Der „Staubsaugereffekt“ – oder: Deeskalation jetzt!!

Veröffentlicht am: 29. November 2018

Der Critical Incident im Asowschen Meer ist der vorläufige Höhepunkt eines geopolitischen Konfliktes, der sich in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Lebensbereiche einverleibt hat. Je schwieriger der Ausstieg wird, desto dringender ist er geboten.

von Leo Ensel

Haben Sie schon mal etwas vom „Integrationssog“ gehört? Das ist ein Begriff aus der Konfliktforschung, der die Tatsache umschreibt, dass länger andauernde Konflikte die Tendenz haben, sich auszuweiten, genauer: immer mehr Lebensbereiche zu infizieren und in den Ursprungskonflikt zu integrieren. Etwas weniger akademisch könnte man auch von einem „Staubsaugereffekt“ sprechen.

Der Neue Ost-West-Konflikt, so wie er sich spätestens infolge der Ereignisse in der Ukraine Ende 2013/Anfang 2014 dramatisch verschärft hat, ist ein Musterbeispiel dafür. Was mit berechtigten Protesten gegen eine korrupte Regierung auf dem Kiewer Maidan begann, wurde umgehend geopolitisch instrumentalisiert, mit dem Ergebnis, dass sich heute der Westen und Russland als Antipoden eines zweiten Kalten Krieges gegenüberstehen, in dem jeder ‚Critical Incident‘ die Lage nicht nur zusätzlich zuspitzt, sondern auch die Gefahr einer nicht mehr zu kontrollierenden Eskalation in sich birgt – im Worst Case bis hin zu einem Szenario, das, wie beim Ausbruch des I. Weltkrieges, alle mitverursacht, so aber niemand gewollt hätte!

Der Integrationssog: Stufen der Eskalation

Betrachten wir einmal den Konflikt selbst als System und lassen wir in einer Retrospektive kurz die wichtigsten Lebensbereiche Revue passieren, die in den vergangenen fünf Jahren von der Eskalationsdynamik erfasst und einverleibt wurden. Und vergessen wir dabei nicht: „Staubsaugereffekt“ bedeutet zugleich, dass man, sollte endlich eine grundsätzliche Einigung auf Deeskalation gelungen sein, aus allen genannten Bereichen auch wieder aussteigen muss! Mit anderen Worten: Mit zunehmender Ausweitung und Verfestigung des Konfliktes wird der Ausstieg immer komplizierter! – Hier nun die wichtigsten Stationen des sich radikalisierenden Integrationssogs seit November 2013.

  • Demonstrationen auf dem Maidan mit westlicher Politprominenz vor Ort, die in der Folgezeit zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen eskalieren, bei denen unter bis heute ungeklärten Umständen mehr als 100 Menschen getötet werden. (Qualitative Verschärfung des Konflikts bis hin zu mörderischer Gewalt.)

  • Ein verfassungsrechtlich nicht legitimierter Sturz der Regierung in der Kiewer Rada und Installierung einer Übergangsregierung mit drei Ministern des Rechten Sektors, von der sich weite Landesteile – Ostukraine und Teile der Schwarzmeerregion – nicht repräsentiert fühlen. (Landesweite Ausdehnung des Konflikts.)

  • Umgehende Anerkennung der Kiewer Interimsregierung durch den Westen trotz eines noch am Vortage mit allen Konfliktparteien ausgehandelten Kompromisses sowie gleichzeitige Nichtanerkennung dieser Regierung durch Russland. (Spätestens hier mutiert der bislang verdeckte zu einem offenen geopolitischen Konflikt.)

  • Sezession der Krim mit freundlicher Unterstützung grüner Männchen ohne Hoheitsabzeichen und Aufnahme in die russische Föderation. Der russische Sprachgebrauch lautet ab heute: „Wiedervereinigung“, der westliche: „Annexion“. (Der Konflikt erreicht die internationale Ebene. Auf der mentalen Ebene stehen sich ab jetzt zwei konträre Narrative unversöhnlich gegenüber.)

  • Installierung eines, sich seinerseits im Laufe der Zeit immer weiter ausdehnenden Regimes von Sanktionen und Gegensanktionen. (Der Konflikt verleibt sich die Ebene der Ökonomie ein und beschädigt nachhaltig die Wirtschaftskooperation zwischen EU-Staaten und Russland. Indirekte Auswirkungen des Konflikts auf die unter den steigenden Lebensmittelpreisen leidenden ärmeren Bevölkerungsschichten Russlands. Beginn der russischen Strategie von Importsubstitution und verstärkter ökonomischer Kooperation mit China.)

  • Blutbad von Odessa, bei dem mindestens 48 prorussische Demonstranten ums Leben kommen. (Ausdehnung der mörderischen Gewalt von der Zentrale in die Peripherie des Landes.)

  • Sezessionistische Tendenzen in der Ostukraine (Ausrufung der Donezker und Lugansker Volksrepubliken), die von der Kiewer Zentralgewalt und rechten Freikorps mit Militärgewalt bekämpft werden. Beginn eines mittlerweile viereinhalb Jahre dauernden Krieges zwischen Zentralgewalt und abtrünnigen Regionen auf dem Gebiet der Ostukraine. (Eskalation des innerstaatlichen Konfliktes zum Bürgerkrieg mit bislang über 10.000 Toten, der im Laufe der Zeit immer mehr Züge eines Stellvertreterkrieges zwischen dem Westen und Russland annimmt.)

  • Abschuss des Verkehrsflugzeugs MH 17 von Malaysia Airlines über dem Donbass, bei dem alle 298 Passagiere ums Leben kommen. (Der Konflikt fordert nun Opfer unbeteiligter Drittstaaten und affiziert damit diese.)

  • Zahlreiche „Dangerous Brinkmanships“1 – meist über der Baltischen See – zwischen Russland und der NATO seit Frühjahr 2014 bis in die Gegenwart. (Indirekte Internationalisierung und qualitative Eskalation des Konflikts bis an den Rand einer – versehentlichen – militärischen Konfrontation zwischen NATO und Russland.)

  • NATO-Beschluss zur Aufstellung einer schnellen Eingreiftruppe. In der Folgezeit Verlegung von 4.000 (zeitlich rotierenden) NATO-Soldaten nach Polen und ins Baltikum sowie weiterer 4.000 US-Soldaten unter äußerst kreativer Auslegung der NATO-Russland-Grundakte von 1997. (Der Konflikt mutiert zum Anlass, dauerhaft Truppen unmittelbar vor der russischen Haustür zu stationieren. Aushöhlung von Verträgen, die einmal beiden Seiten Sicherheit garantieren sollten.)

  • Verschärfung der Militärdoktrinen sowohl in Russland als auch in den USA, die beide einen frühzeitigeren Einsatz von Nuklearwaffen nicht mehr ausschließen. (Der Konflikt erreicht die Ebene der Militärstrategien der verbliebenen Supermächte und restituiert das alte Freund-Feind-Schema.)

  • Streit zwischen Moskauer und Kiewer Patriarchat bzw. dem Patriarchat von Konstantinopel. (Der Konflikt infiziert die Sphäre der Religion.)

  • Umfangreichste Militärmanöver von NATO und Russland seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. (Der Konflikt bewirkt eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaften in den NATO-Staaten und Russland.)

  • Kündigung des INF-Vertrages durch die USA. (Eliminierung eines weiteren zentralen Bausteins der internationalen Sicherheitsarchitektur. Nach Umsetzung dieser Maßnahme könnte angesichts extrem verkürzter Vorwarnzeiten jeder lokale Konflikt unmittelbar zu einem „atomaren Schlagabtausch“ zwischen dem Westen und Russland eskalieren.)

  • Critical Incident im Asowschen Meer; (zeitlich begrenzte) Ausrufung des Kriegsrechts in der Ukraine; Bitte des ukrainischen Präsidenten, NATO-Marineschiffe im Asowschen Meer zu stationieren. (Räumliche Ausdehnung des Ausgangskonfliktes, Radikalisierung der geforderten Konsequenzen, die bei einer Realisierung die Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation zwischen NATO und Russland dramatisch erhöhen würden.)

Soweit die – mit Sicherheit unvollständige – Auflistung der Lebensbereiche, die sich der Ukrainekonflikt, kumulativ radikalisierend, im Laufe von fünf Jahren einverleibt hat, wobei schwerer messbare ‚Soft Facts‘ wie die Zerstörung des Vertrauens zwischen den politischen Akteuren sowie die zunehmende mentale und emotionale Entfremdung der Bevölkerungen noch gar nicht mitberücksichtigt sind. Und noch einmal: Aus all diesen Bereichen muss man irgendwann auch wieder aussteigen, wenn der Konflikt sich nicht verewigen bzw. noch weiter eskalieren soll!

Deeskalation jetzt!!

Extrapoliert man nun die verheerende Dynamik des Integrationssogs in die Zukunft, so müsste für jeden vernünftig denkenden Menschen offensichtlich sein, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Der Ausstieg ist eh schon schwierig genug. Umso dringender ist er geboten!

Eine gute Nachricht gibt es immerhin: Die Bevölkerungen wollen keine weitere Eskalation! Trotz kontinuierlich russlandfeindlicher Berieselung durch die Mainstreammedien sprachen sich einer Umfrage der Körber-Stiftung zufolge2 im Herbst 2017 95% der Deutschen und 80% der Polen für eine politische Wiederannäherung von Europäischer Union und Russland aus. In Russland waren es zwei Drittel der Befragten. Die Eskalationspolitik wird demnach gegen den Willen der Bevölkerungen durchgezogen.

Praktikable Vorschläge für eine neue Entspannungspolitik, die – guten Willen aller Beteiligten vorausgesetzt – nicht allzu schwer umzusetzen wären, liegen ebenfalls längst vor. Ich skizziere nochmals stichwortartig das anderweitig3 bereits ausführlicher vorgestellte Konzept der ehemaligen ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz: Verzicht des Westens auf die Fertigstellung und Inbetriebnahme des geplanten Raketenabwehrsystems; Rückzug der russischen Iskander-Raketen aus dem Kaliningrader Oblast; Einberufung einer großen Konferenz zur gemeinsamen Sicherheit in Europa und der Welt; Einfrieren des Ukrainekonflikts auf der Basis des Minsk II-Abkommens; Stationierung von UN-Friedenstruppen in der Ostukraine und anderen Hot Spots im postsowjetischen Raum; Erklärung der Krim zum Mandatsgebiet der UN und Durchführung eines international verbindlichen Volksentscheids unter UN-Aufsicht über die staatliche Zugehörigkeit der Halbinsel; Einrichtung eines entmilitarisierten Korridors zwischen NATO und Russland; Stop der NATO-Erweiterung, insbesondere was die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine und Georgien angeht; Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Abrüstung konventioneller Waffen in Europa. – Ich würde noch ergänzen: Visafreiheit zwischen der EU und Russland sowie mit der allerhöchsten Prioriät: Rücknahme der Kündigung des INF-Vertrags und Anpassung des Vertrags an die geopolitischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts.

Der Wille der Bevölkerungen ist also vorhanden. Realistische Konzepte für den Entspannungsprozess ebenfalls. Was nach wie vor fehlt, ist eine kraftvolle und breite internationale Bewegung von unten, die die offizielle Politik zur Deeskalation zwingt.

Es wird höchste Zeit, dass sich das ändert!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.