Die russische Frau, der russische Mann und „Die Zeit“ – Genderforschung im Qualitätsmedium
Veröffentlicht am: 6. November 2018
Nach den Native-Americans und den Aborigines hat der Westen nun die letzten noch zu zivilisierenden Eingeborenen entdeckt: die Native-Russians! Ganze Heerscharen postmoderner Missionare erkunden die russische Frau und den russischen Mann. Vorneweg: „Die Zeit“.
von Leo Ensel
Die russische Frau und den russischen Mann gibt es in der Zeit nur im Singular. Vermutlich leben die beiden in den riesigen Weiten des größten Flächenstaates der Erde einsam wie Adam und Eva. Bei Qualitätsjournalistin Alice Bota liest sich das in ihrer Hommage an die russische Frau so:
„Früher flog sie ins Weltall, kämpfte als Soldatin, zettelte Revolutionen an. Heute wählt sie Wladimir Putin zum Präsidenten und lässt sich von ihrem Ehemann verprügeln. Wie die russische Frau zu einem Wesen wurde, das nicht mehr stark sein darf.“1
Das sind in der Tat brennende Fragen, die nach qualifizierten Antworten aus dem Westen schreien!
„Den Faschismus besiegen oder sich vom Ehemann verprügeln lassen“
Halten wir vorerst fest: Die – Singular! – russische Frau saust entweder tollkühn durch den Kosmos bzw. attackiert todesmutig zaristische und faschistische Truppen (Sowjetunion) oder sie lässt sich mit frisierten Haaren und lackierten Fingernägeln von ihrem Mann den Hintern versohlen („Putins Russland“). Tertium non datur beim Flaggschiff des deutschen Qualitätsjournalismus!
Überrascht noch die Sowjetnostalgie ausgerechnet in der bildungsbürgerlichen Zeit, so ist die Vorstellung, die postkommunistische Ost-Frau bedürfe grundsätzlich der westlichen Entwicklungshilfe, spätestens seit dem Mauerfall in den grünalternativen Intellektuellenzirkeln des Westens ein unbestrittener Topos. Unvergessen die klassische Szene in einer Charlottenburger Buchhandlung im April 1990: Eine Frau aus Marzahn fragt den Buchhändler: „Haben Sie ein Wörterbuch der westdeutschen Sprache? Mir als Ossi sind hier so viele Worte nicht geläufig!“ Worauf der Buchhändler nachsichtig verbessert: „Es heißt Ossa!“
Neu ist demgegenüber, dass sich die westliche Missionierung mittlerweile so erfolgreich gen Osten ausgebreitet hat, dass es nun schon polnischstämmige Frauen sind, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, die letzten verbliebenen Wilden des Ostens – will sagen: die russische Frau und den russischen Mann – mit den Errungenschaften der westlichen Zivilisation zu beglücken.
„In der Sowjetunion“, schwärmt Alice Bota, „durften Frauen nicht nur von Beginn an einen Beruf ausüben. Sie durften auch wählen, sich ohne Angabe von Gründen scheiden lassen, kostenlos abtreiben, über ihr eigenes Geld verfügen. Durften Ingenieurinnen sein und Physikerinnen, Fabriken leiten und im Zweiten Weltkrieg als Soldatinnen den Faschismus besiegen.“
Da dies zweifelsfrei den Tatsachen entspricht und Bota andererseits ihren Essay von vorneherein antithetisch angelegt hat, kann dies alles – so der von der Autorin insinuierte Umkehrschluss – im heutigen Russland nicht mehr gelten. – Stimmt aber nicht! Liebe Frau Bota, russische Frauen können nach wie vor einen Beruf – Physikerin, Chemikerin, Ingenieurin sogar Qualitätsjournalistin – ausüben. Es gibt inzwischen sehr erfolgreiche Managerinnen kapitalistischer Unternehmen, Leiterinnen außenpolitischer Think Tanks, mutige zivilgesellschaftliche Protagonistinnen, die z.B. die NGO „Soldatenmütter“ gegründet haben und es gibt auch steinreiche Neue Russinnen. Nach wie vor können russische Frauen über ihr eigenes Geld verfügen, sich von ihren Männern scheiden lassen, abtreiben (ob immer noch kostenlos, sei dahingestellt) und was auch immer man von den Wahlen in Russland halten mag: Die russischen Frauen nehmen ihr Wahlrecht genauso selbstverständlich in Anspruch wie die russischen Männer. Nur den Faschismus können sie in der Tat nicht mehr als Soldatinnen besiegen, aber das ist nicht unbedingt die Schuld des russischen Präsidenten!
„Die Haare frisiert, statt nach den Sternen zu greifen“
Aber für Bota hat die russische Frau von heute im Vergleich zu ihrer älteren Sowjetschwester schwer abgebaut:
„Man fragt sich, warum der russischen Frau von heute diese Vergangenheit egal zu sein scheint. Warum sie am 8. März lieber die Haare frisiert und sich bei Wladimir Putin ihr Lob für gutes Betragen abholt, statt nach den Sternen zu greifen.“
Und es kommt noch schlimmer:
„Man stelle sich vor, bei Wahlen würden nur die Stimmen der Frauen zählen und nicht die der Männer. Dann wäre in vielen Ländern die politische Lage eine andere: In Amerika regierte Hillary Clinton, nicht Donald Trump. In Deutschland lägen die Grünen vor der AfD. In den Niederlanden würde die Partei des Rechtspopulisten und Islamhassers Geert Wilders an Einfluss verlieren. In Russland bliebe alles, wie es ist. Wladimir Putin würde gewinnen. So wie er immer gewinnt. Selbst bei seiner schwierigsten, der von Protesten begleiteten letzten Wahl vor sechs Jahren konnte er sich auf die russische Frau verlassen: Laut Umfragen stimmten damals deutlich mehr Frauen für ihn als Männer. Sie machten ihn zum Präsidenten. Sie sind seine zuverlässigsten Anhänger.“
So ist das nun mal: Westfrauen sind emanzipiert und politisch hellwach, die russische Frau dagegen hypnotisiert vom Macho-Kult, ein beklagenswertes, um die Likes ihres Präsidenten buhlendes unpolitisches Hascherl, eine herausgeputzte Maus im Minirock wie die westdeutschen Tippsen der Fünfziger, kurz: ein Wesen, das es verdient, von Marieluise Beck, der Heinrich Böll-Stiftung und Alice Bota auf die rechte Spur gesetzt zu werden.
Transkulturelle Genderforschung à la „Zeit“
So langsam kommt man ins Grübeln: Ist es nicht merkwürdig, dass eine Frau aus einem Milieu, in dem man mit Begriffen wie „Rassismus“ und „Eurozentrismus“ sofort bei der Hand ist, in dem alle sechs Monate eine neue diskriminierte Minderheit entdeckt und das Wort LGBTI*-Menschen jährlich um einen Buchstaben ergänzt wird und wo man penibelst auf Differenzierung, „Diversity“ und Kultursensibilität pocht – wie also ist es möglich, dass eine Journalistin mit diesem Hintergrund über mehr als 78 Millionen russische Frauen nur im Singular spricht, sie in zwei extrem simple, völlig willkürlich konstruierte Schablonen packt, um sie aus einer für selbstverständlich gehaltenen superioren Position heraus halb spöttisch, halb mitleidig unter die Lupe zu nehmen? Ist ihr nicht bekannt – der Jude der Nazis lässt grüßen! –, dass der Rassismus mit dem Singular beginnt? Kann man als Auslandsjournalistin tatsächlich so naiv, jeglicher Selbstreflexion bar, die eigene kulturelle Prägung zum Maßstab aller Dinge erheben? Wäre die Begegnung mit russischen Frauen nicht vielmehr eine Chance gewesen, liebgewordene eigene Patterns zu dekonstruieren oder wenigstens zu hinterfragen?
Ist die Tatsache, dass viele russische Frauen einer bestimmten Altersgruppe mehr Wert auf ein gepflegtes Äußeres legen als ihre Kolleginnen im Westen wirklich nur ein Symptom emanzipatorischer Rückständigkeit? Gibt es für russische Frauen jenseits von Machismo vielleicht auch noch andere Gründe, Putin zu wählen? Lassen sich wirklich alle russischen Frauen wehrlos – fehlt nur noch die Unterstellung „einvernehmlich“ – von ihren Ehemännern verprügeln? Ist es wirklich charakteristisch für den – Singular! – russischen Mann, dass er seine Männlichkeit nur durch Schlagen seiner Ehefrau unter Beweis stellen kann? Oder ist die sich so aufgeklärt dünkende westliche Journalistin nicht unter der Hand selber rassistischen Klischees auf den Leim gegangen? Immer schon wurde das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, mit kontinentgroßen blinden Flecken erkauft! Der Volksmund brachte es bereits vor Jahrhunderten trefflich auf den Begriff: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz!“
„Armer Mann!“
Wie zu befürchten, hat Alice Bota ihr hinreißendes Porträt der russischen Frau natürlich noch um ein ebenso imposantes Bildnis des russischen Mannes ergänzt. Und auch hier dominiert, wie bereits bei dessen porträtiertem weiblichen Pendant, das grenzenlos überhebliche Mitleid der Autorin. „Armer Mann!“2 hat sie ihre Fünf-vor-acht-Kolumne in der Zeit diesmal überschrieben.
„Eigentlich ist der russische Mann arm dran. Was er nicht alles sein soll – Ernährer, Verteidiger, Kämpfer, Retter, Kerl, Macher, Bewahrer, Absicherer, Draufgänger, Eroberer.“
Spätestens jetzt, wo Bota die Attribute langsam ausgehen, wird es höchste Zeit, den zwar nicht glück-, aber doch klickbringenden3 Joker aus der Tasche zu ziehen: Das obligatorische Zitat des russischen Präsidenten. „Ein echter Mann muss es immer versuchen, ein echtes Mädchen sich immer zieren.“ Genau dieses – tatsächliche oder fingierte – Dictum Putins hatte der Zeit-Journalistin noch gefehlt!
Aber der russische Mann kann nicht immer nur wacker seine Ehefrau verprügeln, er hat noch schwererwiegende Probleme. Er ist nämlich Opfer seines eigenen institutionalisierten Machismo: „Männer sterben in Russland statistisch sehr viel früher als Frauen. Nirgendwo auf der Welt ist die Kluft zwischen der männlichen und weiblichen Lebenserwartung größer: elf Jahre. Alkohol, Gewalt, Selbsttötungen, Verkehrsunfälle – das eigentlich bemerkenswerte aber ist, dass es niemanden so richtig zu kümmern scheint, wie es um den russischen Mann steht.“
Außer Alice Bota.
Und so endet denn auch Botas Kolumne, Mitleid und Häme in raffinierter Schwebe haltend, mit folgendem lakonischen Statement: „So zahlt für das Leben in dieser toxischen Männlichkeit am Ende auch der echte Kerl den Preis.“
Ja, so ist das halt. Mit dem russischen Mann und der russischen Frau. Aber am Ende siegt, wie immer, die Gerechtigkeit.
Sogar in Russland.
PS:
Warnung: Die von Alice Bota erstellten Porträts gelten nur für die russische Frau und den russischen Mann! Die Frau und der Mann in Polen, Belarus, der Ukraine (West und Donbass), in Bulgarien, Rumänien, Moldawien, Georgien, Armenien, Kasachstan und Kirgistan sind selbstverständlich völlig anders!
PPS:
Übrigens, Frau Bota: Zur Zeit der Sowjetunion flogen zwei russische Frauen ins Weltall: Als erste Walentina Tereschkowa (Juni 1963) und später – gleich zweimal – Swetlana Sawitzkaja (August 1982 sowie Juli 1984). Aber auch das postsowjetische Russland schoss bislang zwei Frauen ins All: Jelena Kondarowa – ebenfalls zweimal (Oktober 1994 bis März 1995 sowie Mai 1997) – und Jelena Serowa (September 2014 bis März 2015). Die russische Frau, liebe Frau Bota, flog also genauso oft in den Kosmos wie ihre ältere sowjetische Schwester! Nur blieb sie dort noch ein Weilchen länger. Also bitte bei der nächsten antirussischen Polemik für das Flaggschiff des deutschen Qualitätsjournalismus nicht ganz so schlampig recherchieren!