Revolution in Armenien – und kein Maidan!

Veröffentlicht am: 8. Mai 2018

Die friedliche Revolution in Armenien ist mit dem gewalttätigen Umbruch auf dem Maidan nicht zu vergleichen. Geopolitik spielt hier keine Rolle.

von Leo Ensel

Revolution in Armenien – und dieses Mal ist es tatsächlich eine! Alle Bedingungen – von Lenin auf die klassische Formel „Die Oberen können nicht mehr wie zuvor, die Unteren wollen nicht mehr wie zuvor“ gebracht – sind erfüllt. Ein charismatischer Anführer, Nikol Paschinyan, hat sein Volk während eines mehrwöchigen langen Marsches durch die Provinz bis in die Hauptstadt aus der Lethargie gerüttelt, ihm die Angst genommen und seine Würde zurückgegeben, indem er den Menschen beibrachte und sie erfahren ließ, was Demokratie wirklich bedeutet: Einmischung in die eigenen Angelegenheiten!

Eine Revolution – unblutig und fröhlich

Und alles ohne Gewalt. Armenien, ein kleines bitterarmes Land im Kaukasus, eingezwängt zwischen die mit ihm verfeindeten Staaten Türkei und Aserbaidschan, mit nur zwei schmalen offenen Grenzen, nach Georgien im Norden und im Süden zum Iran. Die Menschen hochtraumatisiert durch den türkischen Genozid vor über hundert Jahren, bei dem bis zu anderthalb Millionen Armenier ermordet, geschändet, ausgeraubt und buchstäblich in die Wüste getrieben wurden. Und nun geht ein ganzes Volk – dieses so oft missbrauchte Wort ist hier nicht nur erlaubt, sondern geboten – zu Hunderttausenden auf die Straßen, um sich von einer gänzlich korrupten Politikerkaste und deren Lakaien in Staat und Gesellschaft zu befreien! Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Krieg mit Aserbaidschan um die Enklave Berg-Karabach hatte das endlich unabhängig gewordene Land noch eine weitere bittere Lektion lernen müssen: Unabhängigkeit bedeutete lediglich, dass man nicht mehr von den fremden, sondern dafür von den eigenen Leuten betrogen, belogen und ausgesaugt wurde!

Jahrzehntelang hatte das Land resigniert in einer Dornröschenstarre verharrt. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosenrate beträgt fast 19 %1, die Wirtschaft stagniert – ganz im Gegensatz zur Inflationsrate – seit Jahren. Weite Teile des Landes hängen am Tropf der Zuwendungen der weltweiten armenischen Exilgemeinde, ohne wirklich auf die eigenen Füße zu kommen. Seit vielen Jahren verlassen die besten Menschen das Land: Zwischen 1991 und 2017 verminderte sich die Bevölkerungszahl von über vier auf unter drei Millionen.

Nun aber ist ein ganzes Volk aufgewacht! Eine ganze Gesellschaft absolviert einen Crashkurs in Sachen ziviler Widerstand. Ohne externe Missionare. Die Menschen haben keine Angst mehr. Und der Protest geht durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten. Die Pätze quillen über von friedlichen Demonstranten, Straßen werden blockiert, ganze Stadtteile schlagen zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten auf Kochtöpfen die Trommel, um der herrschenden republikanischen Partei und dem bestechlichen Beamtenapparat zu signalisieren, dass ihre Zeit nun abgelaufen ist. Wer diese Bilder gesehen hat, wird sie nie mehr vergessen! Aber der Protest beschränkt sich nicht auf die Straßen, er hat längst tiefere Gesellschaftsschichten erreicht: Die gut ausgebildete Jugend will ihr Land nicht mehr verlassen müssen. Studenten, von der Hochschulleitung in die Universitäten eingesperrt, befreien sich. Korrupte Schulleiter werden von Eltern und Schülern zur Rechenschaft gezogen. Die Menschen kennen nun ihre Rechte. Und sie nehmen sie wahr.

Die Revolutionäre verbitten sich jegliche Einmischung von außen. Mit Erfolg: Der Westen blieb draußen und Russland verhielt sich neutral. Und die Revolution beweist gelassen Stärke, Fröhlichkeit und Humor. Die Demonstranten räumen post festum, nach den Großkundgebungen auch noch ihren Müll selber weg!

Kein Maidan

Der in den letzten Wochen immer wieder gezogene Vergleich zum Umsturz in der Ukraine, zum Maidan hinkt. Schaut man sich die armenische Revolution 2018 und die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan 2013/14 genauer an, so springen die Unterschiede deutlich ins Auge:

  • Auch wenn sich die Maidan-Demonstrationen Ende November 2013 nicht zuletzt gegen die korrupte Janukowitsch-Riege richteten – der Auslöser war von an Anfang an ein geopolitischer und dies in einem in dieser Frage extrem polarisierten Land. Mit dem geplanten EU-Assoziierungsabkommen hatte die Ukraine sich zu entscheiden: In Richtung Europäische Union – und damit mittelfristig in die NATO – oder in Richtung Russland. Eine für dieses zerrissene Land gänzlich inakzeptable Alternative.

  • Um die ukrainische Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen, hatten die USA seit Jahren gewaltige Geldsummen in das Land hineingepumpt. Victoria – „Fuck the EU!“ – Nuland sprach in diesem Zusammenhang von fünf Milliarden Dollar.

  • Das EU-Assoziierungsabkommen, dessen Unterzeichnung Janukowitsch im letzten Moment ablehnte, hätte die Ukraine auch zu militärischer Zusammenarbeit mit dem Westen verpflichtet. Eine weitere wirtschaftliche Kooperation mit Russland wäre zudem erheblich erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht worden.

  • In die Ereignisse auf dem Maidan mischten sich nach kürzester Zeit auch eine Reihe mehr oder weniger prominenter Politiker aus dem Westen ein: Nicht nur deutsche Untote aus dem Europaparlament hopsten mitten unter den ukrainischen Demonstranten herum, auch EU-Außenministerin Ashton und der damalige deutsche Außenminister Westerwelle fühlten sich bemüßigt, Öl ins Feuer zu gießen – während Victoria Nuland und John McCain als barmherzige Samariter Sandwiches verteilten.

  • Auf dem Maidan radikalisierten sich die Ereignisse schließlich so weit, dass von allen Parteien scharf geschossen und insgesamt über hundert Menschen getötet wurden. Ein Kompromissvorschlag, der von den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens in Anwesenheit des Menschenrechtsbeauftragten der russischen Regierung mit Präsident Janukowitsch ausgehandelt worden war, wurde bereits einen Tag später von den Maidanaktivisten für Makulatur erklärt – worauf unter Vorhut der militantesten Kräfte das Parlament gestürmt wurde.

  • Die unter solchen Bedingungen vollzogene parlamentarische Abstimmung, die Präsident Janukowitsch für abgesetzt erklärte, erzielte nicht das notwendige Quorum und verstieß damit gegen die ukrainische Verfassung.

Demgegenüber stellt sich der Umbruch in Armenien vollkommen anders dar:

  • Die gewaltfreie armenische Revolution kämpfte nicht für oder gegen eine bestimmte geopolitische Ausrichtung des Landes, sondern gegen eine ganz und gar korrupte Politikerkaste, die zusammen mit einer Handvoll Oligarchen und dem Beamtenapparat nahezu das gesamte Volk seit Jahrzehnten schamlos ausgeplündert, jegliche Reformen im Keim erstickt und damit einen Massenexodus, einen Braindrain von mehr als einer Million Menschen zu verantworten hatte.

  • Anlass war eine gewagte Rochade des verhassten Präsidenten Sersch Sargsyan, der, weil seine Amtszeit nach zwei Perioden nicht mehr verlängert werden konnte, nun den Posten des Ministerpräsidenten anstrebte, den er zuvor mit erheblich größeren Befugnissen ausgestattet hatte. Bis kurz vor der Umsetzung dieses Manövers hatte er solche Absichten weit von sich gewiesen.

  • Das armenische Volk ist in der revolutionsentscheidenden Frage nicht – wie das ukrainische – extrem polarisiert sondern so geeint wie niemals zuvor. Überall im Lande gingen die Menschen auf die Straßen, um für ihre Rechte friedlich zu protestieren und zivilen Ungehorsam zu praktizieren.

  • Die Proteste blieben nicht nur friedlich, sie entwickelten sich in Laufe der Zeit zu einem grandiosen Volksfest. Der Umsturz vollzog sich ohne Gewalt und verfassungskonform.

  • Einen stummen, aber möglicherweise entscheidenden Kommentar hat übrigens Russland selbst gegeben. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind in Armenien circa 3.000 russische Soldaten stationiert. Die russischen Truppen verhielten sich jedoch während der armenischen Revolution nicht wie die Soldaten der Roten Armee 1953 in Ostberlin, 1956 in Budapest oder 1968 in Prag, die die Aufstände mit Panzern blutig niederwalzten, sondern wie die Sowjetsoldaten während der friedlichen Revolutionen im Herbst 1989 in der DDR, der Tschechoslowakei und in Polen: Sie blieben schlicht in ihren Kasernen!

  • Es verwundert daher nicht, dass die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa die armenische Revolution folgendermaßen kommentierte: „Ein Volk, welches die Kraft hat, sich sogar in schwierigen Momenten seiner Geschichte ungeachtet grundlegender Meinungsverschiedenheiten nicht zu spalten und die Achtung voreinander zu behalten, ist ein großes Volk.“2 Dem ist nichts hinzuzufügen.

In der Tat: Den armenischen Revolutionären geht es nicht um Geopolitik. Sie wissen sehr genau, dass es ohne Russland, mit dem das Land zwar keine heißblütige Liebesaffaire, aber immerhin eine stabile Vernunftehe verbindet, nicht geht. Russland ist für Armenien seit Jahrzehnten Schutzmacht gegenüber dem hochtraumatisch besetzten und zunehmend unberechenbarer werdenden Natoland im Westen.

Die Mühen der Ebene

Heute, am 8. Mai, wurde der Held des Volkes, Nikol Paschinyan zum Ministerpräsidenten gewählt. Die Revolution hat gesiegt. Und die Menschen in Armenien haben nochmals in eindrucksvollen Bildern der Welt gezeigt, dass sie nun ihr Haus in Ordnung bringen und friedlich eine neue, demokratische Gesellschaft aufbauen wollen. Ohne Korruption und Vetternwirtschaft. Ab morgen beginnt der Alltag. Brechts Mühen der Ebene rufen: die unspektakulären, die notwendigen, die unpopulären, gar schmerzvollen. Ein Augiasstall muss ausgemistet werden. Ich wünsche dem mutigen armenischen Volk, dass es in der Durststrecke, die unweigerlich kommen wird, aus den Sternstunden der letzten Wochen die Kraft zum endgültigen Umbruch schöpfen wird!

Und dass es sich auf seinem langen Weg von keiner Seite – schon gar nicht geopolitisch – vereinnahmen lässt.

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.