdom“ – oder: Nichts ist so, wie es scheint

Veröffentlicht am: 21. Juli 2021

Am 18. Juli hatte Bob Dylan seinen ersten Auftritt seit der durch Corona bedingten Unterbrechung seiner Neverending Tour vor anderthalb Jahren. Und zwar als „Online Show“ im World Wide Web. Es wurde mal wieder eine Überraschung. Eine sehr angenehme.

von Leo Ensel

Bereits der erste Akkord ist ein Fake. Und zwar ein so offensichtlicher, dass er sofort als solcher erkennbar ist. Ganz augenscheinlich erkennbar sein soll! Bob Dylan, den man im Hintergrund – das hat er schon lange nicht mehr gemacht – auf einer kleinen Bühne in intimem Ambiente Gitarre spielen sieht, bläst in keine Mundharmonika. Obwohl die das Intro dominiert.

Und damit ist auch für diejenigen, die den halbminütigen ‚Appetizer‘1, der einige Wochen zuvor vorab veröffentlicht wurde – ein Ausschnitt aus „Watching the River Flow“ – nicht kennen, gleich klar, dass es sich hier nicht um ein Livekonzert handelt. Der Veranstalter hatte das Event2 mit dem mysteriösen, an den antiken Hades erinnernden Namen „Shadow Kingdom“, sicherlich nicht gegen Dylans Willen, mehrdeutig als „Online-Show“ angekündigt.

Es ist wieder mal wie immer bei Bob Dylan: Nichts ist, wie es scheint! Der Meister der vieldeutigen Vexierspiele liebt es immer noch, die Welt zu foppen. Und das macht er ein weiteres Mal ausgezeichnet. Diesmal nicht zuletzt mit einem permanenten unterschwelligen Augenzwinkern.

Im „Film Noir“

Schon optisch fühlt man sich um 70 bis 80 Jahre zurückversetzt. Die Spelunke, in der Dylan mit seiner völlig neuen Band sein erstes ‚Live‘-Konzert seit über anderthalb Jahren Covid-bedingter Unterbrechung gibt, scheint einem Film der berühmten „Schwarzen Serie“ entsprungen. Bereits die schamlos opulente Raucherei in diesem ausschließlich schwarz-weiß gehaltenen „Königreich der Schatten“ ist eine Provokation. Qualmschwaden durchnebeln permanent die Luft, das geschätzte Dutzend der leicht abenteuerlich aussehenden ‚Clubmember-Gestalten‘ mittleren Alters im Vierziger Jahre-Dress pafft so selbstverständlich und ungeniert, wie man das seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr erlebt hat – erst recht nicht im Mutterland des Geschmacks von Freiheit und Abenteuer, der Heimat des Mannes, der heute Abend auftritt. Es ist wie mit dem an die legendären „Sun Records“ gemahnenden Outfit seiner CD-Silberlinge seit „Time out of Mind“, den Covers von Alben wie „Modern Times“, „Together Through Life“ oder zuletzt „Rough and Rowdy Ways“ oder seinen an das Radio der Fünfziger Jahre angelehnten hundert „Theme Time Radio Hour“-Sendungen bis hin zu der mit Bargeklimper unterlegten Nobelpreisrede: Immer wieder entführt uns der Meister in fiktive Vergangenheiten, in denen er wohl auch seine eigenen Songs am liebsten verorten möchte. Einziges Zugeständnis an die Gegenwart sind die schwarzen Atemmasken, die aber – wieder eine typisch Dylan‘sche Volte – nicht etwa die Clubgäste, sondern die Musiker auf der Bühne tragen.

Es beginnt, deutlich entspannt, in völlig neuem Sound. Kein Mitglied der Tourband der letzten Jahre steht auf der Bühne – auch nicht Bassist Tony Garnier, der seit 32 Jahren ununterbrochen mit von der Partie war –, Dylan verzichtet sowohl auf Schlagzeug wie auf Klavier oder gar seinen Flügel, die den Live-Sound der letzten Jahre entscheidend mitgeprägt hatten. Zwei Gitarren, bisweilen eine Mandoline, ein meist akustischer Bass und last but not least das Akkordeon sorgen für einen warmen weichen Klang, wie er in eine kleinere Bar gut hineinpassen würde.

Und auch die Setlist ist gegenüber den seit Jahren nur noch in Details veränderten Tourneekonzerten völlig neu. Nirgends auch nur einer der bekanntesten Greatest Hits. Als lockeres Bindglied zu den letzten Shows der Neverending Tour fungiert noch der Opener „When I Paint My Masterpiece“. Der mittlerweile 80-jährige Bob Dylan, im Glitzeranzug und endlich mal wieder mit akustischer Gitarre um den Hals, gniedelt munter und konzentriert zugleich drauf los – mit einer Inbrunst, in der noch die intensive Beschäftigung des Sängers mit dem American Songbook und dessen Hauptinterpreten nachhallt. Von den vier unbekannten Musikern im Hintergrund sind die meiste Zeit nur Instrumente und Hände zu sehen.

Zwischen Rauchschwaden, Bierflaschen und Shadow Queens

Die Performance kommt wie eine halb improvisierte Session daher. Die weiblichen und männlichen Clubgäste scheinen ihr mit höflicher, leicht gelangweilter Aufmerksamkeit zu folgen – offenbar ohne die geringste Ahnung, dass hier, einen Meter entfernt, gerade ein Superstar und Nobelpreisträger auf der Bühne steht. Wie zufällig liegt auf dem kleinen Tisch in unmittelbarer Nachbarschaft des Sängers ein umgedrehter Hut und es würde einen nicht wundern, wenn die permanent vor sich hin qualmende Dame in der ersten Reihe mit den dunklen krausen Haaren, die uns die ganze Zeit so großzügig ihren halbnackten Rücken darbietet, sich nach dem ersten Song erbarmen und ein paar Cent hineinwerfen würde.

Mit dem zweiten Lied, „Most Likely You Go Your Way (and I’ll Go Mine)“, bricht der Sänger nun in eigene Songwelten auf, die er seit Jahren selbst nicht mehr aufgesucht hatte. Ohne Instrument vor dem Mikrophon untermalt Dylan den dezent elektrisch verstärkten Song mit einigen sparsamen, aber umso eindringlicheren Gesten. Sein energischer Gesang ist, wie durchgängig an diesem Abend, sehr artikuliert. Unwillkürlich fragt man sich, warum er in dieser total verräucherten Bude – der Qualm wird ihm bisweilen regelrecht ins Gesicht geblasen – eigentlich niemals ins Husten kommt. Oder ist der Zigarettenrauch etwa auch nicht echt …?

Anyway, die Waitress huscht schnell dazwischen, stellt zwischen Dosen und Aschenbecher eine neue Flasche Bier auf den Tisch und die Stimmung hat sich mittlerweile schon soweit aufgeheizt, dass einige Ladies ab und zu Köpfe und Schultern im Rhythmus der Musik mitbewegen. Aber da ist der Meister bereits, in neuem Dress, mitten in einer herzzerreißenden kammermusikalischen Interpretation von „Queen Jane Approximately“, die so eindringlich, so hochkonzentriert ist, dass man, handelte es sich hier um einen wirklichen Live-Auftritt, eine Stecknadel fallen hören könnte!

Und weiter geht‘s ohne Pause zur ersten Klimax dieses Abends: „I’ll be Your Baby Tonight“ in einer mitreißend fetzigen Version. Schon die Musik fegt einen weg, aber man muss das Bild gesehen haben: Der Meister mit Gitarre, der sich gerade die Seele aus dem Leibe singt – zwischen zwei ‚Shadow Queens‘, die die ganze Zeit bewegungslos den fiktiven Betrachter der Szene herausfordernd-unterkühlt mustern. Unterbrochen nur durch die diskret-vertrauliche Geste, mit der die eine Lady dem Sänger ein paar unsichtbare Fusseln von der Schulter wischt – eine Intimität, von der dieser natürlich nichts zu mitzubekommen scheint. Der Kontrast zwischen dem Groove der Musik und den ultracoolen Damen ist von umwerfendem Charme! Und alles in altmodischem Schwarz-Weiß.

Es wäre spielverderberisch, den gesamten Verlauf der Session hier zu schildern. (Dabei ist Dylan selbst, mal wieder, der größte Spielverderber. Zumindest gegenüber seinen Hard Core-Fans, denen er diesmal das übliche spannende Ratespiel zu Beginn der Songs – „Was spielt er jetzt wohl wieder …?“ – frech vermiest, indem er die Titel gleich einblenden ließ.) Daher nur noch ein paar Stichworte. Im nächsten Song, „Just Like Tom Thumb’s Blues“, scheint sich die Spelunke in einen Western Saloon verwandelt zu haben. Die vor sich hin dösenden Männer mit Hut, die das Bier aus der Flasche nuckeln – rauchen tun sie eh alle wie ein Schlot, einer lässt sogar gekonnt ein paar Ringelchen steigen –, interessieren sich für nichts weniger als für den Sänger neben ihrem Tisch und dessen Song, den er anderthalb Jahrzehnte nicht mehr live gespielt hatte. Immerhin kann sich der ein oder andere zwischendurch ein gönnerhaftes Nicken abringen. Aber der Sänger ist viel zu sehr in seinen Song vertieft, um das Desinteresse überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn beleidigt zu sein.

Der Abend wird noch einiges zu bieten haben: Eine extrem verlangsamte – und dadurch umso spannungsgeladenere – Version des mittlerweile über 55 Jahre alten „Tombstone Blues“, „To Be Alone With You“ mit fast völlig neuem Text, der das erotische Begehren unmissverständlicher denn je in den Vordergrund rückt (was mehrere Clubmembers nicht daran hindert, rücksichtslos durch das Bild zu laufen und den Blick auf den Sänger zeitweise zu versperren) und als absoluter Höhepunkt der gesamten Performance eine atemberaubend gespenstische Neuinterpretation von „What Was It You Wanted“, einem seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gespielten Song, der bislang eher ein Schattendasein in Dylans Gesamtwerk geführt hatte.

Mehr wird nicht verraten!

Back to the Roots

Die Songs sind alle kurz gehalten, auf ihr Basisgerüst konzentriert. Sie kommen diesmal ohne längere improvisierende Passagen oder endlose Schluss-Codas aus. Und so wirken die Interpretationen allesamt sehr kompakt. Dylan, das kommt sofort rüber, muss intensiv daran gearbeitet haben, seinen Jahrzehnte alten Songs wieder mal ein völlig neues Outfit zu verpassen. Einmal mehr betrat er Neuland, indem er, mit sehr viel Liebe zum Detail, ästhetisch tausende Meilen zurück, Back to the Roots ging. Dieser Schachzug hatte ihn schon einmal – Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Jahre – aus seiner schwersten künstlerischen Krise gerettet.

Nach knapp 50 Minuten ist die Show schon zuende. Schade, es hätte gerne noch eine halbe Stunde weitergehen können! Insgesamt waren es 13 Songs, die Appetit auf mehr machen. Aber vielleicht sollte man sich den Untertitel des „Exclusive Broadcast Event“ nochmal genauer ansehen. Da stand nämlich „The Early Songs of Bob Dylan“. (Was wiederum auch nicht so richtig stimmt – Dylan bleibt sich, wie immer, treu –, denn „What Was It You Wanted“ zum Beispiel stammt ja von 1989.) Könnte das etwa bedeuten, dass …? Wir werden sehen!

Seine allerletzte falsche Fährte legt Dylan im Abspann. Den „Bon Bon Club“ in Marseilles, in dem das Konzert angeblich stattgefunden haben soll, gibt es gar nicht. Er befindet sich, das wollen namentlich nicht genannte Insider herausgefunden haben, tatsächlich in Santa Monica, California. Unter anderem Namen, versteht sich.

Puristen mögen nach dieser „Online Show“ indigniert einwenden, dies sei ja gar kein ‚richtiges‘ digitales Live-Konzert gewesen. Alles doch nur ein inszenierter Fake.

Fake hin, Fake her – jedenfalls war es ein verdammt guter!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.