Putins Überfall auf das eigene Volk – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (III)

Veröffentlicht am: 18. Juni 2018

Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.

von Leo Ensel

Dass der russische Präsident Putin „zu den Klängen des Schlussakkords bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi“ die Krim besetzen ließ, die Spiele – wer weiß, diesem Mann ist ja alles zuzutrauen – womöglich sogar nach Russland geholt hatte, um in deren Windschatten die Krim heim ins Reich zu holen, das ist ja bekannt. Die große Frage ist: Wen wird es diesmal treffen? Den Donbass? Polen? Das Baltikum? Seit letztem Wochenende ist auch dieses Geheimnis gelüftet. Putins nächstes Opfer, das er während der Fußballweltmeisterschaft nicht etwa überfallen wird, sondern bereits überfallen hat, ist – die Süddeutsche hat‘s rausgekriegt – „das eigene Volk“!1

Das ist zweifellos starker Tobak und bedarf einer Begründung, die Qualitätsjournalist Julian Hans uns selbstverständlich nicht schuldig bleibt: „Am Tag der Eröffnungsfeier verkündete Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew die härtesten sozialen Einschnitte seit der Jelzin-Zeit. Das Renteneintrittsalter für Männer wird von 60 auf 65 Jahre angehoben, für Frauen steigt es von 55 auf 63 Jahre. Und zwar schrittweise schon von 2019 an. Gleichzeitig wird die Mehrwertsteuer erhöht – von 18 auf 20 Prozent. Das wird die Preise weiter in die Höhe treiben, die schon infolge der Rubelschwäche in den vergangenen Jahren stark gestiegen sind.“ Was in Deutschland und in ganz Westeuropa eine schmerzhafte, aber notwendige Anpassung an die veränderte demographische Situation ist, ist in Russland ein „Überfall auf das eigene Volk“! Darunter macht es die Süddeutsche nicht.

Man kann es natürlich auch anders herum sehen: Als die Bundesregierung vor knapp zehneinhalb Jahren zum 1. Januar 2007 die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik realisierte und die Mehrwertsteuer von 16% auf 19% – also noch um einen Prozentpunkt mehr – erhöhte, da hatten Merkel und Steinbrück also das eigene Volk überfallen! Es wäre lohnenswert, zu recherchieren, ob Julian Hans den damaligen Krieg der Bundesregierung gegen die Deutschen, der ja auch hier vor allem die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen besonders belastet, ebenso wortgewaltig angeprangert hat!

Warum Putin die Russen gerade jetzt überfallen hat, liegt natürlich auf der Hand: „Bitteren Wein schenkt man am besten dann ein, wenn die Gäste schon betrunken sind. Wenn die ganze Welt in Russland feiert und die eigene Mannschaft das Auftaktspiel mit 5:0 gewinnt, dann tut es schon nicht mehr ganz so weh.“ Wer allerdings glaubt, der Gipfel des Perfiden sei damit bereits erreicht, irrt. Getreu dem aus jeden Kriminalfilm bekannten Muster „Good Cop – Bad Cop“ war es selbstverständlich nicht Putin, der seinem Volk die bittere Pille verpasste: „Ministerpräsident Medwedjew musste die schlechte Nachricht verkünden. Präsident Wladimir Putin eröffnete am Abend die WM.“ Die ja, wie wir bereits wissen, die teuerste in der Geschichte ist. (Wie jede der vergangenen und – wie es aussieht – auch jede der künftigen.)

Einen – für die Russen natürlich schmerzhaften – Vorteil hat der Überfall auf das eigene Volk allerdings doch: Es könnte sein, dass der Appetit des Zaren im Kreml vielleicht ja fürs Erste gestillt ist und die Polen und Balten diesmal nochmal davon kommen!

Schade für die Russen und beruhigend für die NATO!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.