Sex doesn‘t – Putin sells! oder: Der deutschen Medien bester Freund

Veröffentlicht am: 11. Oktober 2020

Sex sells!“ Das weiß jedes Kind. Für die deutschen Leitmedien ist es aber jemand ganz Anderes, der zuverlässig für Einnahmen sorgt.

von Leo Ensel

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass in gefühlten 70 bis 80 Prozent der Überschriften in den Qualitätsmedien, in denen das Wort „Putin“ vorkommt, die Worte „Russland“ oder „die russische Regierung“ inhaltlich erheblich besser passen würden?

Und was für die Überschriften gilt, gilt erst recht für die Bebilderung. Kein Russlandbericht, erst recht keine Russlandkritik – beides ist meist identisch – ohne ein Foto des Präsidenten! Bisweilen wird man den Eindruck nicht los, das 144 Millionen-Land wäre nur von einem einzigen Menschen bewohnt.

Diese Tendenz hat keineswegs erst vor zwei Jahren mit der unisono als „Putins Spiele“ apostrophierten Fußballweltmeisterschaft begonnen. Genau so waren bereits die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotchi tituliert worden. Schauen wir uns mal um, was in Berichten über „Putins Reich“, gemeint ist die Russische Föderation, alles sofort und ohne großes Nachdenken mit dem russischen Präsidenten in Verbindung gebracht wird!

Putin hier, Putin dort

Der von Russland am 9. November erzwungene Waffenstillstand im Südkaukasus – er kam reichlich spät! – ist laut ZDF ein „Frieden von Putins Gnaden“.1 „Sputnik V“ natürlich „Putins Impfstoff“.2 Moskaus Bürgermeister Sobjanin, der die Stadt erfolgreich saniert und sicher gemacht hat, ist – wie könnte es anders sein? – „Putins Mann“.3 Altkanzler Schröder dagegen – die Medien zitieren hier genüsslich Alexej Nawalny – „Putins Laufbursche“4. Patroullierende Kosaken während der Weltmeisterschaft waren „Putins Hilfspolizei“.5 „Putins Freunde“6 sollen angeblich all jene gewesen sein, die mit einer offenen Einstellung im Sommer 2018 nach Russland zur WM fuhren – die ihrerseits bekanntlich „Putins Meisterwerk“7 war. Das Jahr 2017 war seinerzeit für die Zeit nichts weniger als das „Super-Putin-Jahr“.8 Es gibt die „Generation Putin“.9 Und der Leiter des deutschen Koordinierungsausschusses des Petersburger Dialogs, Ronald Pofalla, schließlich ist – ebenfalls laut Zeit –, man höre und staune!, ein „Lobbyist in Putins Diensten“.10

Manchmal geht es allerdings auch ohne Namensnennung. Ein Foto verbunden mit einem bestimmten Attribut reicht völlig. Wie in Spiegel Online exakt zum Auftakt der letzten Fußball-WM: Der russische Präsident, umringt von mindestens zwanzig jungen Nachwuchsspielern im Alter von acht bis zwölf Jahren – den einen liebevoll mit der Rechten segnend, dem anderen hatte er väterlich die Linke auf die Schulter gelegt. Dazu Christina Hebels präzise Prophezeihung: „Der Weltmeister“.11

Aktuell sind die deutschen Leitmedien zur Abwechselung schwer um „Putins Gesundheit“ besorgt. Krebs? Parkinson? Depressionen? Husten? Am Ende gar alles zusammen? Zitiert wird ein Kremlastrologe, dessen Seriosität im gleichen Atemzug bezweifelt wird. Frei nach der bekannten Bauernregel: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie‘s ist!“ Jedes Horoskop im „Goldenen Blatt“ ist verlässlicher.

Interessen – materieller Art

Aber woher kommt die geradezu rührende Anhänglichkeit der deutschen Qualitätsmedien gegenüber dem russischen Präsidenten? Bevor Psychoanalytiker am Ende noch eine „sadomasochistische Kollusion“ herbeidiagnostizieren, sei prosaisch festgestellt: Es ist alles erheblich banaler! Wie den meisten Beziehungen, so liegen auch dieser handfeste materielle Interessen zugrunde.

Der hochtalentierte Nachwuchsjournalist Maxim Kireev12, der damals während der Fußballweltmeisterschaft auf Spiegel Online jeden Tag eine Stecknadel13 in den bunten WM-Luftballon pieksen durfte, nein: sollte, hat vor einiger Zeit aus dem Nähkästchen geplaudert. Offenbar stehen viele Russlandkorrespondenten unter dem Druck ihrer Heimatredaktionen, sich vor allem mit dem russischen Präsidenten zu befassen oder ihn zumindest in den Text einfließen zu lassen. Kireev etwas verdruckst-gewunden: Die deutschen Redaktionen orientieren sich dabei sicher auch an den Interessen der Leser, denn Putin ist eine polarisierende Persönlichkeit und er bringt Online sehr viele Klicks.“14

Das also ist des Pudels Kerns! Warum sind wir da nicht gleich drauf gekommen? Die Logik könnte einfacher nicht sein: In einem Kosmos wie dem World Wide Web, in dem jeder jedem zu jeder Zeit alles sagen kann, ist Aufmerksamkeit, wie jeder weiß, die alles entscheidende Währung. Und niemand sorgt zuverlässiger für Aufmerksamkeit als – der russische Präsident! Auf „Putin“ klickt man halt gerne. Aufmerksamkeit generiert Klicks, Klicks generieren Werbeeinnahmen, mit einem Wort: Putin sells!

Putin – unerbittliche Dialektik – rettet also die Qualitätsmedien. Es wäre nicht schlecht, wenn die sich ab und zu mal bei ihm bedanken würden!

PS:

Was für den beschriebenen Sachverhalt gilt, gilt natürlich auch für dessen Analyse: Hoffen wir also, dass Putin auf diesem Wege nun auch dem Ostexperten reichlich viele Klicks beschert …

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.