Flugzeugabschuss in Teheran: Deeskalation jetzt! – Auch zwischen dem Westen und Russland!
Veröffentlicht am: 13. Januar 2020
Der versehentliche Abschuss des ukrainischen Passierflugzeugs über Teheran eignet sich nicht zur geopolitischen Instrumentalisierung. Er zeigt vielmehr exemplarisch, welche Katastrophen zu Spannungszeiten unter extremem Zeitdruck immer wahrscheinlicher werden.
von Leo Ensel
Nun also doch. Die iranische Regierung hat am Samstagmorgen zugegeben, die Boeing 737 der ukrainischen Fluggesellschaft in der Nacht zum letzten Mittwoch abgeschossen zu haben. 176 Menschen mussten sterben, weil in einer höchstangespannten kriegerischen Konfliktsituation sich die Dinge sehr wahrscheinlich verselbständigten.
Die Erklärung des Iran, es habe sich hier um ein Versehen gehandelt, klingt glaubwürdig. Auch wenn man sich gewünscht hätte, dieses Eingeständnis wäre frühzeitig erfolgt und nicht erst zu einem Zeitpunkt, wo die Fakten offensichtlich nicht mehr zu leugnen waren. Keine Frage: Dies war, vorsichtig gesprochen, keine informationspolitische Meisterleistung des Teheraner Regimes! Allerdings steht der Iran mit diesem Verhalten – leider! – nicht alleine da.
Jetzt ist nicht die Zeit für wechselseitige Schuldzuweisungen, jetzt wäre die Zeit für alle direkt und mittelbar involvierten Akteure, zehn Schritte zurückzutreten, mit kühlem Kopf die gesamte Dynamik, die zu dieser Katastrophe führte, zu analysieren und Konsequenzen zu implementieren, die ein solches Ereignis für die Zukunft nach menschlichem Ermessen unmöglich machen. – Im gegenwärtigen Konflikt zwischen den USA und dem Iran, aber auch anderswo!
Ein einzelner Mensch, dem nur ein Zeitfenster von zehn Sekunden für eine Entscheidung solcher Tragweite zur Verfügung stand, kann unmöglich zum alleinigen Sündenbock für diese Katastrophe instrumentalisiert werden. Selbst dem Oberstleutnant der Sowjetarmee, Stanislaw Petrow1, der in der Nacht vom 26. September 1983 sehr wahrscheinlich einen Dritten Weltkrieg verhinderte, weil er angesichts einer fünfmaligen Alarmmeldung des Raketenabwehrsystems die Nerven behielt und diese – wie sich später herausstellte, zu Recht – als Fehlalarm wertete, hatten damals immerhin noch circa zehn Minuten für eine Entscheidung zur Verfügung gestanden!
Die Lehre aus dem schrecklichen Ereignis kann nur lauten: In Zeiten extremer Spannungen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit solcher „Fehler“ in astronomischer Geschwindigkeit!
Machen wir uns nichts vor: Was in Teheran passierte, kann – namentlich in Spannungszeiten – überall auf diesem Globus geschehen. Und daher jederzeit auch zwischen der NATO und Russland. So hat ausgerechnet ein eher der NATO nahestehender militärpolitischer Think Tank, das „European Leadership Network“ (ELN) allein in dem Jahr seit Beginn der Krimkrise bis März 2015 insgesamt 66 „Critical Incidents“ zwischen den Streitkräften der NATO und Russlands – vor allem über der Baltischen See und dem Schwarzen Meer – registriert2, davon drei, die unter die Kategorie „High Risk“ fielen. Und kein Geringerer als Michail Gorbatschow erklärte vor fünf Jahren in einem Interview mit dem Spiegel3: „Wenn angesichts dieser angeheizten Stimmung einer die Nerven verliert, werden wir die nächsten Jahre nicht überleben. Ich sage so etwas nicht leichtfertig. Ich mache mir wirklich allergrößte Sorgen.“
Mit einem Wort: Je angespannter die Konfliktsituation, je kürzer die Vorwarnzeiten, desto größer die Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen von im Worst Case bis zu apokalyptischen Ausmaßen. Die Tendenz, angesichts dieser beunruhigenden Entwicklung immer mehr Entscheidungen an sogenannte „künstliche Intelligenz“, sprich: an Computer, sprich: an Algorithmen zu delegieren, ist alarmierend. Die Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen, den heute kein ‚Petrow‘ mehr verhindern könnte, ist durchaus realistisch!
Die fürchterliche Katastrophe von Teheran ist daher geradezu paradigmatisch für die gesamte Entwicklung. Es kann daraus nur eine Konsequenz geben: Solch extrem zugespitzte Situationen dürfen erst gar nicht eintreten!
Also: Deeskalation! Weltweit! Nicht zuletzt zwischen dem Westen und Russland.