Giftgas, Russland und die Mutation des Konjunktivs – Wie NATO-Generalsekretär und Qualitätsmedien sich gegenseitig den Ball zuspielen
Veröffentlicht am: 20. März 2018
Die Mischung macht‘s! Das gilt auch für die Demagogie. Plumpe Lügen nimmt einem keiner mehr ab, etwas raffinierter muss es schon sein. Das Qualitätsmedium ZEITonline zeigt auch hier wieder vorbildlich, wie man das anstellt.
von Leo Ensel
Noch ist nichts bewiesen, aber im Westen weiß man sofort Bescheid. Giftgas, Doppelagent, Russland, Putin – der Pawlow‘sche Hund lässt grüßen. Freies Assoziieren wie auf der Analytikercouch fördert auch hier die tiefere Wahrheit zutage: Wenn in England ein russischer Ex-Spion mit höchstgefährlichem Giftgas attackiert wird, dann kann nur Putin dahinterstecken – war ja schließlich beim letzten Mal auch so! – Oder?
So eine Chance darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Darauf muss möglichst schnell und entschlossen reagiert und alles muss professionell verkauft werden. Ersteres war Sache von NATO-Generalsekretär Stoltenberg, letzteres übernahm das Qualitätsmedium ZEITonline.
Russland wirft demnächst die Atombombe
Dort fährt man starke Geschütze auf. War die Überschrift „Russland wird immer unberechenbarer und immer aggressiver“ in diesem Kontext noch erwartbar, geht es im Teaser dann richtig zur Sache: „Der NATO-Generalsekretär warnt nach dem Giftanschlag in Großbritannien vor neuen Bedrohungen durch Russland. Er sieht die Gefahr eines Einsatzes von Nuklearwaffen.“1 Man lasse sich das auf der Zunge zergehen: Weil ein ehemaliger Doppelagent in England Opfer eines Giftgasanschlages wurde, wird Russland demnächst die Atombombe werfen! Darunter macht es der Sekretär der NATO-Generäle nicht.
Ein solch ungeheuerlicher Vorwurf bedürfte natürlich einer soliden Begründung. Statt dessen liefern Qualitätsmedium und Generalsekretär im Wechselspiel eine Kausalität suggerierende Assoziationskette aus viel Dichtung und wenig Wahrheit. Frei nach dem Motto „Die Wahrheit lügen!“ startet ZEITonline formal einigermaßen korrekt, indem es immerhin von einem „Russland zugeschriebenen“ Giftanschlag spricht, bevor dann Stoltenberg selbst das Wort überlassen wird. Dieser spricht wolkig vom „Ausdruck eines bestimmten Musters“, das er durch eine Reihung der bekannten westlichen Vorwürfe gegenüber Russland rasch skizziert, wobei er sich differenzierende Begrifflichkeiten bzw. Begründungen schenkt: „Annexion der Krim“, „Stationierung von Truppen in Georgien“ (warum eigentlich nicht auch in Moldawien?) und zahlreiche Cyberattacken. Neuerdings würden Nuklearwaffen in die russische Militärdoktrin und in Militärübungen zusammengeführt. Es bestehe „die Gefahr, dass die russische Regierung sich schrittweise vom Einsatz konventioneller Waffen in Richtung Nuklearwaffen bewegen könnte“. Dass die USA gerade das Gleiche machen – geschenkt!
So läuft denn alles zielsicher auf den folgenden unausgesprochenen Satz hinaus, den Stoltenberg aber selbstverständlich so nicht in den Mund nimmt: Russland hat mit Giftgas (also einem Massenvernichtungsmittel) Großbritannien – will sagen: die gesamte westliche Welt – angegriffen und wird daher demnächst mit Atombomben noch eins drauflegen! Die Konsequenz folgt auf dem Fuße: Die NATO-Staaten müssen darum ihre Verteidigungsbereitschaft und ihre Fähigkeiten – welche eigentlich? – weiter verbessern. Weshalb Stoltenberg schon mal den Ball an die Bundeskanzlerin weiterspielt und nebulös raunt: „Ich denke, dass Kanzlerin Merkel und ihre Kollegen beim NATO-Gipfel im Juli in Brüssel neue Entscheidungen treffen werden. Wir müssen wachsam und entschlossen sein.“ Russland dürfe sich nicht verkalkulieren. „Wir sind jederzeit bereit zu antworten, wenn ein Verbündeter militärisch angegriffen wird.“
Hurra, der Feind ist wieder da!
Subkutan swingt hier in einer Endlosschleife der erleichterte Satz: „Hurra, der Feind ist wieder da!“ Aber da die NATO ja ein Friedensbündnis ist, schließt Stoltenberg pflichtgemäß mit den Worten: „Wir wollen keinen Krieg.“ Ziel der NATO sei vielmehr die Deeskalation.
Nun bleibt es wieder dem Qualitätsmedium vorbehalten, den Sack mit etwas sachlicher klingenden Formulierungen zuzumachen: Im Abspann ist ziemlich unvermutet plötzlich die Rede davon, dass Großbritannien Russland für den Giftgasangriff „verantwortlich mache“ und die meisten westlichen Staaten sich der britischen Entscheidung angeschlossen hätten, obgleich – man höre und staune!! – „eindeutige Beweise bislang nicht vorliegen.“ Und um die Verwirrung komplett zu machen, wird dann abschließend auf einmal Ex-Außenminister Gabriel mit sehr eindeutigen Worten zitiert: „Jemand ist solange unschuldig, bis jemand das Gegenteil bewiesen hat. (…) Ich rate uns dazu, als Deutsche und Europäer in der Debatte sich nicht hineintreiben zu lassen in eine immer schriller werdende öffentliche Diskussion.“ Diese den Sachverhalt erheblich besser treffenden abgewogenen Sätze Gabriels werden folgenlos noch schnell an den Text drangeklebt – und Schluss!
Was denn nun eigentlich die Generalaussage dieses Artikels von ZEITonline sein soll, bleibt angesichts des völlig disparaten Textes formallogisch zwar im Nebulösen, allerdings wird diese Unentschiedenheit konterkariert durch die drastischen Behauptungen in der Überschrift, die ja die Wahrnehmung des Lesers lenken und schließlich bestimmen.
Auch so kann man Demagogie betreiben!
PS:
Damit wir uns rechtverstehen: Natürlich könnte Russland es gewesen sein – ebenso wie Usbekistan, Georgien, Belarus oder die USA und Andere. Im Konjunktiv ist eben vieles möglich. Problematisch wird es allerdings, wenn der Konjunktiv zum Indikativ mutiert: Weil es möglich ist, war es auch so! Und wenn auf Basis dieser schrägen Logik dramatische Fakten geschaffen werden, die im schlimmsten Falle irreversibel sind.
Mit der von Gabriel reklamierten Unschuldsvermutung, dem Grundprinzip jedes rechtsstaatlichen Verfahrens, hat dies allerdings nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun!