„Kognitive Dissonanz“ oder: Moskau, die „Ja-aber-Stadt“ – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (X)

Veröffentlicht am: 5. Juli 2018

Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.

von Leo Ensel

Alice Bota, ihres Zeichens Osteuropakorrespondentin der Zeit, leidet an einer „kognitiven Dissonanz“1. Jedenfalls in Bezug auf Moskau. Das ist natürlich bedauerlich!

Sie wissen nicht, was das ist? Also, für Nicht-Psychologen: Kognitive Dissonanz ist ein innerer Spagat zwischen konträren Wahrnehmungen, den man irgendwie aushalten bzw. verarbeiten muss. Kann man auch so sagen, aber „kognitive Dissonanz“ klingt natürlich schicker.

Im Grunde nicht weiter tragisch. Da es in jeder Weltstadt von allem alles gibt – und davon auch nochmal das Gegenteil, eigentlich eine ganz normale angemessene Reaktion auf die verwirrende Komplexität einer Metropole. Und das gilt selbstverständlich auch für die russische Hauptstadt.

Nicht so im Qualitätsmedium Zeit Online. Bei Alice Bota wird daraus recht gequält die „Ja-aber-Stadt“: „Ja, Moskau ist großartig – aber die Stadt kann unglaublich zehrend sein.“ Stimmt haargenau. Ist allerdings nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal von Moskau. Liebe Frau Bota, fahren Sie mal nach Mumbai! Was glauben Sie, wie diese großartige Stadt an Ihnen zehren wird! Und selbst das geordnete Chaos von New York City lässt sich ohne eine Reihe kognitiver Dissonanzen nur schwerlich bewältigen.

Ja, Moskau entwickelt sich atemberaubend schnell, aber die Entwicklung ist skrupellos, oft auf Kosten der Schwachen, wie der unterbezahlten Gastarbeiter.“ Wie schön wäre es um unseren Planeten bestellt, wenn die russische Metropole in diesem Punkt einzigartig wäre! Um nur mal beim Fußball, um den sich ja gegenwärtig alles dreht, zu bleiben: Glauben Sie, die Stadien samt Infrastruktur für die Weltmeisterschaften in Südafrika und Brasilien oder für die Europameisterschaft in der Ukraine wären unter komfortableren Bedingungen errichtet worden? Von der kommenden WM in Katar ganz zu schweigen!

Ja, Moskau hat großartige Restaurants, aber die russischen Durchschnittsgehälter von ein paar Hundert Euro im Monat erlauben nur den wenigsten regelmäßige Besuche.“ Ja, leider haben es Luxusrestaurants auf der ganzen Welt so an sich, dass sie, wenn überhaupt, nur von den Gutbetuchten regelmäßig besucht werden können. „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ – das hat schon damals im Kommunismus nicht so richtig geklappt! Aber es gibt auch gute Nachrichten, die Ihnen, da sie ja seit zweieinhalb Jahren in Moskau leben, eigentlich bekannt sein müssten: Gerade in Moskau gibt es nämlich eine wachsende Zahl – nicht unbedingt großartiger, aber doch – sehr vernünftiger Restaurants im mittleren Preissegment. Und die können sich dort immer mehr Menschen der sich etablierenden Mittelschicht durchaus leisten. Zwar nicht immer, aber immer öfter! Das Gleiche gilt für die vielen neuen Restaurantketten und Cafés, die gerne von jungen Leuten frequentiert werden. Davon gibt es auch auf dem Arbat und selbst auf der Tverskaja eine ganze Reihe.

Und für diejenigen, die noch weniger im Portemonnaie haben, sich aber wenigstens ab und zu mal was gönnen wollen, und zwar durchaus mit Stil, gibt es zum Beispiel die „Stolowaja“ im sowjetnostalgischen Look im zweiten Stock des Luxustempels GUM, direkt gegenüber von Lenin. Die langen Schlangen wie zu Sowjetzeiten beweisen die Beliebtheit dieses preiswerten Imbiss mit typisch russischen Gerichten. Nebenbei: Dieses souveräne selbstironische Spielen mit der Sowjetvergangenheit und ihren Reliquien, das man in Russland nicht zuletzt bei der Inneneinrichtung von Kneipen oder Restaurants öfters mal antrifft, zeugt von gewachsenem Selbstbewusstsein!

Ja, Moskau ist sehr ordentlich und sehr sicher – aber dank eines Kontroll- und Überwachungseifers, der sich wie ein Schatten auf das tägliche Leben legt.“ Liebe Frau Bota, ich kann mich noch gut an die Jelzin-Zeiten erinnern, wo der öffentliche Raum in russischen Städten, namentlich in Moskau, eine höchst unsichere Zone war, die man schnellstmöglich durchquerte, um sich wieder in seinem Квартира zu verbarrikadieren. Heute kann man dort völlig unbehelligt zu jeder Tages- und Nachtzeit gemütlich bummeln oder mit öffentlichen Fahrrädern die Straßen durchqueren – und die Stadt kann es kritischen ausländischen Journalist*innen immer noch nicht rechtmachen! Dabei ist sie doch dank der Fußball-WM gerade dabei, sich ein weiteres Mal neu zu erfinden.

Sie, liebe Frau Bota, sind nicht die Einzige, die sich verwundert die Augen reibt und Sie haben es selbst wunderbar auf den Begriff gebracht: „Moskau feiert während der WM das Chaos und erlebt einen wohltemperierten Kontrollverlust!“ Ausländische Fans tanzen nachts mit Einheimischen auf den Straßen, Ticketverkäuferinnen in den Metrostationen – die übrigens auch vorher schon bisweilen lächeln konnten! – „versuchen sich in englischen Grußformeln. In den U-Bahnen, wo es gewöhnlich still und leblos zugeht, reden Menschen plötzlich miteinander oder singen. Die russischen Nationalgardisten, die bislang auf Demonstrationen durch ihr rabiates Vorgehen auffielen, fuchteln mit Händen und Füßen, um Briten zu erklären, wo sie umsteigen müssen. Plötzlich ist Moskau die Stadt, in der es sich mit Leichtigkeit lebt.“

Ja, die Russen können auch anders! Die Fußballweltmeisterschaft hat – und nicht nur in Moskau – vieles in Bewegung gebracht. Auch in den Köpfen. „Vielleicht werden die Russen anzweifeln, ob im Westen wirklich so eine Russophobie herrschen kann, wie Politiker sie glauben lassen wollen.“ Mag sein. Vielleicht werden aber auch zahlreiche Ausländer ihr Bild von Russland und den Russen revidieren! Vielleicht werden sie ja zuhause berichten, dass auch Russen freundlich und hilfsbereit sein können, dass sie ausgelassen auf den Straßen und Plätzen feiern können, dass – Sensation!! – sogar russische Polizisten mal lächeln können, dass russische Städte längst nicht mehr so heruntergekommen aussehen wie in den Neunzigern und dass nicht hinter jeder Ecke ein Hooligan lauert. Mit einem Wort: Dass Russen ein Großereignis wie eine Fußballweltmeisterschaft souverän und professionell stemmen können.

Jedenfalls – und in diesem Punkt treffen wir uns, liebe Frau Bota – gut, dass diese WM in Russland stattfindet! Möchten Sie das nicht mal Ihrem Kollegen Steffen Dobbert mitteilen, der sich bereits seit über zwei Wochen tapfer in WM-Askese übt?2

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.