Friedbert Pflüger: Ein CDU-Mann auf den Spuren Willy Brandts – oder: Ungewohnt moderate Töne im DLF

Veröffentlicht am: 11. Januar 2022

Ausgerechnet im Deutschlandfunk waren am vergangenen Samstag erstaunlich nachdenkliche und nachdenkenswerte Thesen zur neuen West-Ost-Konfrontation zu vernehmen. Und sie kamen weder aus der Ampel-Koalition noch von der AFD oder der Linkspartei.

von Leo Ensel

Es gibt sie noch, die Stimmen der Vernunft! Oder gibt es sie vielleicht wieder? Neuerdings kann man jedenfalls die eine oder andere bisweilen sogar in den Leitmedien vernehmen. Und das auch noch aus politischen Lagern, wo man dies am Wenigsten erwartet hätte.

Es begann am Vernehmlichsten am 5. Dezember mit dem realpolitisch fundierten Appell1 zur Deeskalation überwiegend transatlantisch orientierter deutscher Ex-Botschafter und -Generä­le. Und am letzten Samstag konnte man morgens ausgerechnet im chronisch russlandfeindlichen Deutschlandfunk mit großer Überraschung und Freude vernehmen, dass auf der faden DLF-Wassersuppe endlich mal ein Fettauge schwamm! Der CDU-Politiker und ehemalige enge Mitarbeiter Richard von Weizsäckers, Friedbert Pflüger2, präsentierte unerwartet nachdenkliche und nachdenkenswerte Thesen zum Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, wie man sie heutzutage in der Partei der Entspannungspolitik a.D. nur noch sehr selten und in der ehemaligen Partei der Friedensbewegung seit Jahrzehnten so gut wie gar nicht mehr zu hören bekommt. Sie verdienen es, hier etwas ausführlicher dargestellt zu werden.

Wertegebundene Außenpolitik“ – eine realpolitische Umdeutung

Der Ball, den der DLF-Redakteur Jürgen Zurheide dem CDU-Politiker zur Eröffnung zuspielte, hatte es gleich in sich: Es war die berühmte „Wertegebundene Außenpolitik“, die seit einem Monat aus einem gewissen Haus am Berliner Werderschen Markt stakkatohaft in die ganze Welt gefunkt wird. Ob dieser Begriff zu „idealistisch“ sei, wollte der DLF-Redakteur wissen. Die Antwort Pflügers war äußerst geschickt: Natürlich – wie konnte es auch anders sein! – kam er Zurheide erstmal entgegen, indem er „die Bedeutung der Menschenwürde vor dem Hintergrund unserer Geschichte“ konstatierte. Es sei richtig, „bei der Außenpolitik nicht nur auf die eigenen Interessen zu schauen, sondern auch auf eine gewisse Wertebindung“. Aber bereits der folgende Satz signalisierte – moderat in der Tonlage, aber klar in der Sache – eine unmissverständliche Distanzierung von den forschen Tönen der jungen grünen Außenministerin:

Das darf aber nicht dazu führen, dass wir uns selbst überschätzen, dass wir zu neuen selbstgerechten moralischen Kreuzzügen aufbrechen, auf andere Nationen hinabblicken und dass wir sagen: ‚Am deutschen Wesen soll die Welt genesen‘!“

Ob sich denn aus einer „wertegebundenen Außenpolitik“ auch die gegenwärtig immer wieder zu hörende Forderung, sich „entschlossen zu positionieren“ ergebe, fragte Zurheide und wagte sich mit dem angefügten Stichwort „Ist das die Überforderung, von der Sie gerade gesprochen haben?“ für DLF-Verhältnisse vergleichsweise weit aus der Deckung. Und Pflüger wandte nochmals die zu Beginn bereits angeschlagene Argumentationstechnik an:

Unser klares Menschenbild verlangt die Verurteilung der Verletzung von Menschenrechten. Aber zu wertgebundener Außenpolitik gehört auch die Bewahrung des Friedens! Von Willy Brandt stammt der sehr bedeutende Satz: ‚Der Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts.‘ Das heißt: Wenn wir nur uns hinstellen und immer weiter an der Eskalationsspirale drehen, immer nur weiter fordern, drohen, Sanktionen aussprechen, aber nicht auch Dialog, neue Abrüstung, eine neue Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, wie sie neulich führende Generäle und Diplomaten vorgeschlagen haben, der anderen Seite anbieten, dann machen wir einen Fehler! Wir müssen uns schon gegen Unrecht auf der Welt positionieren; wir müssen aber vor allem auch bei uns selbst in der Europäischen Union die Menschenrechte leben. Und wir müssen sehen, was wir in anderen Ländern wirklich ausrichten können. Sich nur aufzuplustern, bringt sehr wenig! Ich glaube, dass der Dialog und das Miteinander-Sprechen und das Lösen von Problemen am Verhandlungstisch nach wie vor das allergrößte und wichtigste Gebot in Politik und Diplomatie ist.“

Ungewohnte Töne. Für die CDU und erst recht für den Deutschlandfunk! Und inhaltlich hatte Pflüger unter der Hand mal eben die pompöse, im Worst Case in einen „Werte-Militarismus“ mündende Baerbock‘sche Formel realpolitisch umgedeutet und fundiert.

Wir können nicht die ganze Welt nach unserem Bildnis formen!“

„Was Russland gerade betreibt, dass Russland aggressiv ist – diesen Satz unterschreiben Sie? Oder ist das eine zu westliche Sicht der Dinge, wie wir sie im Moment auch bis hin in die grüne Partei sehen?“, wollte Zurheide wissen. (By the way: Wer ein Ohr für Zwischentöne hat, sozusagen zwischen den Zeilen hören kann, der könnte auch aus den Fragen Zurheides eine vorsichtige Distanzierung vom täglich 24 Stunden lang ausgestrahlen DLF-Narrativ heraushören …)

Pflüger blieb seinem Argumentationsmuster treu: Natürlich sei ein Truppenaufmarsch und die damit verbundene Drohung ein nicht akzeptables „Muskelspiel“. Allerdings solle man auch mal die Frage stellen, wie es überhaupt dazu gekommen sei. „Und der Versuch mit Dialog und Diplomatie einen Konflikt zu lösen – wie kommende Tage im NATO-Russland-Rat oder im strategischen Dialog von amerikanischen und russischen Top-Diplomaten –, ist nicht gleich Appeasement oder Verrat an den eigenen Werten! Es gibt auch den legitimen Versuch zu Entspannung und zu wirklichem Dialog.“

Auch über die jüngsten Ereignisse in Kasachstan äußerte Pflüger sich differenziert. Zwar lehne er den Schießbefehl des Präsidenten auf Demonstranten klar ab, allerdings müsse man genau hinschauen, was dort passiere. Es seien auch Soldaten und Polizisten geköpft und Amtssitze von Bürgermeistern gestürmt worden. Und dann redete Pflüger Klartext: „Vor allem müssen wir uns fragen, was wir konkret machen können und was die Alternative ist. Zu einer wertgebundenen Außenpolitik gehört manchmal auch die Einsicht, dass man nichts ändern kann! Dass man nicht die ganze Welt so prägen kann, wie man das gerne möchte. Das hat nichts mit moralischer Gleichgültigkeit zu tun, sondern das ist die Einsicht in die Tatsache, dass andere Regionen andere Werte, andere Traditionen haben. Die mögen uns nicht gefallen, aber wir können nicht die ganze Welt nach unserem Bildnis formen!“

Eine „Klima-KSZE“

Leidenschaftlich warb Pflüger für die jüngst von den hochrangigen Ex-Generälen und Botschaftern in die Diskussion gebrachte Idee einer neuen großen auf zwei Jahre angelegten Europäischen Sicherheitskonferenz unter Beteiligung der USA und Kanada, bei der es neben Menschenrechten auch um ökonomische Zusammenarbeit, den Abbau von Sanktionen, Rüstungskontrolle und eine gemeinsame Klimapolitik gehen solle: „Wir brauchen so etwas wie eine ‚Klima-KSZE‘! Ganz egal, wo wir auf der Welt politisch stehen und welche Werte wir haben: Die Aufgabe, diesen Planeten vor der Erderwärmung zu schützen, ist eine gemeinsame Aufgabe. Und vielleicht kann doch gerade aus dem Geist einer solchen Politik auch wieder neues Vertrauen entstehen!“

Man werde weder Putin noch die Chinesen durch Sanktionen in die Knie zwingen können. Es sei hier zwar wichtig, selbstbewusst die eigene Position zu vertreten, allerdings sei Interessenausgleich ebenso geboten. „Und wir müssen uns auch einmal die Lage aus der Sicht des Anderen ansehen. Das ist ein Grundprinzip von Außenpolitik und Diplomatie. Wir dürfen das nicht abtun und sagen, dass wir immer nur recht haben!“

Immerhin sei 1969, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, unter Führung von Willy Brandt eine sozial-liberale Regierung an die Macht gekommen, die mit dem Ergasröhrengeschäft ein Projekt zur Kooperation mit der Sowjetunion gestartet habe. Diese „Interdependenz der Interessen“, die auch die schwersten politischen Krisen überlebt habe, trage nun seit 50 Jahren dazu bei, den Frieden in Europa zu stabilisieren. Ähnliches könne nun eine Zusammenarbeit in der Klimapolitik leisten: „Das hat nichts mit Idealismus zu tun, sondern es ist der Versuch, ganz langsam wieder neues Vertrauen aufzubauen! Gibt es dazu eine Alternative?“

Die Stimme der Vernunft

Noch einmal: Hier sprach nicht etwa ein SPD-Mitglied, dieser geistige Erbe Willy Brandts ist ein ausgewiesener CDU-Mann! Und man kann die formalen Erben der Brandt-Partei und erst recht die Mitglieder der ehemaligen Partei der Friedensbewegung nur ermuntern, sich mal intensiver mit den klugen und ausgewogenen Positionen Friedbert Pflügers zu beschäftigen. (Wie stramm sich dagegen auch führende SPD-Politiker gegen Russland positionieren, hat gleich zwei Tage später ein – ebenfalls vom Deutschlandfunk gesendetes – Interview3 mit dem neuen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, demonstriert.)

Kurz: Die Stimme der Vernunft, die sich seit einigen Wochen im politischen Diskurs vermehrt zu Wort meldet, ist keine Frage der Parteizugehörigkeit. Man vernimmt sie mittlerweile in allen politischen Lagern. Dass sie bisweilen nicht etwa von den üblichen Verdächtigen, sondern auch von dezidierten Transatlantikern kommt, macht diese Stimme umso wertvoller. Es könnten im optimalen Falle die ersten Pflänzchen einer realistischeren Russlandpolitik sein, deren Grundaxiome wären, russische sicherheitspolitische Bedürfnisse als gleichberechtigt anzuerkennen und wieder zum zentralen Satz der „Charta von Paris“ zurückzufinden:

Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“

Hoffen wir, dass die vielen Einzelstimmen zu einem starken Chor zusammenfinden. Und hoffen wir, dass diese kleine Eloge auf Friedbert Pflüger – ausgerechnet bei RT DE – diesem nicht etwa auch noch schaden wird! So paranoid sind die Zeiten heute leider immer noch.

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.