Ja, aber! – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (XVI)

Veröffentlicht am: 17. Juli 2018

Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzte die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.

von Leo Ensel

Kennen Sie die „Ja, aber-Technik“? Lernt man in „Rethorik I“.

Wenn Ihr Kontrahent ein Argument auf Lager hat, das Sie nicht widerlegen können, dann benennen Sie es kurz – um dann über ein „aber“ umstandslos mit Ihrer Argumentation loszulegen! Der Vorteil: Oberflächlich sieht es so aus, als hätten Sie sich mit der Gegenseite auseinandergesetzt, was natürlich nicht der Fall ist – und Sie sind sofort wieder in der Offensive!

Natürlich sollten Sie diese Technik nicht allzu plump anwenden. Wenn Sie mögen, können Sie das unwiderlegbare Argument Ihres Kontrahenten gerne noch etwas abwerten, indem Sie es lächerlich machen. Sie müssen auch das „aber“ nicht unbedingt wörtlich verwenden – das machen nur die Anfänger! –, wichtig ist einzig und allein, dass Sie lediglich scheinbar auf Ihren Gegner eingehen und ohne logische Verknüpfung bzw. nach scheinlogischer Überleitung mit Ihrer Argumentation fortfahren.

Also, etwa so: „Dieses Sommermärchen hatte den Russen keiner zugetraut! Die WM in Russland war, es muss unumwunden zugegeben werden, hervorragend organisiert. Alles klappte reibungslos, auch außerhalb der Fußballstadien: Die Russen zeigten sich locker wie nie, es gab keine Straßenschlachten, auch der befürchtete Terroranschlag fiel aus. Unauffällig im Hintergrund haben Putins Sicherheitsorgane ausgezeichnete Arbeit geleistet. Diese neue Professionalität werden künftig auch die Oppositionellen zu spüren bekommen!“ Sehen Sie: Es geht auch ohne „aber“!

Schauen wir uns unter diesem Gesichtspunkt mal einige WM-Bilanzen unserer Qualitätsmedien an!

Montag nach dem Endspiel, Spiegel Online: „So schön war Russland. Aber…“1 Liebe Qualitätsjournalist*innen, Sechs! Sorry, aber so geht das nicht! Das ist ja nicht besser als seinerzeit Alice Botas „Ja-aber-Stadt“2 Moskau. Ich hatte gesagt: Nicht so plump!! Das hier ist Erstklässerniveau.

Nachts ist es kälter als draußen!

Fußball ist schön – die Sorgen der Russen sind größer.“3 Erheblich besser vom Virtuosen der kreativen Privatlogik!4 Zwei stilistische Feinheiten sagen mir besonders zu: Erstens kommt er ganz ohne das tölpelhafte „aber“ aus – das ersetzt der ominöse Gedankenstrich – und zweitens die Logik… Die Sorgen der Russen sind größer als der Fußball schön ist. Und nachts ist es kälter als draußen! Zwei plus.

Fans haben eine Ausnahmesituation in Russland erlebt.“5 Das ist einerseits elegant, weil hier das „Ja, aber!“ sozusagen in die „Ausnahmesituation“ hineingerutscht ist. Allerdings geht dem Satz als Ganzen jegliche stilistische Brillianz ab. Gerettet wird das im folgenden Deutschlandfunkbeitrag auch nicht durch Gesine Dornbüths Wort von der „Parallelwelt“. Das ist nur eine semantische Variation des Wortes „Ausnahmesituation“! Noch befriedigend – mit Rücksicht auf die Eltern!

Claudio Catuognos „Ja, aber“-Kommentar gelingt es allerdings, Dornblüths stilistisches Niveau noch deutlich zu unterbieten: Zwar muss auch er konzedieren, dass immerhin die ausländischen Fußballfans, „Mexikaner mit ihren karussellgroßen Sombreros, die Schweden mit ihren Wikingerhelmen, die musizierenden Senegalesen“6 den Russen „wenigstens ungewohnte Offenheit vorgelebt“ hätten. (By the way: Immer sind es die ausländischen Entwicklungshelfer, die den russischen Eingeborenen beibringen müssen, wie man ausgelassen feiert!) Der erwartete Anschluss erfolgt dann allerdings äußerst linkisch: „Nachhaltig wäre all das aber nur, wenn Wladimir Putin es für geboten hielte.“ Was natürlich nicht der Fall ist! Vier minus.

Und die „Welt“ überrascht

Wie erleichternd auf diesem Hintergrund, dass es in den Qualitätsmedien jedoch auch einen Kommentar gab, der ohne jedes „Wenn …“ und „Ja, aber“-Geeiere auskam! Und wie überraschend, dass er auch noch ausgrechnet in der „Welt“ veröffentlicht wurde! Dort war unter dem unzweideutigen Titel „Deutschland sollte sich moralisch nicht so aufspielen“7 am Samstag vor dem Endspiel tatsächlich folgendes zu lesen: „Welche schrecklichen Geschichten über Russland werden wohl vor dem Anpfiff noch berichtet? Wenn die WM nach den Kriterien politischer Moral vergeben würde, dann hätte es die Fifa künftig schwer, einen passenden Ort zu finden. Weder die Türkei noch Ungarn, Italien, Japan, Frankreich, Großbritannien, weder Amerika noch Australien oder Afrika wären geeignet, denn alle sitzen auf den Leichenbergen ihrer Vergangenheit. Es müssten wohl oder übel alle Weltmeisterschaften in Deutschland stattfinden. Aber … war da nicht was?“

Hut ab, liebe Kathrin Spoerr! Diesen Kommentar von Ihnen – und auch noch in diesem Medium – kann ich nur vorbehaltslos bewundern.

Ohne jede Ironie. Und ohne jegliches „Ja, aber!“

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.