„Der Schlagstock sitzt wieder lockerer!“ – „Putins Spiele“ und die Qualitätsmedien (IX)

Veröffentlicht am: 3. Juli 2018

Fußballweltmeisterschaft – und das auch noch in Russland! Diese explosive Mischung, kurz „Putins Spiele“ genannt, versetzt die deutschen Qualitätsmedien in strudelnde Erregung. – Ein kontinuierlicher genauerer Blick auf Berichterstattung und Kommentare.

von Leo Ensel

Maxim Kireev ist ein bienenfleißiger Nachwuchsjournalist. Seit fast zwei Wochen liefert er nahezu täglich aus St. Petersburg für Spiegel Online1 eine kleine Nadel, die sein derzeitiger Hauptabnehmer dann mit süffisantem Grinsen in den bunten russischen WM-Luftballon pieksen kann. Und es spricht mittlerweile alles dafür, dass genau dies Kireevs Auftrag ist. Bei allem Zauber des Fußball-Sommermärchens darf schließlich niemals in Vergessenheit geraten, dass Russland keine westliche Demokratie ist und Zar Putin das ganze Spektakel nur organisiert, um von äußeren Kriegen und inneren Problemen abzulenken, kurz: um seine Machtstellung zu festigen.

By the way: Dass dies offenbar mit solch hartnäckiger Konsequenz ununterbrochen durchgezogen werden muss, spricht nicht unbedingt für die Effektivität westlicher Propaganda. Nach wie vor befürworten denn auch 80% der Deutschen ein besseres Verhältnis zu Russland.

Kireev jedenfalls liefert und liefert. Irgendwas findet sich immer, um die geforderten 2000-Zeichen-Beiträge pünktlich nach Hamburg abzusenden. Dass die Substanz nicht selten äußerst dünn ist und sich bisweilen auch peinliche sachliche Fehler einschleichen, scheint bei Spiegel Online niemanden groß zu stören. So auch heute wieder.

Woronesch, eine Millionenstadt an der Wolga“

Es beginnt wie immer, Sie erinnern sich2, mit dem obligatorischen WM-Bezug: „Offenbar haben sich einige Fans in Russland an die neue Lockerheit der Polizei während der WM gewöhnt.“3 Nun muss das dicke Ende kommen, das dann auch auf dem Fuße folgt: „Doch längst nicht überall sind die Beamten so lässig wie in den WM-Städten. In Woronesch, einer Millionenstadt an der Wolga südlich von Moskau, kletterte ein junger Mann nach Russlands Einzug ins Viertelfinale jubelnd auf einen Polizeiwagen. Herbeigeeilte Beamte schlugen mit Gummistöcken auf ihn ein, auch als er schon am Boden lag. Passanten hielten den Vorfall auf Video fest.“

Nehmen wir mal zu Kireevs Gunsten an, dass, was die Fakten betrifft, alles stimmt. Die seiner Kolumne zugrundeliegende Nachricht würde dann folgendermaßen lauten: Im Herzen Russlands kletterte ein junger Mann auf ein Polizeiauto, um auf diesem den Sieg seiner Sbornaja zu bejubeln. Die Polizisten jedoch waren not so amused, zogen ihn vom Wagen herunter und prügelten auf ihn ein.

Nicht schön, keine Frage! Kommt in „Putins Russland“ vermutlich sogar mehr als einmal am Tag vor – vorausgesetzt, auch andere Fußballfans verspüren das exotische Bedürfnis ihren Siegesjubel ausgerechnet auf einem Polizeiwagen zu zelebrieren. Und setzen dies auch um.

Für den emsig suchenden, vermutlich freiberuflichen, Journalisten ein gefundenes Fressen, um endlich wieder die gesamte WM in Russland ins erwünschte schiefe Licht zu rücken.

Allerdings steht Kireev nun vor einem verständlichen Problem: Wie blase ich eine exakt 202-Zeichen-Meldung zu einem 2000-Zeichen-Beitrag für mein Qualitätsmedium auf? Mit ein bisschen Kreativität ist aber auch diese Nuss schnell geknackt. Kireev bemüht ganz einfach einen völlig anderen Fall, der mit der Eingangsnachricht nicht das Geringste zu tun hat und obendrein auch noch über ein Jahr zurückliegt. In St. Petersburg wurde nämlich gerade ein junger Mann zu zwei Jahren Bewährung verurteilt.

Bei einer Demonstration gegen Korruption am 12. Juni des vergangenen Jahres sollte der damals 17-Jährige einen Beamten angegriffen und ihm ein Stück Zahn herausgeschlagen haben. Später veröffentlichte Videos des Vorfalls zeigten jedoch, dass die Verletzung des Polizisten offenbar ein Unfall war. Bei seiner Festnahme auf der von den Behörden nicht genehmigten Demonstration fiel Mjakschin auf einen Polizisten, der mit ihm zu Boden ging.“

Kireevs Patchworkarbeit

Der einzige WM-Bezug dieser ebenfalls unschönen Episode: Das Urteil wurde am Montag, also während der Fußballweltmeisterschaft, verkündet! Jetzt muss nur noch eine einigermaßen logisch klingende Verknüpfung zwischen diesen beiden Meldungen gefunden werden, und auch diese Aufgabe meistert Kireev mit Bravour: So wie im ersten Falle schuldige russische Polizisten vermutlich nicht bestraft werden, werden im zweiten Falle harmlose russische Demonstranten drakonisch [sic!] bestraft!

Mit dieser klassischen Überkreuzargumentation – akademisch formuliert: mit diesem antithetischen Parallelismus – hat Kireev gleich drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hat die disparaten Patchworkteile zusammengehäkelt, seine Kolumne um ganze 1471 Zeichen ergänzt und somit sein Plansoll annähernd erfüllt. Chapeau!!

Über das ganze Flickwerk kommt nun noch ein Foto von russischen Polizisten im drakonischen Einsatz, wie sie, die Schlagstöcke gut sichtbar, einem auf dem Boden liegenden jungen Mann die Arme auf den Rücken verrenken. Dass dieses Foto weder mit Fall A noch mit Fall B etwas zu tun hat, stört bei Spiegel Online offenbar keinen. Hauptsache, die gewünschte Message kommt rüber: Die flüchtigen Leser werden nur die Überschrift „Der Schlagstock sitzt wieder lockerer“ zur Kenntnis nehmen, das Foto sehen und zu „Putins WM“ das assoziieren, was sich in ihren Hinterköpfen festsetzen soll. – Qualitätsjournalismus made by Spiegel Online!

Die Tücken der russischen Geographie

Dumm nur, dass Kireev in seinem Eifer ein peinlicher Fehler unterlaufen ist: Woronesch, die Millionenstadt, in der russische Siege auf Polizeiautos bejubelt werden, liegt nämlich mitnichten an der Wolga! Sie liegt am gleichnamigen Woroneschfluss, der weiter südlich in den Don fließt, der seinerseits bekanntlich bei Rostow ins Asowsche Meer mündet. Die Wolga ist von Woronesch noch 500 Kilometer Luftlinie entfernt! Aber mit der russischen Geographie scheint Kireev grundsätzlich auf Kriegsfuß zu stehen: Liegt doch der tausend Kilometer von Moskau entfernte Donbass, seinen Angaben zufolge, „nur einige Stunden Autofahrt südwestlich von Moskau.“4

Sollten Kireevs Faktenrecherchen von der selben Qualität sein wie seine Ortskenntnisse, dann: Gute Nacht, Qualitätsjournalismus! Oder aber, da es bekanntlich nichts Schlechtes gibt, das nicht auch sein Gutes hätte: Guten Morgen, Rossija!

PS:

Mittlerweile hat Kireev oder sein Arbeitgeber die originelle Verortung Woroneschs verschämt korrigiert. Ein redaktioneller Hinweis auf die ursprüngliche Fehlinformation im Hamburger Qualitätsmedium? – Fehlanzeige!

Autor: Leo Ensel

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Dr. Leo Ensel („Look at the other side!“) ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt „Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa“. Veröffentlichungen zu den Themen „Angst und atomare Aufrüstung“, zur Sozialpsychologie der Wiedervereinigung sowie Studien über die Deutschlandbilder im postsowjetischen Raum. Im Neuen West-Ost-Konflikt gilt sein Hauptanliegen der Überwindung falscher Narrative, der Deeskalation und der Rekonstruktion des Vertrauens. – Der Autor legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Er fühlt sich ausschließlich den genannten Themen und keinem nationalen Narrativ verpflichtet.