Michail Gorbatschow zum 90. Geburtstag – Für eine Renaissance des Neuen Denkens!

Veröffentlicht am: 25. Februar 2021

Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion wird 90 Jahre alt. Mit Michail Gorbatschow hatte erstmals ein Politiker die Bühne der Weltpolitik betreten, dessen Denken und Handeln auf der Höhe des Atomzeitalters war. Die Welt hat seitdem schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Eine Neuorientierung an den Prinzipien des Neuen Denkens ist notwendiger denn je.

von Leo Ensel

Was bedeutet es, wenn über jemanden gesagt wird, es sei still um ihn geworden? Weilt er nicht mehr unter den Lebenden? Hat er sich zur Ruhe gesetzt? Hat er nichts mehr zu sagen? Ist von ihm nichts mehr zu erwarten?

Nichts von all dem trifft auf Michail Gorbatschow zu. Und wenn es „still um ihn“ geworden ist, dann bedeutet das in diesem Falle nichts Anderes, als dass er in den (deutschen) Medien in den letzten Jahren nur noch selten präsent war! Und dafür gibt es gute schlechte Gründe.

Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, dem die Menschheit unter anderem verdankt, dass sie über 30 Jahre lang von Atomkriegsängsten unbehelligt gut schlafen konnte, unser Gorbi, einst ‚Everybodys Darling‘ in Deutschland, hatte es nämlich gewagt, abweichende Meinungen zum Neuen West-Ost-Konflikt zu äußern. Die Sezession der Krim rechtfertigte er mit dem – auch von ihm stets respektierten – Selbstbestimmungsrecht der Völker, den USA warf er ungerechtfertigten Triumphalismus nach dem Ende des Kalten Krieges, das Scheitern der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge und das Streben nach Weltherrschaft vor und die deutschen Medien kritisierte er für deren einseitige, oft anklägerische russlandfeindliche Berichterstattung. Starker Tobak und der Liebesentzug durch die deutschen Leitmedien ließ nicht lange auf sich warten. Kein Wunder, dass es hierzulande ‚still um ihn‘ wurde!

Die Strategie der deutschen Medien: Gorbatschow wurde, was sein Handeln als aktiver Politiker angeht, zum Denkmal degradiert1 und, bezogen auf seine unbequemen aktuellen Äußerungen, als Mahner ignoriert.

Atomkriegsängste und ein politisches Wunder

Versetzen wir uns einen Augenblick zurück in die Zeit des Kältesten Krieges, Anfang der Achtziger Jahre. Die Lage schien aussichtslos: Beide Supermächte bis an die Zähne bewaffnet, in einer verhängnisvollen Aufrüstungsspirale verstrickt. Auf jede ‚Nachrüstung‘ folgte prompt eine ‚Nach-Nachrüstung‘, die Vorwarnzeiten für Atomraketen betrugen zum Schluss nur noch vier Minuten – und beide deutsche Staaten mittendrin! Das potenzielle Schlachtfeld der Supermächte. Im Ernstfall wäre hier kein Stein auf dem anderen geblieben. Und das wussten hier alle.

„Einer muss anfangen, aufzuhören!“, so lautete eine etwas hilflose Parole.

Und dann geschah ein Wunder.

Eine Seite fing wirklich an, aufzuhören. Und meinte es auch noch ernst. Und es waren ausgerechnet unsere ‚Feinde‘! Das sklerotische kommunistische System begann – sämtlichen Erwartungen zum Trotz – tatsächlich, sich zu verändern. Es war, als hätte ein siebzigjähriger Tattergreis mit letzter Kraft noch einen Helden gezeugt. Auf einmal wurde es interessant, die Reden des Vorsitzenden der kommunistischen Partei zu verfolgen. Kein Phrasengedresche, keine Verkündigung letztgültiger Weisheiten mehr aus Moskau! Nun dominierten die Zauberworte Perestroika und Glasnost. Und die neuen Machthaber hatten Humor. Statt von Breschnew-Doktrin war jetzt von der ‚Sinatra-Doktrin‘ die Rede: „I did it my way!“ Der neue Held auf der weltpolitischen Bühne: jung, energisch, womöglich sogar ehrlich, gut aussehend, offenes Gesicht, mit einer attraktiven klugen Frau an seiner Seite. Und lachen konnte er auch! Ein weiterer Zaubersatz machte die Runde: „Wir werden Euch etwas Schreckliches antun: Wir werden Euch des Feindes berauben!“

Und dann ging es Schlag auf Schlag: Ein sowjetischer Abrüstungsvorschlag jagte den nächsten. Bis der zunächst misstrauisch widerstrebende Westen sich ‚geschlagen‘ geben musste. Alle landgestützten Mittelstreckenraketen in Ost und West wurden abgezogen und restlos verschrottet. Erstmals war eine gesamte Waffenkategorie eliminiert! Es folgten die friedlichen Revolutionen in den Ländern Mittel-/Osteuropas, der Fall der Mauer, die deutsche Wiedervereinigung, die Beseitigung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit und die Charta von Paris2, in der NATO und Warschauer Pakt das Ende des Kalten Krieges besiegelten. Die Vision vom „Gemeinsamen europäischen Haus“ schien greifbar nahe. Für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte schien selbst Kants Utopie vom „Ewigen Frieden“ in den Bereich des Möglichen gerückt.

Das waren die Träume einer Zeit, in der auf einmal doch noch alles gut zu werden schien. Und heute?

Die ernüchternde Gegenwart

Was auch immer US-Außenminister Baker im Februar 1991 bei den Verhandlungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung Michail Gorbatschow versprochen haben mag oder nicht – die Erzählungen darüber gehen ja auseinander –, alle Seiten wären bestens beraten gewesen, die „Charta von Paris“ zum Anlass für eine völlig neue transatlantische Sicherheitsstruktur unter gleichberechtigter Einbeziehung der damals noch existierenden Sowjetunion zu nehmen! Als sich wenig später der Warschauer Pakt auflöste und Ende 1991 die Sowjetunion zerfiel, war diese Vision für den Westen schon keine Option mehr. Statt sich selbst ebenfalls aufzulösen, erweiterte die NATO sich im Verlauf der folgenden zwei Jahrzehnte – anfangs noch halbherzig auf Russland Rücksicht nehmend, später auch das nicht mehr – nicht nur bis an Russlands Grenzen heran, sondern wandelte sich zugleich immer mehr vom Kriegsverhinderungs– zu einem Kriegsführungsbündnis – dazu beim erstem Out of Area-Einsatz gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gleich ohne völkerrechtliches Mandat!

Die vielfachen Vorschläge Russlands zum Aufbau einer neuen transatlantischen Sicherheitsstruktur – zuletzt vom damaligen Präsidenten Medwedew, der im Herbst 2008 eine neue euro­atlantische Friedenscharta von Vancouver bis Wladiwostok anregte – wurden gar nicht erst ernsthaft diskutiert. Russische Bedrohungsängste wurden sowohl bei den bisherigen vier NATO-Osterweiterungen als auch beim sogenannten Raketenabwehrschild wie bei der Diskussion um einen möglichen NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine als angeblich hysterisch und unbegründet vom Tisch gewischt. Und heute ist der Westen dabei, Russland einen zweiten, noch gefährlicheren Kalten Krieg aufzuzwingen: Auf Initiative des Westens wurden in den letzten beiden Jahrzehnten fast sämtliche Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge ge­kündigt.

Offenbar war der Westen für das Neue Denken noch nicht reif genug.

Für eine Renaissance des Neuen Denkens

Dabei ist eine Renaissance genau dieser Prinzipien heute notwendiger denn je. Fassen wir sie kurz zusammen.

„Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert – nur nicht unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe ohnegleichen zu. Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ Dies schrieb neun Monate nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki kein Geringerer als Albert Einstein. Aber es sollte noch vier Jahrzehnte dauern, bis dieses von Einstein postulierte Neue Denken in Gestalt von Michail Gorbatschow die Höhen der Weltpolitik erreichte.

Gorbatschows revolutionäre Schlussfolgerung: „Erstmals in der Geschichte der Menschheit gibt es tatsächlich ein alle Gegensätze überwölbendes Menschheitsinteresse: das Weiterleben als Gattung.“ Diese Erkenntnis zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt zu machen und daraus die notwendigen Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen, war und ist bis heute das Grundprinzip seines Neuen Denkens. Sicherheit im Atomzeitalter kann, laut Gorbatschow, nur gegenseitig und allumfassend sein.

Nichts, aber auch gar nichts ist an diesem Denken veraltet! Schließlich ist die Menschheit mit rund 15.000 Atomsprengköpfen auch jetzt noch in der Lage, unseren Planeten ganze zwanzigmal zu vernichten. Und dieses Potential wird gerade allseitig ‚modernisiert‘.

Vom Neuen Denken zum Neuen Handeln

In der Retrospektive hat Gorbatschow immer wieder betont, dass seine Politik des Neuen Denkens nicht als gigantische Kopfgeburt am Schreibtisch entstand, sondern im Wechselspiel mit der praktischen Politik Schritt für Schritt entwickelt, modifiziert, umgesetzt und weiterentwickelt wurde. Neues Denken und Neues Handeln bedingten sich gegenseitig. Genau hier gilt es wieder anzuknüpfen, will die Welt nicht in einen zweiten, noch ungehemmteren Rüstungswettlauf hineinschlittern als im ersten Kalten Krieg.

Neues Denken, im Atomzeitalter die Basis jeglichen Vertrauens, würde heute bedeuten: Abschied vom Unilateralismus, Abschied vom Gerangel um geopolitische Einflußsphären, Abschied vom Rivalisieren um Rohstoffe – mit einem Wort: Schluss mit dem Denken und Handeln in den Kategorien des Nullsummenspiels, bei dem der Gewinn der eigenen Seite zwingend den Verlust der anderen bedeutet! Statt dessen: Focussieren auf die gemeinsamen Interessen, auf das Überleben der Menschheit! Und nicht nur bei der Aufrüstung, auch bei den anderen menschheitsbedrohenden Gefahren.

Es war diese von Einstein postulierte „neue Art von Denken“, mit deren Hilfe Gorbatschow Mitte der Achtziger Jahre der Ausweg aus der damals völlig verfahrenen und brandgefährlichen Lage um die atomaren Mittel- und Kurzstreckenraketen gelang. Den entscheidenden Durchbruch schaffte er mit seinem Mut, in qualitativen statt in quantitativen Kategorien zu denken und der Energie, dies auch durchzusetzen: Um eine gesamte Waffenkategorie zu eliminieren, ließ er genau tausend Raketen mehr beseitigen als die Gegenseite. Und erreichte damit Gleichgewicht auf Null-Niveau! Viele seiner im alten Denken verharrenden Landsleute nehmen ihm das bis auf den heutigen Tag bitter übel.

Unter den Großen der Größte

Dass Michail Gorbatschow als Chef einer Atommacht auch in seinem Denken auf der Höhe des Atomzeitalters war, macht ihn einzigartig. Dass er den Mut hatte, das Neue Denken konsequent und unbeirrbar in Neues Handeln umzusetzen, dass ihm mit dem INF-Vertrag der bedeutendste Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte gelang, dass er es schaffte, 80 Prozent der Atomsprengköpfe weltweit zu verschrotten – all dies macht ihn unter den Großen zum Größten. Dass die Welt seit seinem – erzwungenen – Abtritt von der politischen Bühne wieder einen schweren Rückfall in das alte Denken erlitt, ist seine Schuld nicht.

Wie wäre es daher, wenn diesmal zur Abwechselung der Westen mit einseitigen Vorleistungen die Initiative ergreifen und Russland mit kalkulierten einseitigen Abrüstungsschritten ‚attackieren‘ würde? Ein Militärbündnis, dessen führende Supermacht allein jährlich über zehnmal mehr für die Rüstung ausgibt als Russland, könnte sich das leisten! Und wie wäre es, wenn eine Friedensbewegung 2.0 wieder auf den Plan träte und den verantwortlichen Politikern in dieser Richtung Druck machen würde?

Angemessener könnte dieser Ausnahmepolitiker nicht geehrt werden!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.